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Edith Weber-Halter: Praxishandbuch Case Management

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Klug, 02.12.2011

Cover Edith Weber-Halter: Praxishandbuch Case Management ISBN 978-3-456-84969-0

Edith Weber-Halter: Praxishandbuch Case Management. Professionelles Fallmanagement ohne Triage. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2011. 208 Seiten. ISBN 978-3-456-84969-0. 24,95 EUR. CH: 37,40 sFr.

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Thema

„Das Praxishandbuch zum Case Management zeichnet sich durch einen hohen Praxisbezug mit typischen und realen Beispielen aus dem Alltag von Case ManagerInnen aus. Es profitiert von der langjährigen Erfahrung und dem vielfältigen beruflichen Alltag der Autorin als Expertin, Dozentin und Projektleiterin für Case Management.
Alle beschriebenen Praxisbeispiele werden mit einem einheitlichen Case-Management-Modell beschrieben und analysiert. Dieses Modell ist in allen Praxisfeldern und Versorgungssituationen entlang der Lebensspanne anwendbar. Ganz gleich, ob ambulant oder stationär, akut oder chronisch, Kinder, Erwachsene oder Hochaltrige. Die Autorin setzt sich kritisch mit der gängigen Praxis auseinander, das Gros der Klienten auszutriagieren oder weiterzureichen. Sie bricht das Tabu und zeigt, wie bisher austriagierten Klienten und Klientinnen ein professionelles und finanzierbares Case Management angeboten werden kann.“ (Klappentext)

Autorin

Edith Weber-Halter ist ausgebildete Krankenschwester und Case Managerin (FH). Ab 1978 arbeitete sie in Spitälern, Heimen und in der Gemeindekrankenpflege. 1999 gründete sie die „Fachstelle Prävention und Gesundheitsberatung (heute: „Fachstelle Prävention und Chancen-Management“), eine bis heute in der Schweiz einzigartige, private und von jeglicher politischen und wirtschaftlichen Lobby unabhängigen Schaltstelle. (Klappentext)

Aufbau und Inhalt

Was ist Case Management (CM) in den Augen der Autorin? „Der Begriff ‚Case Management‘ stammt aus dem Englischen und bedeutet ‚Fallführung‘. Damit bezeichnet man ein methodisches, systematisches Vorgehen nach dem Problemlösungsverfahren zur Kostenreduzierung im Bildungs-, Sozial-, Versicherungs- und Gesundheitswesen.“ (S. 35)

Ausgangslage. Das Buch handelt von einer spezifisch schweizerischen Problematik: die „Triage“ im Case Management. Das bedeutet: Versicherungen bieten Versicherten das Case Management an, gewährt wird es aber de facto nur den Reichen. Es findet eine „ökonomische Triage“ statt: Bevor dem Klienten das CM offeriert wird, muss der Anbieter sicher sein, dass es sich für ihn rechnet. Die Entscheidung, welche Menschen in komplexen Situationen in ein CM-Verfahren aufgenommen werden, entscheidet der Kostenträger allein nach ökonomischen Gesichtspunkten.

Angepasstes Case Management. Das den ökonomischen Verhältnissen „angepasste“ CM bedeutet: „Die Klienten mit den schlechtesten Ressourcen erhalten kein CM und damit auch nicht die auf deren komplexe Situation individuell angepassten Hilfeleistungen. (…) Es wird ausschließlich bei den ökonomisch erfolgversprechenden Klienten (…) durchgeführt.“ (S. 49)

Case Management heute: die „Nach-Lehrbuch„-Praxis-Problematik. Kernpunkt der Betrachtung ist der „Seiltanz zwischen Theorie und Realität für die Case Managerinnen“ (S. 37). Die Autorin stellt konsequent CM nach dem „Lehrbuch“ dem gegenüber, was sie aus der Praxis zu entnehmen glaubt. So steht der Regelkreis des CM (Intake, Assessment …) laut Lehrbuch vis-à-vis dem „Regelkreismodell in der Praxis“. Hier wird vor dem Intake ein „vorgelegter, inoffizieller Schritt“ verzeichnet, eben die „Triage“. Auf vielen Seiten legt die Autorin die Unterschiede „CM nach dem Lehrbuch“ und „CM in der Praxis“ dar.

Warum es nicht klappt: Spannungsfelder und Tabus. Warum gibt es diese Unterschiede zwischen Theorie und Praxis? Die Autorin stellt hier „Spannungsfelder“ fest. Ein Beispiel „Die Klientenauslese nach Defizitkriterien (ökonomische Triage) ist die logische Folge, wenn es Sparvorgaben aus der Makroebene oder der Mesoebene gibt – aus welchen Gründen im Detail auch immer, denn die Finanzlage ist ja immer angespannt. Diese Vorgaben führen schlussendlich dazu, dass in Betrieben für die Reintegration ihrer Langzeitkranken, Behinderten oder fürs CM von Sterbenden ganz einfach kaum bis keine Ressourcen (Personal, Geld) mehr vorhanden sind.“ (S. 63) Der tiefere Grund für das Scheitern der bisherigen Praxis aber seien Tabus des CM. Diese sind: Geld, Macht, Betrug, Süchte, spezielle Sexualpraktiken, Sterbehilfe, Suizid, Potenzschwäche, Inkontinenz, Demenzerkrankung, Aufenthalte in einer psychiatrischen Klinik, körperliche oder seelische Gewalt, Sozialhilfe-Abhängigkeit, Inzest, Antisemitismus, Trennung, Tod. Besonders das Todestabu ist ihr wichtig. Folgerichtig die These: „Lehrbuchtheorie und alltägliche Praxis widersprechen sich. Trotz implementiertem CM führt die Praxis volkswirtschaftlich nicht zur Kostensenkung, sondern seit Jahren weiterhin zu Kostensteigerungen. Dabei wurden bis heute die Gesellschaftsprobleme, die zur Kostenausuferung führten, weiterhin tabuisiert, allem voran das Todestabu.“ (S. 73)

Case Management nach Weber-Halter. Es folgen sieben Praxisbeispiele, die alle nach dem gleichlautenden Muster aufgebaut sind:

  1. Wie es in der Praxis ist. CM-Klient (z. B. demenzerkrankt) – die Pflegedienste und sonstige Professionelle sind unkoordiniert und gefangen in Tabus, der Klient leidet an dem Gefühl der Sinnlosigkeit, er erleidet Rückfälle, kommt in die Klinik, verursacht hohe Kosten.
  2. Auswirkungen eines unabhängigen CM. Ein unabhängiger (nicht bei der Versicherung angestellter) Case Manager kommt, stellt die Sinnfrage, enttabuisiert die Tabus, begleitet mit einem ganzheitlichen Ansatz kontinuierlich, der Klient muss nicht in die Klinik, er fühlt sich gestärkt, angenommen und verstanden, das Pflegepersonal entlastet und koordiniert, der Klient muss nicht ins Krankenhaus/Pflegeheim, die Kosten sind ein Bruchteil dessen, was ohne CM zu verzeichnen wäre, das CM rechnet sich hundertfach.
  3. Die Autorin führt Beispielberechnungen durch, die diese These belegen.

Das Verfahren und Regelkreismodell nach Weber-Halter. Die Autorin erstellt nun ihrerseits einen Regelkreis, der statt der intransparenten informellen Phase „Triage“ jetzt das Intake um die Zentrumsfrage und das Ansprechen von Tabus erweitert. Die entscheidenden zu stellenden Fragen sind: Sinn, Tabus, Umgang mit der Endlichkeit (Ressourcen + Leben). Dies ist, lt. Autorin, die schwerste Frage. Der unabhängige Case Manager setzt sich mit allen Beteiligten an den Tisch (Klient, Versicherung, Angehörigen, Pflegediensten) und stellt die Frage nach der Sinnhaftigkeit, der Wirtschaftlichkeit. Er ist damit eine neutrale Stelle, die dazu führt, dass jeder Teilnehmende (z. B. der Kostenträger) Farbe bekennen muss, was seine wahren Absichten sind, was Maßnahmen kosten, und welche Maßnahmen sinnvoll sind. Der Case Manager erinnert immer wieder an die Zielvereinbarungen.

Spar- und Lernpotenziale im Case Management. Die größten Sparpotenziale sieht die Autorin im volkswirtschaftlichen Bereich: „CM senkt die Schadenskosten, aber für die Gesellschaft.“ (S. 133) Das Plädoyer der Autorin: „Unabdingbare Voraussetzung ist, dass die Case Managerin nicht mehr als Angestellte eines Leistungsträgers tätig sein darf. Andernfalls wird es immer zu Loyalitätskonflikten kommen. Case Managerin muss ein freier Beruf mit einer anerkannten Ausbildung werden.“ (S. 139) Angesichts der berechneten Kostenersparnisse sei der Einsatz eines freiberuflichen Case Managers eine äußerst kostengünstige Lösung.

Diskussion

Bei der Frage nach dem Zweck des Buches schreibt die Autorin: „Dieses Buch ist ein Praxis-Handbuch, verfasst von einer Praktikerin für Praktiker. Es schließt eine Lücke in der bestehenden Literatur, indem es den Blick in die Realität wagt, die Theorie auf den Prüfstand der Praxis stellt, die Fragen formuliert, die den Case Managerinnen vor Ort auf den Nägeln brennen, und Mängel benennt.“ (S. 26). Nun ist es sicher legitim, sich seinen Frust, seine Enttäuschung über die Politik von der Seele zu schreiben, vielleicht ist es auch (psychohygienisch) ganz heilsam, der „Theorie“ zu zeigen, wie wenig sie von „der Praxis“ versteht. Die Frage ist nur: Welchen Aussagewert hat eine solche Schrift? Wie allgemeingültig sind die aufgestellten Thesen, wie verlässlich das eigene Modell, wie glaubhaft die Behauptungen …? Kurz: Wie gewiss darf sich der Leser sein, dass er einigermaßen gesichertes Wissen erfährt und nicht doch nur das, was die Autorin dafür hält?

Womit wir eben doch wieder bei der geschmähten Wissenschaft wären – oder wenigstens bei der Empirie. Hier lässt uns die Autorin leider im Stich. Nur ein kleines Beispiel: Sie stellt die Praxis dem Lehrbuch gegenüber, ohne dass sie auch nur ein einziges Lehrbuch zitiert und uns ebenfalls nicht darüber aufklärt, was eigentlich mit „der Praxis“ gemeint ist. Die Informationen aus von ihr geführten anonymen Interviews mag man ihr gerne glauben, aber ist das „repräsentativ“? Man könnte die Anfragen fortsetzen, die Rechenexempel unter die Lupe nehmen, die zugrunde gelegten CM-Definitionen (woher stammen die eigentlich?), die allzu einfachen Praxisbeispiele, die ethische Begründung für den Änderungsbedarf („mein Case Management …“), die doch sehr individualistisch ist … Kurz und gut: Wer Kapitel 3 und 4 weglässt, verpasst nichts Wesentliches.

Ein Aspekt ist allerdings vorbehaltlos interessant und aus Sicht des Rezensenten uneingeschränkt diskussionswürdig: Die Frage nach einem unabhängigen CM zu stellen, nach einem „freien Beruf“, einer Art „Mediator“ zwischen allen Instanzen, erscheint doch sehr reizvoll. Man muss darin allerdings nicht gleich einen „Paradigmenwechsel“ sehen, und auf die ethische Überhöhung als einer „gerechten Praxis“ könnte man auch gerne verzichten. Aus Sicht eines „Kunden“ wäre es bisweilen höchst wünschenswert, einen unabhängigen Case Manager zu haben, der einfach Fragen nach den Gründen für bestimmte Entscheidungen von Kostenträgern stellt, der nicht Ruhe gibt, wenn Ablehnungsbescheide kommen, der nicht nur ökonomische, sondern auch fachliche Ziele im Auge hat – der also das tut, was Soziale Arbeit eigentlich immer für sich in Anspruch nimmt: sich anwaltschaftlich neben seinen Klienten zu stellen.

Das Beispiel, das die Autorin verwendet, macht doch nachdenklich: Ein 95-jähriger Patient ist gestürzt und hat sich das Handgelenk gebrochen. Es geht um die Verhinderung von Hospitalisierungs- und Drehtüreffekten. „CM bei diesen Praxisbeispielen wurde früher durch die Gemeindeschwester oder den Sozialdienst durchgeführt. Die Medizin und die Gesellschaft haben sich jedoch in den letzten Jahren stark gewandelt.“ (S. 134) Wo sind die Freien Träger in dieser Frage? Kann es sein, dass mit dem Wandel hin zu „ökonomischeren Lösungen“ bei der Sozialen Arbeit etwas Wesentliches (z. B. die Anwaltschaft) auf der Strecke geblieben ist, und wir heute darüber nachdenken müssen, freiberufliches CM zu etablieren, die statt der Freien Träger diese Aufgabe erfüllen?

Fazit

Die Autorin wünscht sich in ihrer Einleitung Diskussion und Widerspruch zu ihrem Buch. Man kann ihr guten Gewissens bescheinigen, dass sie beides erreicht: Widerspruch zu ihren in weiten Teilen problematischen Ausführungen zur (von ihr nirgends fundiert dargelegten) Theorie und der (behaupteten und nicht belegten) Praxis, lebhafte Diskussion ihres Modells eines freiberuflichen CM. Wenn sich die Autorin von ihrem antiwissenschaftlichen Reflex befreit, wäre eine wissenschaftliche Evaluation des freiberuflichen CM ein Gewinn für beide, für Theorie und Praxis.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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Es gibt 56 Rezensionen von Wolfgang Klug.

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ISSN 2190-9245