Anna Freud: Psychoanalyse für Pädagogen
Rezensiert von Claudia Dias-Branco, Prof. Dr. Hermann Staats, 28.09.2011

Anna Freud: Psychoanalyse für Pädagogen. Eine Einführung.
Verlag Hans Huber
(Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2011.
6., Auflage.
105 Seiten.
ISBN 978-3-456-84918-8.
14,95 EUR.
CH: 22,40 sFr.
Thema
Ein Klassiker der psychoanalytischen Pädagogik, das 1935 erschienene kleine Buch „Psychoanalyse für Pädagogen – eine Einführung“ ist in einer 6. Auflage neu erschienen. Anna Freud, Kinderanalytikerin und Tochter Sigmund Freuds, will mit diesem Buch Pädagogen für psychoanalytische Konzepte interessieren. Sie bietet eine eng an pädagogischen Fragen orientierte Einführung in ein psychoanalytisches Verstehen von Kindern, und – für den daran Interessierten – zugleich einen Blick auf Theorie und Praxis psychoanalytischer Pädagogik in ihrer ersten Blütezeit um etwa 1930. Ziel des Buches ist es, „die wichtigsten psychoanalytischen Grundansichten über das kindliche Seelenleben in gemeinverständlicher Form darzustellen und Lehrer und Erzieher in die Denkweise der Psychoanalyse einzuführen“ (aus dem Vorwort zur 5. Auflage 1971).
Was dieses Buch dem heutigen Leser bietet, wird in dieser Rezension gemeinsam aus studentischer Sicht (Claudia Dias Branco studiert Bildung und Erziehung in der Kindheit) und aus professoraler Sicht (Hermann Staats ist Professor für psychoanalytisch orientierte Entwicklungspsychologie) beschrieben.
Entstehungshintergrund
Das
Buch ist aus Vorträgen entstanden, die Anna
Freud
vor Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehren in Wien
gehalten hat, und um einige weitere Aufsätze und Texte ergänzt, die
den Stil eines Diskurses mit einem Publikum beibehalten.
Anna
Freud
geht es um ein umfassenderes Verstehen von Kindern. Sie hofft, durch
gezielte und „richtige“ Erziehung und durch Vermeidung von groben
Erziehungsfehlern einer späteren neurotischen Entwicklung
vorzubeugen. Diese Überzeugung beruht vor allem darauf, dass sich in
den Therapien Erwachsener immer wieder Erziehungsfehler und
unglückliche Erfahrungen in der Kindheit der Patienten finden
ließen. So erscheint es ihr nahe liegend, eine psychoanalytische
Pädagogik zur Prävention psychischer Störungen zu nutzen. Sie sah
dieses Buch als einen ersten Schritt hin zu einem „ehrgeizigen
Ziel: der Verwirklichung einer psychoanalytischen Erziehungslehre“
(S. 13). Heute, etwa 80 Jahre später, sind psychoanalytische
Konzepte in unterschiedlicher Form in die Pädagogik eingegangen,
ohne dass eine explizit psychoanalytische Erziehungslehre entstanden
ist. Die Vorstellung aber von einem kompetenten Kind mit eigenen
Bedürfnissen, inneren und äußeren Konflikten hat sich durchgesetzt
- auch wenn in der Praxis von Bildung und Erziehung hier noch viel
Arbeit zu leisten ist.
Aufbau und Inhalt
Das kleine Buch (mit einem einführenden Geleitwort von Alex Holder, Personen- und Sachregister 127 Seiten, davon gut 100 Seiten Text) enthält vier aufeinander aufbauende Vorträge Anna Freuds und drei weitere Texte von ihr aus anderen Zusammenhängen. Die Autorin geht dabei an Beispielen auf für die pädagogische Praxis wichtige psychoanalytische Grundbegriffe ein.
Aus studentischer Sicht besonders gut gelungen ist die „Führung“ Anna Freuds durch das infantile Triebleben des Kindes. Sehr anschaulich und lebendig trifft sie mögliche Gedanken der ErzieherInnen über befremdliches Verhalten von Kindern in der oralen, analen oder phallischen Phase. Es gelingt ihr, Wissen und Verständnis für die Notwendigkeit des Durchlebens dieser Phasen zu vermitteln und mit Beispielen aus der Praxis zu verdeutlichen.
Mit
ihren Zuhörern durchläuft Anna
Freud
dann die Besonderheiten der Latenzperiode, mit der sich ein ruhigeres
Verhalten von Seiten des Kleinkindes ankündigt. Den Lustgewinn zieht
das Kind nun aus der Wissbegierde und dessen Befriedigung. Immer
wieder greift das Buch die Gedanken und Vorstellungen der Eltern und
Pädagogen auf und beantwortet so Überlegungen und Einwände.
Abwehrmechanismen der Kinder wie Reaktionsbildung, Sublimierung und
Verdrängung werden sehr einfach und verständlich erläutert und in
ihren Auswirkungen auf die Eltern- Kind Beziehung und die
pädagogische Arbeit dargestellt.
Im zweiten Teil des Buches
beschäftigt sich Anna
Freud
mit durch (zum Beispiel) Krankheit oder Krankenhausaufenthalte
ausgelöste Stagnationen der Entwicklung und Abweichungen der
„gesunden“ Entwicklung des Seelenlebens eines Kindes. Anhand
mehrerer Beispiele zeigt sie Zusammenhänge zwischen Krankheiten, dem
aus der Krankheit resultierenden elterlichen Verhalten und der
Entgleisung von gesunder Entwicklung. Ein Beitrag zur Beobachtung von
Säuglingen – ursprünglich vor Medizinstudenten gehalten – wirbt
für ein (oft in Kliniken noch immer zu wenig beachtetes) Verstehen
der Wünsche und Bedürfnisse von sehr kleinen Kindern und zeigt
Auswirkungen früher Beziehungserfahrungen auf das spätere Leben.
Dies ist inzwischen vielfach auch empirisch gesichertes Wissen. Mit
einem kurzen Beitrag zur „Aggression in ihrer Beziehung zur
normalen und pathologischen Gefühlsentwicklung“ schließt das
Buch.
Durchgängig verweist Anna
Freud
darauf, dass Kinder liebevolle und aggressive Verhaltensweisen
erproben – und dass eine zu schnelle und rigide Unterbrechung
dieses Erprobens Schaden anrichtet: „Es ist offenbar nicht so
ungefährlich, Kinder zur Bravheit zu erziehen“ (S. 54). Ihre
Position – der Wunsch nach einer die Bedürfnisse des Kindes
anerkennenden freien und gesunden Persönlichkeitsentwicklung (damit
ist nicht Unterlassung oder Vernachlässigung gemeint) im Gegensatz
zu einer „Bravheit“ und frühe Verzichtsleistungen fordernden
Erziehung ist heute hochaktuell.
Auch ihre Erfahrungen und
Konzepte zu Trennungen von Mutter und Kind haben für die aktuelle
Debatte um frühkindliche Betreuung Bedeutung. Sie beschreibt, wie
Kinder die Fähigkeit entwickeln, sich bei Abwesenheit oder Verlust
der Mutter mit dieser zu identifizieren und dann eine eigene
„mütterliche“ Fürsorge für eine gewisse Zeit aufrecht erhalten
können. Natürlich fehlen hier moderne Konzepte etwa zur
Bindungstheorie; aber Anna
Freud
zeigt eindringlich Gefahren, die von einer Erziehung ausgehen können,
die Wissen über die Bedürfnisse und Wünsche von Kindern nicht
berücksichtigt.
Diskussion
Anna
Freuds
Erzählstil, ihre Gedanken und Beispiele nehmen den Leser gefangen.
An machen Stellen wirken ihre Beobachtungen gerade in der
Einfachheit, in der sich die Autorin auf ein nicht sachkundiges
Publikum bezieht, besonders klar und überzeugend. Da das Buch nah an
der Beobachtung kleiner Kinder geschrieben ist, bleiben ihre Aussagen
aktuell, auch wenn manche theoretischen Konzepte nicht auf dem
aktuellen Stand der Theorie sein können. Der Vortragsstil führt zu
gut lesbaren Wiederholungen des jeweils vorangegangenen Kapitels und
einem didaktisch hilfreichen sokratischen Dialog mit dem Leser.
So
hält das Buch den Leser neugierig, lädt zum Schmökern ein – und
bietet nebenher eine Einführung in psychoanalytisches Denken und in
die emotionale Entwicklungsgeschichte kleiner Kinder.
Fazit
ErzieherInnen
und Pädagogen, vor allem aber Studierende der Pädagogik und der
Kindheitspädagogik/Frühpädagogik finden in diesem Buch eine in
vieler Hinsicht anregende sehr gut lesbare Originalarbeit.
Das
Buch kann begeistern: Klar und verständlich wird in aufeinander
aufbauenden Kapiteln Grundwissen zur kindlichen Entwicklung
vermittelt. Die Anwendung psychoanalytischer Konzepte folgt Fragen
und Beispielen aus der pädagogischen Praxis. Anna Freud
gelingt es so, die Leser in einem Dialog zu fesseln und zu eigenem
Nachdenken anzuregen. Dabei geht es ihr nicht um bestimmte
„Arbeitsweisen“ oder Methoden sondern darum, Gedanken und
Erfahrungen aus dem Leben mit Kindern aufzugreifen und sie vor dem
Hintergrund der kindlichen Kompetenzen und Entwicklungsaufgaben zu
betrachten – das Kind in Bildung und Erziehung als handelndes Subjekt
zu verstehen.
Leserinnen und Leser sollten sich klar darüber
sein, dass das Buch den Stand der psychoanalytischen Theorie und die
gesellschaftliche Realität der Zeit um 1930 abbildet. Vor diesem
Hintergrund kann man staunen, wie aktuell die Beobachtungen und
Thesen Anna Freuds für die heutigen Diskussionen zur
Betreuung von Kindern und zu frühkindlicher Bildung sind – und
darüber vielleicht auch erschrecken.
Rezension von
Claudia Dias-Branco
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Prof. Dr. Hermann Staats
FH Potsdam, Sigmund-Freud Professur für psychoanalytisch orientierte Entwicklungspsychologie
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Zitiervorschlag
Claudia Dias-Branco, Hermann Staats. Rezension vom 28.09.2011 zu:
Anna Freud: Psychoanalyse für Pädagogen. Eine Einführung. Verlag Hans Huber
(Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2011. 6., Auflage.
ISBN 978-3-456-84918-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11099.php, Datum des Zugriffs 16.05.2022.
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