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Gudrun Faller (Hrsg.): Lehrbuch Betriebliche Gesundheitsförderung

Rezensiert von Thomas Reinhardt, 23.06.2011

Cover Gudrun Faller (Hrsg.): Lehrbuch Betriebliche Gesundheitsförderung ISBN 978-3-456-84799-3

Gudrun Faller (Hrsg.): Lehrbuch Betriebliche Gesundheitsförderung. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2010. 366 Seiten. ISBN 978-3-456-84799-3. 39,90 EUR. CH: 68,00 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-456-85147-1 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Herausgeberin

Gudrun Faller ist Professorin an der Hochschule Magdeburg. Die Diplom-Sozialpädagogin hat in Public Health promoviert und arbeitet seit den späten 80er Jahren im Bereich der Gesundheitsförderung.

Entstehungshintergrund

Mit dem „Lehrbuch Betriebliche Gesundheitsförderung“ liegt das erste deutschsprachige „Lehrbuch“ zum Thema vor. Es ist in der Reihe „Prävention und Gesundheitsförderung“ erschienen, die man am blauen Buch, den gelben Hintergründen und dem rot hinterlegten Logo des Huber Verlags erkennen kann. Frau Faller erhebt im Vorwort den Anspruch, nicht nur Praxishilfe zu sein, „sondern (die Informationen, Th.Reinhardt.) in einen grösseren gesellschaftlichen, betriebsstrategischen und theoretischen Kontext zu stellen.“ Die Autorinnen und Autoren stehen für ein breites und repräsentatives Spektrum der Szene in Sachen Betriebliche Gesundheitsförderung. Das Buch spannt in sieben Teilen einen Bogen von der Entwicklung der Gesundheitsförderung über die theoretischen Hintergründe einzelner Themen, die im betrieblichen Kontext eine Rolle spielen, bis hin zu Umsetzungsfragen in verschiedenen Branchen. Den Abschluss bildet ein Beitrag zu den politischen Herausforderungen und gesellschaftlichen Perspektiven.

Aufbau undInhalt

Die 7 Teile des Buches sind in 35 Unterkapitel geordnet und von verschiedenen Autorinnen und Autoren geschrieben. Jedes Unterkapitel endet mit den „Fragen zur Selbstkontrolle“ und überschaubaren „Literaturempfehlungen“. Einem Lehrbuch entsprechend sorgfältig gestaltet ist sowohl das über 20 Seiten alphabetisch geordnete Quellenverzeichnis als auch das Abkürzungs- und Autorinnen- , Autorenverzeichnis. Das Sachregister ist mit knapp drei Seiten ausreichend. Informative „Textboxen“ und eingestreute Abbildungen helfen dem Lernenden den Überblick zu bewahren.

Im ersten Teil stellen die Autorinnen und Autoren, darunter auch die Herausgeberin, die geschichtliche Entwicklung und die aktuellen Herausforderungen der betrieblichen Gesundheitsförderung vor. Einer detaillierten Begriffsklärung folgt die Darstellung der gesetzlichen Grundlagen der Gesundheitsförderung in Deutschland. Die Tatsache, dass es eine DIN-Norm für die Humankriterien der Arbeitsgestaltung gibt, überrascht den Lesenden, der nicht in Deutschland lebt. Im geschichtlichen Überblick wird der Ursprung des deutschen Konzepts der Gesundheitszirkel bei der italienischen Arbeitermedizin der 70-er Jahre des vorigen Jahrhunderts gefunden: dort sollten „homogene Betroffenengruppen“ helfen, Krankheitsrisiken zu erkennen, damit gezielt Massnahmen entwickelt werden können. Dieser sozialgeschichtlich interessante Aspekt hilft, Entwicklungen im deutschsprachigen Raum historisch einzuordnen und zu verstehen. Die Perspektive des Überblicks bleibt allerdings auf Deutschland fokussiert, was beispielsweise in Bezug auf die dort verankerten Formen der Sozialpartnerschaft zu berücksichtigen ist.
Differenziert werden die Vor- und Nachteile von Prävention und arbeitsweltbezogener Gesundheitsförderung diskutiert. Der Umstand, dass Gesundheitsförderung immer mit Organisationsentwicklung, und wie im weiteren Verlauf des Buches deutlich wird, auch mit Politik gekoppelt ist, wird deutlich: „Dort, wo es gelingt, Betroffene in die Mitgestaltung der für sie massgeblichen Rahmenbedingungen einzubeziehen und neue Kommunikationsprozesse zu initiieren, wird Organisationsentwicklung als Strategie der Gesundheitsförderung möglich.“ Vor einer unkritischen Verwendung des Begriffs „Gesundheitsmanagement“ wird gewarnt. Gesundheitsmanagement, das für das betriebliche Handeln eine Wirkung entfalten kann, beinhalte immer eine „kommunikationsorientierte gesundheitsfördernde Organisationsentwicklung“. Dafür wird sogleich eine Abkürzung eingeführt: gfOe.
Abgeschlossen wird der erste Teil mit der Darstellung von aktuellen Studien zu Anspruch und Wirklichkeit betrieblicher Gesundheitsförderung. Die Ergebnisse werden mit Hilfe der RE-AIM-Kriterien von Glasgow et al. diskutiert, die den Public-Health-Impact beurteilen. Es handelt sich dabei um den Beitrag, den die betriebliche Gesundheitsförderung leistet, damit sich die Gesundheitschancen für die Gesamtbevölkerung entwickeln und gesundheitliche Ungleichheit vermindert wird. AIM steht für die Anzahl der Betriebe mit Massnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung, deren Umsetzung unter der Voraussetzung einer Beteiligung der Mitarbeitenden und die Sicherstellung von Nachhaltigkeit. RE untersucht die Anzahl der Mitarbeitenden und deren Profil sowie die Wirksamkeit von betrieblicher Gesundheitsförderung im Betriebsalltag.
Es werden dabei vor allem Studien aus deutschsprachigen Ländern berücksichtigt.

Die im zweiten Teil vorgestellten theoretischen Konzepte zum Zusammenhang von Arbeit und Gesundheit helfen einen Überblick über alte und neue Modelle zu gewinnen und diese einzuordnen. Dabei findet sowohl das Anforderungs-Kontrollmodell von Karasek als auch die Gratifikationskrise von Siegrist eine kritische Würdigung. Eine Tabelle liefert eine Übersicht über die Items und Dimensionierung zur Erfassung betrieblicher Gratifikationskrisen, die sowohl für den Neuling als auch für den erfahrenen Praktiker zu einer guten Strukturierung verhilft. Die Handlungsregulationstheorie, die sich in den 80 er Jahren entwickelt hat, wird vorgestellt.
Am Ende des zweiten Teils erhalten Theoretiker des „Sozialkapitals“ Raum. Ausgehend von der Empirie, dass „Menschen mit einem hohen Sozialkapital nicht nur produktiver, sondern auch glücklicher und gesünder sind und auch länger leben“ wird die Bedeutung für die Unternehmen und die Gesellschaft herausgestrichen. Bourdieu, Coleman und Putnam werden in diesem anregenden Abschnitt eingeführt, verglichen, diskutiert.

Den Strukturen und Prozessen der betrieblichen Gesundheitsförderung ist der dritte Teil gewidmet. Zentrale Fragen sind: Wie können Projekte aufgegleist, wie kann eine Projektorganisation gestaltet werden und welches sind die Akteure und deren Interessen? Welche Rolle spielen die Führungsverantwortlichen? Zentrales Moment ist dabei die Entwicklung einer Vertrauenskultur. Diese kann beispielsweise dadurch erreicht werden, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmende gemeinsam Massnahmen zur Gesundheitsförderung entwerfen. Eine sorgfältige angemessene Informations- und Kommunikationspolitik und die besondere Rolle der Führungsverantwortlichen spielt für das weitere Gelingen dieser Massnahmen eine ebenso wichtige Rolle wie die Analyse der Zielgruppe. In einer Textbox werden die heute wichtigsten Analyseinstrumente vorgestellt, wie z. B. den Work Ability Index oder den Fragebogen zu den Kontrollüberzeugungen zu Krankheit und Gesundheit. Die Rolle von Partizipation im Rahmen von Gesundheitszirkeln wird betont und darauf hingewiesen, dass betriebliches Sozialkapital alleine noch keine salutogene Organisation hervorbringt. Es bedarf dazu noch der Intelligenz und der Resilienz.
Dieser Teil wird mit Fragen zur Evaluation von Programmen, dem ökonomischen Nutzen und zur Nachhaltigkeit betrieblicher Gesundheitsförderung abgeschlossen.

Auf Seite 179 angelangt, folgt im vierten Teil die „Annäherung an die betriebliche Gesundheitsförderung: Einstiegs- und Schnittstellenthemen“. Tempel, Geissler und Ilmarinen werden dann auch ohne Umschweife konkret und fokussieren auf die älteren Arbeitnehmenden. Sie stellen ihr Konzept des „Hauses der Arbeitsfähigkeit“ und den daraus abgeleiteten „Work Ability Index“ vor. Die „dritte Säule der betrieblichen Gesundheitsförderung“ wird benannt: es ist die Führung. Mit dem „Arbeitsbewältigungscoaching“ stellen sie ein Instrument zur Verfügung, das die einzelnen Beschäftigten sensibilisieren soll.
Das Unterkapitel „Fernab von Fehlzeitengesprächen: Betriebliches Eingliederungsmanagement als Chance und Herausforderung“ liefert einen Verfahrensablauf zur betrieblichen Eingliederung. Die Autorin distanziert sich deutlich von der Ansicht derjenigen Arbeitgeber, die meinen, mit der Einführung von sogenannten „Fehlzeitengesprächen“ ihrer Pflicht Genüge getan zu haben. Sie betont, dass die Grundvoraussetzung für den Erfolg von Eingliederungsmassnahmen nach Erkrankung der Aufbau von Vertrauen und die Zustimmung des Betroffenen zum geplanten Vorgehen ist. Ein Unterkapitel ist der Frage der Integration von Qualitätsmanagement und betrieblicher Gesundheitsförderung gewidmet. Dort wird das EFQM-Modell eingeführt. Der Lesende lernt differenziert Bestandteile eines Konzepts zur betrieblichen Suchtprävention kennen und weiss um die Notwendigkeit der Qualifizierung der Personalverantwortlichen zu diesem Thema.
Ausgehend vom zunehmenden Anteil den psychische Erkrankungen an den betrieblichen Fehlzeiten ausmachen, wird im entsprechenden Kapitel 24 eine Studie im Rahmen der „Initiative Neue Qualität der Arbeit“ (INQA) zitiert. Dort wurden Kriterien guter Arbeit bestimmt und dabei festgestellt, dass nur 3% der Arbeitnehmenden einen Arbeitsplatz haben, der diesen Kriterien entspricht. Die DAK hat 2005 eine Expertenbefragung durchgeführt, um der Frage nachzugehen, ob psychische Erkrankungen tatsächlich ansteigen oder ob es sich um einen arte fakt auf Grund veränderter Diagnostik handeln könnte. Der Anstieg findet tatsächlich statt und es werden die multifaktoriellen Gründe psychischer Erkrankungen diskutiert. Auf die Bedeutung der Leitungsebene und deren Verantwortung für den Umgang mit betroffenen Mitarbeitenden wird hingewiesen. Voraussetzung für eine Verbesserung des Umgangs mit ihnen ist das Hinschauen, das Handeln und die Organisation professioneller Hilfe, ohne sich selbst dabei zu überfordern.
Kapitel 25 ist der Bedeutung der Work-life Balance für die betriebliche Gesundheitsförderung angesichts der Globalisierung und den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt gewidmet.

Teil 5 beschäftigt sich mit spezifischen Interventionsfeldern und liefert eine Übersicht von den KMU über Betriebe des Gesundheitswesens bis hin zu selbständig Erwerbenden, Arbeitslosen und prekär Beschäftigten. Die Zusammenhänge von Arbeitslosigkeit und Krankheit rufen ins Gedächtnis, dass Arbeit eine gesundheitsfördernde Wirkung entfalten kann. Wichtige Ressourcen für die einzelnen Bereiche werden dargestellt, wie beispielsweise für die KMU in der Schweiz die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz oder das WHO Netzwerk der Health Promotion Hospitals für die Krankenhäuser.

Sicherheit und Gesundheit als politische Aufgabe wird im sechsten Teil, der mit dem programmatischen Aufruf „Nur gemeinsam sind wir stark“ überschrieben ist und in dem die Rolle externer Akteure und die Bedeutung von Netzwerken für die Anliegen der betrieblichen Gesundheitsförderung dargestellt wird, postuliert. Neben einem Theorieteil zu möglichen Formen von Netzwerken wird hier noch einmal ausführlicher INQUA und das europäische Netzwerk für betriebliche Gesundheitsförderung erklärt.

Das Lehrbuch endet mit einem Ausblick zu den Perspektiven betrieblicher Gesundheitsförderung unter Krisenbedingungen. Diskutiert wird das Verhältnis von Belastungsreduktion und Ressourcenstärkung. Es werden Ansätze und Defizite aufgelistet und der gewerkschaftliche Standpunkt zur Initiative Guter Arbeit ebenso vorgestellt wie die Bedeutung von Corporate Governance für die Unternehmenspolitik angesichts einer kurzatmigen Handlungslogik im Rahmen einer Shareholder-Ökonomie.

Diskussion und Fazit

Dieses in der ersten Auflage 2010 im Huber Verlag erschienene „Lehrbuch Betriebliche Gesundheitsförderung“ liefert einen umfassenden Einstieg ins Thema. Sowohl Lernenden als auch betrieblichen Praktikern gibt dieses Kompendium einen wertvollen Überblick sowohl zu den einzelnen Themen betrieblicher Gesundheitsförderung als auch zu den theoretischen oder juristischen Grundlagen. Endlich findet der Suchende in Sachen Empirie zur Gesundheitsförderung wichtige und vor allem aktuelle Studien auf einen Blick und nah beim Thema. Die Herausgeberin und die Autorinnen und Autoren wollen sich am state of the art orientieren und dies ist ihnen auch gelungen! Das Buch ist allerdings sehr auf den deutschsprachigen Raum und dort vor allem auf Deutschland zugeschnitten. Dies wird nicht immer ausreichend klar gestellt. Eine internationalere Sichtweise wäre wünschenswert. Die Wissensfragen und das Tabellenmaterial sind hilfreich. Grafische Darstellungen werden etwas zu sparsam verwendet, vereinzelt gehen die Wissensfragen zu sehr ins Detail.

Der Anspruch der Organisationsentwicklung Betroffene zu Beteiligten zu machen, findet sich verstreut über das ganze Buch. In vielen Beiträgen wird die Partizipation der Arbeitnehmenden als conditio sine qua non erhoben, wenn die Gesundheitsförderung erfolgreich sein will. Dieser Umstand ist in den aktuellen Zeiten, in denen viel von Beteiligung gesprochen wird, sehr aktuell. Darauf aufbauend - das ist die weitere Bedingung für den Erfolg - kann eine Kultur des Vertrauens entstehen.

Der Rezensent hat bei seiner Tätigkeit als Dozent an verschiedenen Bildungseinrichtungen zur betrieblichen Gesundheitsförderung festgestellt, dass das Lehrbuch bereits zum Standard im Unterricht gehört, denn er hat es auf etlichen Tischen entdeckt. Mögen viele Neuauflagen folgen!

Rezension von
Thomas Reinhardt
Diplomierter Berater für Organisationsentwicklung. Arbeitet als interner Coach im Universitätsspital Basel und freiberuflich in den Bereichen Organisationsentwicklung, Gesundheitsmanagement, Konfliktmoderation, Coaching für Führungsverantwortliche, Teamentwicklung und Supervision. Schwerpunkte: Gesundheit und Führung, Change Management, Leadership, Kommunikation, Psychohygiene und Glück.
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Zitiervorschlag
Thomas Reinhardt. Rezension vom 23.06.2011 zu: Gudrun Faller (Hrsg.): Lehrbuch Betriebliche Gesundheitsförderung. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2010. ISBN 978-3-456-84799-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11025.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.


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