Evelyn Heinemann: Männlichkeit, Migration und Gewalt
Rezensiert von PD Dr. Ernst Wüllenweber, 04.05.2011

Evelyn Heinemann: Männlichkeit, Migration und Gewalt. Psychoanalytische Gespräche in einer Justizvollzugsanstalt. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2008. 114 Seiten. ISBN 978-3-17-020616-8. 19,00 EUR. CH: 34,50 sFr.
Thema und Untersuchungsansatz
Die Gewalt von Jugendlichen wird in den Medien teilweise dramatisierend und skandalisierend thematisiert. Hierbei spielt die Frage der Gewalt durch männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund eine große und spezielle Rolle. Die Ursachen werden zumeist im Zusammenhang mit Diskriminierung, fehlender Integration, Sprachproblemen, Armut und zerrütteten Familien diskutiert. Zahlreiche quantitative Studien geben hierauf Hinweise, als Erklärung erscheinen jedoch nicht hinreichend.
Die Autorin Evelyn Heinemann, Professorin für Sonderpädagogik an der Universität Mainz und Psychoanalytikerin, verfolgt einen anderen Forschungsansatz: in einer qualitativen Untersuchung führte sie mit 24 jungen Häftlingen in einer Justizvollzugsanstalt mehrmalig psychoanalytisch fokussierte Gespräche. Sie geht von folgender Hypothese aus: „Kriminelles Verhalten von Jugendlichen / Heranwachsenden mit Migrationshintergrund hat komplizierte soziale und psychische Ursachen. … Dabei scheinen die Konflikte um die männliche Identität in der Entwicklung … eine besondere Rolle zu spielen. … Kriminalität / Dissozialität dient der Stabilisierung männlicher Identität.“ (12) Es geht der Autorin im Kern um ein vertieftes psychoanalytisch orientiertes Verstehen von männlichen Tätern.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in vier Hauptteile gegliedert.
Im ersten Teil „Aggression und Gewalt aus psychoanalytischer Sicht“ weist die Autorin zunächst die einseitige Sicht zurück, die Psychoanalyse interpretiere Aggression im Rahmen der Triebtheorie. Die Autorin expliziert Aggression und Gewalt hingegen knapp und dennoch auf hohem theoretischen Niveau hinsichtlich der Instanzen, Selbst, Ich, Es und Über-Ich als Symptom von narzistischen -, Borderline- und antisozialen Entwicklungsstörungen sowie von Mentalisierungsstörungen. Im Weiteren skizziert sie verschiedene psychoanalytisch ausgerichtete pädagogische und therapeutische Ansätze im Umgang mit Aggression und Gewalt.
Das zweite Hauptkapitel trägt die Überschrift „Aggression und Gewalt in der männlichen Entwicklung“. Hier rückt die Autorin u.a. die Themen Umgang mit Ehre und Ehrverletzungen und mit Scham in den Mittelpunkt. Einen wesentlichen Raum nimmt der Schutz der Mutter vor den Übergriffen des gewalttätigen Vaters ein.
Das dritte und wichtigste Hauptkapitel
enthält die Beschreibung und anschließende
Interpretation von psychoanalytischen Gesprächen mit acht
männlichen Straftätern. Diese Gespräche beziehen sich
auf die Lebensgeschichte der Jugendlichen, wobei die Themen Familie,
insbesondere Beziehung zur Mutter und zum Vater, sowie Schule die
Schwerpunkte bilden. Desweiteren verweisen die Gespräche auf die
Selbstinterpretationen und das Selbstbild der Täter. Zudem
eröffnet die Autorin auch immer wieder aufschlussreiche
Einblicke in ihre eigenen Gedanken und in die (Gegen)Übertragungen
in den Gesprächen. Einen interessanten Einblick geben auch die
häufig kritischen Aussagen der Jugendlichen über Lehrer,
Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte, ihre Einstellungen zu
Geld, dem Leben in Deutschland, zur Sexualität und zur
Einstellung gegenüber Frauen. Überraschend für den
Leser ist vielleicht die Akzeptanz des Gefängnisses. Zu kurz
kommen die Reflexionen der Jugendlichen über ihre Taten, diese
werden nicht benannt, die Opfer kommen nicht vor, hier hätte man
mehr erwartet. Die Autorin beschreibt diese Gespräche
einfühlend, differenziert und mitfühlend, sie stellen den
Höhepunkt des Buches dar. Die Interpretationen schaffen die
Gradwanderung zwischen Deduktion und Induktion, die psychoanalytische
Theorie wird einbezogen, Ausgangspunkt bleibt aber stets das konkrete
Material aus den Gesprächen. Der Weg in die Kriminalität
zeigt auffallend viele parallele Muster: starke Bindung an die
Mutter, Distanz und Enttäuschung und zugleich Idealisierung des
Vaters, Hyperaktivität, Schulversagen und Schulwechsel, Drogen,
kulturelle Ambivalenzen in verschiedensten Formen, z.B. hinsichtlich
Religion, Freundinnen und Sexualität. Abschließend kommt
die Autorin zu dem Fazit: „Der Weg in die Kriminalität ist
nicht unmittelbar migrationsbedingt, er ist das Ergebnis spezifischer
individueller Erfahrungen, …“ (40).
Diese
Beschreibungen und Interpretationen sind für alle die mit
kriminellen und gewaltbereiten männlichen Jugendlichen mit
Migrationshintergrund arbeiten von großer Bedeutung. Sie geben
nicht nur einen Einblick in die Lebensgeschichte der Jugendlichen
sondern eröffnen das Feld der Selbstreflexion und
Identitätsbildung in herausragender Weise. Auch zeigen sie
wichtige Einschätzungsmuster der jugendlichen Täter über
die Hilfesysteme und die beteiligten Professionen.
Im vierten Kapitel gibt die Autorin einen Ausblick. Als Fazit empfiehlt sie, aus ihrer Profession als Sonderpädagogin und Psychoanalytikerin strukturlogisch, zunächst die psychoanalytische Qualifizierung in den verschiedenen Hilfesystemen vom Kindergarten über die Schulen bis zur JVA. Dieser Vorschlag erscheint jedoch unrealistisch, es zeigen sich keinerlei Tendenzen in diese Richtung. Anschließend fordert sie das Schulsystem neu zu denken und zu entwickeln, auch hier geben die Tendenzen nicht viel Anlass zu Optimismus. Kernthema des Buches ist die Männlichkeit und die Störung derselben vor dem Hintergrund von Migration. Müsste nicht die Konsequenz darin liegen, Jungen in Schulen stark zu machen, damit sie den Herausforderungen der Männlichkeit mehr gewachsen sind, und hierfür konkrete Vorschläge zu machen? Hierzu hätten im letzten Kapitel vertiefende Ausführungen gepasst. Das Buch zeigt hervorragende Ansätze zu einem vertieften Verstehen der Probleme von Jungen mit Migrationshintergrund, es ist daher allen beteiligten Berufsgruppen sehr zu empfehlen.
Diskussion
Kritisch kann man die unzureichenden Definitionen und geringen Differenzierungen von Delinquenz, Kriminalität, Aggression und Gewalt anführen. Ebenso die starke Vermischung von Gefühlen und Verhalten.
Hervorzuheben ist die Vermeidung von Pathologisierungen der Jugendlichen, die Autorin enthält sich der Verführung, die jugendlichen Gesprächspartner diagnostisch zu sehen und zu beschreiben. Vielmehr werden die Jugendlichen als Personen in ihrer jeweiligen Eigenart und mit ihren individuellen Stärken gesehen und vorgestellt, so z.B. hinsichtlich Humor, der Fähigkeit die Gesprächssituation einzuschätzen und einzubeziehen oder realistisch die Chancen der JVA zu nutzen.
Fazit
Das Buch ist spannend verfasst und ist v.a. im Hauptkapitel auch für Leser, die nicht mit der Psychoanalyse vertraut sind, gut lesbar.
Rezension von
PD Dr. Ernst Wüllenweber
Privatdozentur an der Martin-Luther-Universität Halle
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