Ulrike Wagner: Medienhandeln, Medienkonvergenz und Sozialisation
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Beck, 04.05.2011
Ulrike Wagner: Medienhandeln, Medienkonvergenz und Sozialisation. Empirie und gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven. kopaed verlagsgmbh (München) 2011. 210 Seiten. ISBN 978-3-86736-246-7. 18,80 EUR.
Thema
In den letzten Jahren haben sich für Heranwachsende die Möglichkeiten stark erweitert, mit und über Medien zu handeln – zuletzt über die sozialen Netzwerke im Internet (wie beispielsweise SchülerVZ, MySpace oder Facebook). Es lässt sich dabei eine „konvergente“ Nutzung beobachten, vereinfacht gesagt: die Annäherung einer Vielzahl von Medien im Gebrauch. Wagner will klären, wie solches Medienhandeln Heranwachsender beschaffen ist und was es für ihre Sozialisation bedeutet. Inwiefern eröffnet sich den Heranwachsenden mit und über ihre Mediennutzung ein Weg zur Teilhabe an der sozialen Welt? Den „Kern“ des vorliegenden Buches, so die Autorin, bildeten „empirische Ergebnisse zum Medienumgang Heranwachsender ab dem beginnenden Jugendalter“ (S. 15).
Autorin
Das Buch macht keine Angaben zur Autorin; eine Web-Recherche erbringt: Wagner ist seit 2001 am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis (München) beschäftigt und ist heute eine der beiden Direktorinnen des Instituts (www.jff.de/?BEITRAG_ID=6199).
Entstehungshintergrund
Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die Dissertation der Autorin, die sie 2010 an der Universität Leipzig eingereicht hat. Für die Veröffentlichung wurde allerdings der Ergebnisteil gekürzt!
Aufbau
Nach einer achtseitigen Einleitung umfasst das Buch drei Teile, mit insgesamt acht Kapiteln. Am umfangreichsten ist der Theorieteil (Teil I) mit vier Kapiteln (82 S.), am kürzesten der Ergebnisteil (Teil II) mit zwei Kapiteln (37 S.), während Teil III: „Erweiterungen für eine Skizze zur Sozialisation mit und über Medien“ zwar ebenfalls zwei Kapitel umfasst, aber insgesamt 47 S. Da dieser Teil in erster Linie theoretisch ausgerichtet ist, überwiegt die Theorie im vorliegenden Buch: Sie macht etwa drei Viertel des Seitenumfangs (im Haupttext) aus!
Inhalt
Der erste Teil des Buches ist überschrieben mit „Theoretische Bezugspunkte“. Er mündet in „die zentrale Arbeitsthese“, die besagt: „Die erweiterten Interaktionsmöglichkeiten mit und über Medien verändern die Formen und Möglichkeiten der Partizipation an der sozialen Welt und haben damit Auswirkungen auf die Sozialisation von Heranwachsenden.“ (S. 99) Dazu „skizziert“ (S. 44) Wagner ein interaktionistisches Verständnis von Sozialisation, bei dem sie das gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt als Ziel herausstellt, wobei sie sich hauptsächlich auf die subjektorientierte Sozialisationstheorie Dieter Geulens bezieht. Wagner geht auch auf gewandelte Bedingungen des Aufwachsens ein, die heute unter dem Stichwort „Entgrenzung“ diskutiert werden.
Das, was Heranwachsende mit und durch Medien tun (Medienhandeln), wird als ein soziales Handeln aufgefasst, und Wagner beleuchtet von daher die Bedeutung der Medien für den Sozialisationsprozess. Neben der grundsätzlichen Bedeutung nimmt Wagner den Wandel der Medien in den Blick, hier vor allem Phänomene der Konvergenz. Wagner betrachtet diese vornehmlich aus der Sicht der Nutzenden: als Erscheinungen und Folgen, wenn die Grenzen zwischen ehemals getrennten Medien verschwinden (beispielsweise Fernsehen via Internet), wenn das Rundfunkrecht liberalisiert wird und damit die Verfügbarkeit von Inhalten steigt oder wenn bestimmte Inhalte über verschiedene Medien mehrfach vermarktet und zugänglich werden. Dies wird von Wagner im Zusammenhang mit der Lebenswelt der Heranwachsenden diskutiert.
Teil II behandelt auf einer empirischen Basis das „Medienhandeln von Heranwachsenden in konvergierenden Medienwelten“ – Wagner beschreibt nach eigenem Anspruch „zentrale Ergebnislinien“ (S. 103). Berücksichtigt sind in erster Linie Projekte (Auftragsforschungen für die Bayerische Landeszentrale für neue Medien), an denen sie selbst – am JFF – beteiligt war.
- Zum einen handelt es sich um qualitative Fallstudien aus dem Projekt „Neue Wege durch die konvergente Medienwelt“, eine Studie die 2006 von Wagner mit Helga Theunert herausgegeben wurde. Die Interviews mit Heranwachsenden wurden im März 2005 durchgeführt. Die im vorliegenden Buch beschriebenen Ergebnismuster wurden „in ähnlicher Form“ schon in dem genannten Sammelband publiziert (S. 113).
- Eine Prüfung „auf Erweiterungen und Aktualisierungen“ (S. 123) nimmt Wagner anhand folgenden Projekts vor: „Das Internet als Rezeptions- und Präsentationsplattform“ – hierbei „wurden jugendaffine Internetplattformen“ und dortige Selbstdarstellungen von NutzerInnen „einer detaillierten Analyse unterzogen“ (S. 125). Veröffentlicht hat Wagner diese Studie 2009, gemeinsam mit Niels Brüggen und Christa Gebel.
Teilergebnisse aus Studien anderer AutorInnen hat Wagner in den Empirieteil integriert. Sie weist darauf hin, dass sich die Medien seit der ersten oben genannten Studie weiter entwickelt haben – vor allem fehlten damals die sozialen Netzwerke, die heute boomen. Wagner spricht davon, dass damit „neue Strukturen und Räume in den Vordergrund“ treten, „die den Mediengebrauch der Heranwachsenden nachhaltig verändern“ (S. 123). Die Hauptthese lautet, dass „eine Enthierarchisierung des Zugangs“ stattfinde, indem die Mittel zur Verfügung stehen, „selbst über die Medien aktiv zu werden“ (ebd.). In diesem Punkt spricht Wagner davon, dass der Zugang „niedrigschwelliger“ erscheine „als noch vor einigen Jahren“ (S. 140).
Der dritte Teil soll „Elemente“ (S. 18) skizzieren und diskutieren, mit denen sich die anfangs vorgetragenen theoretischen Überlegungen weiter entwickeln lassen. Mit Bezug auf die Mediensozialisation werden drei Punkte angesprochen: „Bedeutung der Beschaffenheit von medialen Räumen“ aus der Aneignungsperspektive der Heranwachsenden, mediale „Kommunikationsstrukturen“ der Heranwachsenden und mediale Partizipationsformen in ihrer Beziehung zur Lebenswelt der Heranwachsenden; wobei es bei diesem letzten Punkt sowohl um Chancen als auch Grenzen geht (S. 17). Der dritte Teil endet mit einer Zusammenfassung des gesamten Buches und einem Fazit.
Diskussion
Wenn man den Anspruch des Buches zum Maßstab nimmt, „einen Beitrag zur Veranschaulichung des Zusammenhangs zwischen der gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit der Subjekte und ihren Teilhabemöglichkeiten mit und über Medien“ zu leisten (Einbandrückentext), dann ist dieser Anspruch in der allgemeinen, eher unverbindlich formulierten Form eingelöst. Hat man es jedoch als LeserIn auf spezifischere Aspekte abgesehen – beispielsweise auf die „Empirie“, von welcher der Untertitel spricht –, dann wird man von diesem Buch mehr erwarten, als es bietet. Wer mit neuen Forschungsresultaten rechnete, wird irritiert sein, dass die Dissertation für die Publikation im Empirieteil gekürzt wurde; was dann allerdings dadurch verständlich wird, dass die wichtigsten empirischen Ergebnisse bereits an anderen Stellen veröffentlicht wurden!
Die theoretische Perspektive ist breit gefasst, was jedoch auf Kosten ihrer Ausarbeitung geht. Immer wieder ist die Rede von „Skizzen“, welche die LeserInnen zu erwarten haben. Man könnte einen Wert der Arbeit andererseits darin sehen, dass sie ein breites theoretisches Terrain abschreitet – auch wenn dies nicht zu einer stringenten Theorie führt. Dieser Eindruck wird allerdings dadurch geschmälert, dass gerade beim Zitieren teilweise mehr Sorgfalt zu wünschen wäre (festgestellt an Stichproben). So enthält der Unterabschnitt „Der Begriff des Subjekts“, der etwa eineinhalb Seiten umfasst (S. 29–31), sechs Fehler in direkten Zitaten, und zwar bei einem Text Geulens, der besondere Bedeutung für das theoretische Selbstverständnis der Autorin hat.
Fazit
Es handelt sich um eine wissenschaftliche Qualifizierungsarbeit, deren umfangmäßiger Schwerpunkt bei skizzenartigen, breit ausgreifenden theoretischen Überlegungen liegt. Gegenüber der Empirie dominieren diese Überlegungen bei Weitem, und sie stellen teilweise erhöhte Anforderungen an das Leseverständnis. Insgesamt bietet das Buch LeserInnen, die mit den Aspekten seines Themas vertraut sind, aber wenig Neues.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Beck
Pädagogische Forschung und Lehre
Website
Es gibt 53 Rezensionen von Christian Beck.
Zitiervorschlag
Christian Beck. Rezension vom 04.05.2011 zu:
Ulrike Wagner: Medienhandeln, Medienkonvergenz und Sozialisation. Empirie und gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven. kopaed verlagsgmbh
(München) 2011.
ISBN 978-3-86736-246-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11133.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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