Margot Unbescheid: Alzheimer
Rezensiert von Dipl.-Soz.Arb./Soz.Päd. (FH) Oliver König, 12.09.2011

Margot Unbescheid: Alzheimer. Das Erste-Hilfe-Buch. Gütersloher Verlagshaus Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH (Gütersloh) 2009. 159 Seiten. ISBN 978-3-579-06884-8. D: 14,95 EUR, A: 15,40 EUR, CH: 27,50 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Margot Unbescheids Vater erkrankte vor Jahren an der Alzheimer Demenz. Sie unterstützt ihre Mutter bei der Betreuung und Pflege des Vaters.
Sie erlebte die eigene Hilflosigkeit, den Mangel an Informationen für den Umgang mit der neuen Situation. Unklar war auch, was im Verlauf der Krankheit auf ihren Vater und die betreuenden Angehörigen noch zukommen könnte. In der vorhandenen Literatur stieß sie überwiegend auf Erfahrungsberichte von negativen Szenen, ohne dass Lösungswege aufgezeigt wurden.
Dies war für Margot Unbescheid der Anlass, ihre Erfahrungen und die anderer Betroffener in einem alltagsnahen, niederschwelligen ‚Schmökerbuch‘ zusammenzufassen und mit zahlreichen Tipps und praktischen Beispielen zu ergänzen.
Autorin
Margot Unbescheid studierte Germanistik, Philosophie und Lateinamerikanistik in Frankfurt. Mitarbeit im Hörfunk und Fernsehen sowie im Bereich der Filmproduktion und bei Fotoprojekten.
Aufbau
Unbescheid unterteilt, neben einem Vor- und einem Nachwort, ihr Buch in acht, mehr oder weniger an prägenden Stationen des Krankheitsverlaufs orientierten Kapitel:
- Es geht los - Ankommen in der Krankheit
- Die Gefahren des Verdrängens
- Zustände des Kranken aushalten - Das neue Leben
- Die liebe Familie, die Nachbarn und Freunde
- Halluzinationen - schwierige Phasen - Hilfen
- Erfahrungen mit Heimen
- Im Fokus: die Angehörigen
- Die „Zuwendungen“
Jedes Kapitel ist mit Zwischenüberschriften unterteilt, unter denen einzelne, meist blitzlichtartige Begebenheiten geschildert und Beispiele und Informationen zum jeweiligen Grundthema des Kapitels gegeben werden und endet mit persönlichen Tipps der Autorin, in denen sie die grundlegenden Aussagen des Kapitels noch einmal zusammenfasst.
Inhalte
In Kapitel 1 beschreibt Margot Unbescheid das Auftreten erster Symptome bei ihrem Vater. Er wird zunehmend teilnahmslos, schweigsam, dann ist er wieder überdreht und laut. Die Klagen der Mutter über seine Vergesslichkeit nehmen zu. Alles in allem aber kein Grund zur Sorge - hat der Vater nicht schon immer ständig etwas gesucht? Hatte er jemals seinen Autoschlüssel parat? Schreibt sich nicht jeder für unzählige Situationen des Alltags Memo-Zettel? Und überhaupt: „Viele Männer ziehen im Alter den Stecker und klinken sich freiwillig aus dem Leben aus“ (S. 15). Warum nicht auch ihr Vater!
Erst als Margot Unbescheid während einer längeren Abwesenheit der Mutter nach ihm schaut, erlebt auch sie die Veränderungen. Er strukturiert seinen Tagesablauf minutiös mit Zetteln und zeigt gänzliches Unverständnis für die momentane Lage. Weder weiß er, dass seine Frau im Krankenhaus ist, noch ist ihm klar, dass und warum seine Tochter derzeit bei ihm wohnt. Wird es ihm erklärt, fragt er teilweise im Fünf-Minuten-Takt dasselbe wieder nach.
Margot Unbescheid beschreibt dies als das Moment, in dem Wegschauen und Beschönigen nicht mehr weiterhilft. Die diagnostische Abklärung bestätigt schließlich den Verdacht einer Alzheimer Demenz.
Das zweite Kapitel widmet sich dem Thema Verdrängung. Unbescheid schildert anhand von Beispielen vom ständigen Bemühen des Vaters, Situationen zu seinen Gunsten zu interpretieren, andererseits von ihrer eigenen Unfähigkeit, dem Vater gegenüber offen die Krankheit beim Namen zu nennen und nennt Situationen, in denen Sie die Erkrankung des Vaters in ihrer Schwere noch nicht angemessen erfasst bzw. sie verdrängt.
In Kapitel 3 beschreibt die Autorin, wie schwierig es ist, mit den Verhaltensweisen des Erkrankten umzugehen, in erster Linie mit den immer wieder kehrenden gleichen Geschichten aus der Vergangenheit, der nervlichen Belastung, die diese „Litanei und Endlosschleife“ (S. 41) für sie bedeutete.
Im zweiten Teil des Kapitels behandelt Unbescheid das Thema Einstufung in die Pflegeversicherung. Neben formellen Informationen benennt sie die Schwierigkeiten speziell bei der Einstufung eines Menschen mit Demenz, andererseits sieht die Autorin aber auch positive Aspekte des minutiösen Erfassens der einzelnen Tätigkeiten.
In Kapitel 4 beleuchtet die Autorin die Frage, wie Betreuung und Pflege in Familie und Umfeld geleistet wird, bzw. werden könnte. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass die Übernahme der Pflege in erster Linie nach wie vor von den Frauen geleistet wird. Die Beteiligung von Männern, aber auch die Bereitschaft durch Unterstützung durch andere Familienangehörige, etwa Geschwister der Erkrankten, lassen häufig zu wünschen übrig. Unbescheid gibt dazu Tipps für eine gelingende Einbeziehung von anderen Familienmitgliedern, aber auch von Freunden und Nachbarn.
In Kapitel 5 beschreibt Margot Unbescheid anschaulich eine weitere Stufe im Krankheitsverlauf: das nicht mehr wieder erkennen eigentlich vertrauter Personen und das Auftreten von Halluzinationen. Letzteres kann für den Erkrankten zu belastenden oder gar traumatischen Situationen führen. Für das betreuende Umfeld bedeutet es eine ständige psychische Belastung, vor allem in der Öffentlichkeit.
Einen weiteren Teil dieses Kapitels widmet Unbescheid den verschiedenen Entlastungsangeboten, die Angehörigen zur Verfügung stehen. Anhand von exemplarischen Beispielen aus ihrem Wohnort beschreibt sie die jeweiligen Aufgaben von Angeboten wie Beratungsstellen, Angehörigenseminaren, Selbsthilfegruppen, Hausbesuchen, Betreuungsgruppen, Urlaubsangeboten, ambulanten Pflegediensten und osteuropäischen Pflegekräften und benennt die jeweiligen Vorteile, aber auch die schlechten Erfahrungen, die sie gemacht hat.
Abschließend berichtet Unbescheid von den eher negativen Erlebnissen, die sie gemacht hat, als ihr Vater zur medikamentösen Einstellung in eine Klinik musste, bzw. in der Kurzzeitpflege untergebracht wurde.
Über die Suche nach einem geeigneten Heimplatz für diese Kurzzeitpflege erzählt Margot Unbescheid in Kapitel 6. Sie hat dabei überwiegend schlechte Eindrücke gesammelt, sei es vom unmotivierten Umgang mit ihrem Vater durch überforderte Pflegekräfte, dem unerlaubten Einsatz sedierender Medikamente oder hygienische Mängel und verweist dabei auf die teils desolate Pflegesituation in Deutschland mit unzureichend ausgebildetem Personal, die gerade einmal die „Basics“ schaffen.
Kapitel 7 nimmt die Angehörigen in den Fokus und beschreibt Alzheimer als die Krankheit der Angehörigen. Diese sind im Lauf der oft jahrelangen Betreuung und Pflege einer hohen psychischen und körperlichen Belastung ausgesetzt. Ohne Entlastungsangebote lässt sich dies, so Unbescheid, nicht durchhalten und führt über kurz oder lang auch zur Erkrankung des pflegenden Angehörigen.
Margot Unbescheid geht als eine Lösungsmöglichkeit ausführlich auf Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz ein. Sie entlasten die Angehörigen und sind gleichzeitig eine Alternative zur Heimunterbringung.
Kapitel 8 schließlich klärt über die Zuwendungen auf, die Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zustehen. Anhand von Beispielen und Beispielberechnungen veranschaulicht Margot Unbescheid die unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten bei der Nutzung von Pflegegeld und Pflegesachleistungen und informiert über weitere in Frage kommende Zuwendungen und Steuererleichterungen.
Diskussion
Für Verwirrung kann gleich zu Beginn der Titel des Buches sorgen. Der Begriff „Erste-Hilfe“ impliziert allzu leicht, dass es sich hierbei um einen Ratgeber für die medizinische Erstversorgung von Menschen mit Demenz etwa im Falle eines Unfalls handelt, ein Thema, das durchaus in der Arbeit mit diesem Personenkreis eine Rolle spielt, wie die mittlerweile angebotenen Informationsveranstaltungen und Fortbildungen dazu zeigen.
Trotzdem bietet das Buch natürlich den betroffenen Angehörigen eine erste Hilfe in Bezug auf ihre Fragen, Ängste, Überforderungen und Zweifel an. Margot Unbescheid geht an keiner Stelle auf die Frage nach Ursachen oder medizinischen Gründe der Alzheimer Demenz ein und das ist in diesem Fall auch richtig, denn nichts interessiert in dem Moment, wenn die Krankheit „wie der Hurrikan Karina in die Stadt New Orleans“ (S. 9) über den Alltag der Familie hereinbricht, weniger. Gefragt sind dann ganz alltagspraktische Tipps, was als nächstes zu tun ist und Erfahrungsberichte von Menschen, die diese Situation bereits erlebt haben und die dem Leser das Gefühl geben, mit seiner Lage nicht alleine zu sein.
Die Autorin stellt sich dabei nie als Fachfrau hin, sondern immer als Lernende in den ständig auftretenden neuen Situationen mit ihrem Vater.
Wohltuend ist ihre durchgängige Offenheit und Ehrlichkeit. Sie benennt klar ihre Wut über manche Verhaltensweisen des Vaters, ihre Überforderung und ihre Fehler im Umgang. Bei all dem wird aber immer ihre Zuneigung zum ihm erkennbar und ihr Bemühen, beim Vater die, oft kleinen und kaum bemerkbaren, positiven Anzeichen und Verhaltensweisen zu sehen - so schwer das im Alltag auch sein mag.
Auch benennt sie, vor allem im Kapitel über die Heime, dass auch sie öfter weggeschaut hat, wenn sie Pflegesituationen als klar regelwidrig, unfachlich oder schlicht unmenschlich erlebt hat - eine Situation, die vermutlich jeder schon erlebt hat.
Unbescheid lässt in einzelnen Sequenzen Fachleute die von ihr geschilderten Situationen interpretieren und erzielt so bei manchen sicher einen ‚Aha-Effekt‘, etwa wenn sich der Vater in seinen Handlungen scheinbar vollkommen absurd verhält, sein Handeln aber bei genauerem Hinsehen durchaus sinnvoll erscheinen kann und von noch vorhandenen Ressourcen zeugt.
Die praktischen Tipps, sei es bei der Auswahl des Arztes, des richtigen Entlastungsangebotes, des passenden Heimes sind basisnah und alltagstauglich, vor allem, wenn man berücksichtigt, dass die meisten pflegenden Angehörigen erstmalig in der jeweiligen Situation sind. Der eine oder die andere kann nach der Lektüre des Buches vielleicht eher erkennen, dass das unbestimmte, ‚komische‘ Gefühl beim Betreten eines Heimes am permanenten Uringeruch liegt.
Margot Unbescheids energiegeladener und persönlicher Schreibstil spricht an, macht den Zugang zu diesem Buch leicht. Andererseits sorgt er auch für eine gewisse Unruhe und Unstetigkeit, so dass man sich erst auf den ‚Rhythmus‘ des Buches einstellen muss.
Die Einteilung der Kapitel orientiert sich grob am Verlauf der Erkrankung, was sinnvoll erscheint, allerdings packt Margot Unbescheid manchmal zu viel in ein Kapitel, auch Themen, die nicht unmittelbar einen Zusammenhang haben. An manchen Stellen wirkt es, als sei ein Abschnitt am Ende eines Kapitels noch angehängt worden, damit auch er untergebracht ist. Im Verhältnis zum positiven Gesamteindruck ist dies aber absolut zweitrangig.
Noch eine ‚technische‘ Anmerkung: Margot Unbescheid macht gleich zu Beginn in ihrem Vorwort einen Vorschlag zur Benutzung des Buches. Sie empfiehlt, in ihrem Buch zu schmökern, zu blättern, es „immer wieder wegzulegen - irgendwohin auf ein Tischchen, aufgeschlagen, mit dem ‚Gesicht‘ nach unten“ (S.11/12). Eigentlich eine sympathische Idee, bei der allerdings die Klebebindung des Buches in kürzester Zeit Schaden nimmt. Hier sollte der Verlag noch etwas nacharbeiten.
Fazit
Margot Unbescheid hat ein Buch geschrieben, das nichts beschönigt. Es benennt klar, wie schlimm es für den Betroffenen ist, zu erkranken und vor allem, welche gravierenden Auswirkungen und extremen Belastungen die Begleitung und Pflege eines Menschen mit Demenz mit sich bringen. Durch ihre klare Sprache, die prägnanten Erlebnisschilderungen und die alltagspraktischen Tipps macht es Menschen aber vor allem Mut, sich der Betreuung ihres demenzkranken Angehörigen zu stellen.
Rezension von
Dipl.-Soz.Arb./Soz.Päd. (FH) Oliver König
Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg e.V.| Selbsthilfe Demenz
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