Thomas Stompe, Hans Schanda (Hrsg.): Delinquente Jugendliche und forensische Psychiatrie
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 12.01.2012
Thomas Stompe, Hans Schanda (Hrsg.): Delinquente Jugendliche und forensische Psychiatrie. Epidemiologie, Bedingungsfaktoren, Therapie.
MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
(Berlin) 2011.
240 Seiten.
ISBN 978-3-941468-46-7.
D: 44,95 EUR,
A: 46,30 EUR,
CH: 78,00 sFr.
Wiener Schriftenreihe für Forensische Psychiatrie - 2.
Thema
Kinder- und Jugendkriminalität haben in der öffentlichen Wahrnehmung, teilweise auch in ihrem Ausmaß an Bedeutung zugenommen. Die wissenschaftliche Forschung hat darauf reagiert und vor allem in den letzten zehn Jahren zahlreiche empirische Befunde zu Genese und Verlauf dieses Phänomens vorgelegt, die auf ein komplexes Geflecht kausaler Bedingungskonstellationen für z. B. die Entwicklung aggressiver Verhaltensweisen hinweisen. Neurobiologische und neue psychodynamische Modelle ermöglichen eine Neueinschätzung der Delinquenzentwicklung in der Adoleszenz, die Beiträge der Kinder- und Jugendpsychiatrie weisen auf die Bedeutung psychischer Erkrankungen für die Delinquenzgenese hin. Die Herausgeber greifen diese Fortschritte bei der Ursachenforschung in einer umfassenden interdisziplinären Darstellung auf und zielen so auf ein besseres Verständnis der Komplexität des Phänomens „Jugendkriminalität“ und auf bessere Behandlungs- und Präventionsmaßnahmen.
Herausgeber und Autoren
Die Herausgeber, Prof. Dr. Thomas Stompe und Prof. Dr. Hans Schanda arbeiten beide an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Wien und in der Justizanstalt Göllersdorf/Österreich. Für den interdisziplinär ausgelegten Sammelband wurden 15 weitere namhafte Autoren aus allen Bereichen der deutschsprachigen Praxis und Forschung einbezogen, darunter der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen/Hannover, Prof. Dr. Christian Pfeiffer, Prof. Dr. Denis Köhler (Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften an der SRH-Hochschule Heidelberg) und Dr. Cornelia Bessler von der Fachstelle für Kinder- und Jugendforensik am Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich.
Aufbau
Der in der „Wiener Schriftenreihe für Forensische Psychiatrie“ erschienene Band greift in vier Abschnitten die Aspekte
- „Epidemiologische und kriminologische Grundlagen“,
- „Ursachen gewalttätigen Verhaltens von Jugendlichen“,
- „Forensisch-psychiatrische Aspekte der Jugenddelinquenz“ und die
- „Behandlung gewalttätiger Jugendlicher“
auf.
1. Epidemiologische und kriminologische Grundlagen
Vier Einzelbeiträge befassen sich einführend mit den Ursachen und Bedingungsfaktoren der Entstehung jugendlicher Delinquenz. Arno Pilgram gibt dazu einen Überblick zur „Entwicklung der Kinder- und Jugendkriminalität in Österreich und Europa seit 1980“. Der Beitrag belegt anhand umfassenden Quellenbezugs den allgemeinen Trend, dass es bei etwa gleichbleibenden Opferzahlen im Bereich der (Jugend)- und Gewaltkriminalität zu einer erhöhten Anzeigebereitschaft gekommen ist, die aber kaum einen Niederschlag im Bereich der Verurteilung und Sanktionierung gefunden hat. Hintergrund dieser Entwicklung ist eine erhöhte Gewaltsensibilität in fast allen Bevölkerungsgruppen, wodurch auch eine „moralisierte Veränderung(en) in den Geschlechter- und Klassenbeziehungen zum Ausdruck“ (14) kommt.
Jost Reinecke und Klaus Boers fassen in einem weiteren Beitrag die Ergebnisse der Duisburger Längesschnittstudie „Kriminalität in der modernen Stadt“ zur Entwicklung der Jugendkriminalität im Längsschnitt zusammen. Die Studie erfasst seit dem Jahr 2000 das Ausmaß der Jugendkriminalität im Hell- und Dunkelfeld und erlaubt einen Einblick in den Delinquenzverlauf jugendlicher Täter. Neben Hinweisen auf psychosoziale Problemkonstellationen (Alkohol- und Drogenkonsum, Problembelastung und Gewalt, Migration und Kriminalität, Mediengewaltkonsum und Gewaltdelinquenz) gibt die Studie Hinweise auf bestimmte Delinquenzsettings (Schule, Jugendmilieus, Wohnort), welche auch in ihrer Bedeutung für Präventionsmaßnahmen erschlossen werden. Hinsichtlich des Kriminalitätsverlaufs konnten drei Verlaufstypen identifiziert werden: Jugendkriminalität kann demnach als Ubiquitätsphänomen aufgefasst werden, also als Umstand der umfassend zur „Normalität“ des Jugendalters gehört und mit Eintritt in das Erwachsenenalter endet. Die größte Gruppe jugendlicher Straftäter weist ab dem 15./16. Lebensjahr eine Spontanbewährung auf, d. h. hier ist generell ein starker Rückgang der Delinquenzbelastung zu beobachten. Als problematisch gilt indessen die Gruppe der jugendlichen Intensivtäter, welche zu einem Teil bis tief in das Erwachsenenalter hinein delinquent bleiben. Bezüglich des Beginns, der Fortführung und der Beendigung der delinquenten Phase beschreibt die Studie zudem die Verlaufsgruppen der „persistenten Intensivtäter“, der „frühen Abbrecher“ und „späten Starter“, womit gruppenbezogene Aussagen hinsichtlich der Kriminalprognose, besonders aber Hinweise für die Prävention und Behandlung jugendlicher Straftäter gewonnen werden.
Bedingungsfaktoren der Jugenddelinquenz benennt Dirk Baier im dritten Kapitel. Er fasst zunächst die bekannten Bedingungsfaktoren hinsichtlich Herkunftsfamilie und Erziehung, Persönlichkeitsstruktur, Jugendmilieus und Freizeit zusammen und gibt einen Überblick zu modernen Erklärungsmodellen jugendlicher Kriminalität, welche -auf unterschiedlichen Ebenen- das Beziehungsgefüge einzelner Variablen, z. B. „delinquente Freunde“, „Schule schwänzen“ und „Drogenkonsum“, oder „Erziehungserfahrung im Elternhaus“ und „soziale Lage“ erfassen. Aktuelle Studiendesigns konzentrieren sich daneben auf biologisch-genetische Faktoren, oder soziale Netzwerk- und Kontextfaktoren und sind als Längesschnittanalysen angelegt und bieten mehrstufige, multifaktorielle Erklärungsmodelle. Die entsprechenden Studien und Konzepte werden jeweils kurz angerissen und ihrem Erkenntnisgehalt eingeschätzt.
Der letzte Beitrag des ersten Abschnitts befasst sich mit „Medienkonsum als Ursache des schulischen Misserfolgs und der Jugendgewalt“. Dirk Baier und Christian Pfeiffer berichten hier über zwei vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen durchgeführte Längsschnittstudien, welche in Aufbau und Methodik vorgestellt werden. Die Ergebnisse belegen 1. Dass der Medienkonsum den Schulerfolg kausal beeinflusst. Kinder die jugendgefährdende Medien nutzen, erzielen demnach mit höherer Wahrscheinlichkeit schlechtere Schulnoten. 2. Dass dauerhafter unangemessener Medienkonsum mit seiner negativen Auswirkung auf die Schulleistung das Gewaltverhalten beeinflusst. Die Autoren weisen darauf hin, dass die Forschungsergebnisse derzeit noch nicht die gewünschte Erklärungsdichte aufweisen und konstatieren weiteren Forschungsbedarf. Für pädagogische und therapeutische Arbeitsfelder lassen sich aus den vorliegenden Forschungsergebnissen allerdings jetzt schon wertvolle Schlüsse hinsichtlich Bildungsarbeit, Freizeitgestaltung, Behandlung und Prävention ziehen, welche abschließend kurz angerissen werden.
2. Ursachen gewalttätigen Verhaltens von Jugendlichen
Wiebke Driemeyer und Peer Briken gehen in einem ersten Beitrag zu den Ursachen gewalttätigen Verhaltens auf das Hamburger Modellprojekt für sexuell auffällige Minderjährige ein, welches beide Autoren über mehrere Jahre wissenschaftlich begleitet haben. In diesem Modellprojekt wurden für das Stadtgebiet Hamburg alle Fälle von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, welche von Minderjährigen begangen wurden zentral erfasst, entsprechender Diagnostik und Hilfeangeboten zugeführt. Als Hintergrundvariablen dieser problematischen Tätergruppe werden vielfältige psychosoziale Einschränkungen, ein ökonomisch wenig abgesicherter Hintergrund, niedriger Ausbildungsstatus und dysfunktionale familiäre Systemstrukturen benannt. Fast die Hälfte der erfassten minderjährigen Sexualstraftäter ist bereits früher durch Gewalttaten und aggressives Verhalten auffällig geworden. Ein Drittel der erfassten Fälle verfügt über eigene Gewalterfahrung. Diese Problemlagen und Verhaltensauffälligkeiten waren jedoch bei der Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen vorab kein Anlass für therapeutische Unterstützung und Begleitung gewesen. Das Hamburger Modellprojekt ist bzgl. seiner Konstruktion ein gutes Beispiel, wie besonders schwierige Jugendliche diagnostisch erfasst und in ein Hilfeprogramm integriert werden können, aber auch dafür, dass durch frühzeitige Diagnostik auch die Jugendlichen identifiziert werden können, die eben keiner speziellen Intervention bedürfen.
Mit neurobiologischen Aspekten der Kinder- und Jugenddelinquenz beschäftigen sich in einem eigenen Beitrag Kristina Ritter und der Mitherausgeber Thomas Stompe. Die zentralen Erkenntnisse zur Gehirn- und Verhaltensentwicklung, zu genetischen Grundlagen, vor- und zwischengeburtlichen Komplikationen, neuroendokrinologische Auffälligkeiten und die Bedeutung von Neurotransmittern und der Gehirnstruktur für die Gewaltgenese werden übersichtlich referiert und so für die Behandlung und Betreuung jugendlicher Straftäter erschlossen. Das kurze Kapitel gibt im umfangreichen Literaturverzeichnis einen aktuellen Überblick neurowissenschaftlicher Forschung.
Das dritte Kapitel im Abschnitt zur Gewaltgenese bei jugendlichen Straftätern befasst sich mit der Psychodynamik der Gewalt bei jugendlichen Migranten. Grundlage des Beitrags ist ein dem psychoanalytischen Paradigma folgendes Forschungsprojekt an einer Jugendjustizvollzugsanstalt. In wöchentlichen Einzelgesprächen erfolgte die Exploration und Analyse des Delikthintergrunds. Evelyn Heinemann benennt als Ursachen der Gewalt u. a. posttraumatische Erlebnisse, welche i. S. der Traumatransmission durch eigenes Deliktverhalten „verarbeitet“ werden, Konflikte um die männliche Identität (vor allem unter dem Aspekt der ödipalen Bindung in islamisch geprägten Familien) und Phänomene der Reinszenierung und Abwehr im Gruppenkontext. Im Textbeitrag werden die knappen theoretisch gefassten Forschungsergebnisse durch umfangreiche Fallvignetten illustriert.
3. Forensisch-psychiatrische Aspekte der Jugenddelinquenz
Vier Einzelbeiträge gehen auf die Aspekte Suchtverhalten und Kriminalität (Reinhard Haller), Medienkriminalität (Adelheid Kastner), die Bedeutung psychischer Störungen und Persönlichkeitsstörungen (Claudia Uthmann und Denis Köhler), sowie die Gruppe der psychisch kranken, zurechnungsunfähigen Straftäter (Thomas Stompe, Alexander Dvorak und Hans Schanda) ein. Die Autoren beleuchten aus forensisch-psychiatrischer Sicht die jeweiligen Störungsbilder und ihre strafrechtliche Relevanz, referieren dabei den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand, bzw. fassen eigene Studienergebnisse (z. B. Stompe/Köhler) zusammen und leiten daraus (teilweise) Handlungsmaximen für die Therapie straffälliger Jugendlicher und für den Bereich der Prävention ab.
4. Behandlung gewalttätiger Jugendlicher
Der letzte Abschnitt des Bandes ist mit zwei Beiträgen den Behandlungsstrategien und -methoden gewidmet. Cornelia Bessler stellt, neben einem historischen Überblick und grundsätzlichen Überlegungen zu psychosozialen Interventionen bei jugendlichen Straftätern, Leitlinien zur Beurteilung des Rückfallrisikos und Elemente deliktorientierter Therapien vor. Sie stellt die Einzelaspekte der Deliktarbeit in den Zusammenhang anderer Behandlungsstrategien, z. B. Familienbegleitung, berufliche Integration, Freizeitgestaltung, soziales Training und plädiert für ein integratives Therapiekonzept, in dem die einzelnen Behandlungsbausteine inhaltlich aufeinander abgestimmt sind und die besonderen Bedürfnisse des geistig und körperlich reifenden Jugendlichen berücksichtigt werden. Auf unterschiedliche psychopharmakologische Behandlungsstrategien bei aggressivem und dissozialem Verhalten verweist abschließend Kristina Ritter in ihrem Beitrag. Der Text gibt einen Überblick zu verschiedenen Störungsbildern und erläutert medikamentöse Behandlungsansätze und ihre Besonderheiten in der Anwendung bei jugendlichen Patienten, etwa den Einsatz von Stimmungsstabilisatoren, die Behandlung mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern, oder Antipsychotika.
Zielgruppe
Die Herausgeber verfolgen ein interdisziplinäres Konzept, entsprechend richtet sich der Sammelband an alle Berufsgruppen, die mit dem Phänomen Kinder- und Jugendlichendelinquenz befasst sind.
Diskussion
Der klar gegliederte Band fasst den wissenschaftlichen Kenntnisstand bezüglich der Ursachen der Delinquenz bei Jugendlichen ausführlich, dabei übersichtlich und verständlich formuliert zusammen. Der Schwerpunkt der Publikation liegt auf den Erklärungsansätzen der Delinquenzgenese und des Verlaufs jugendlicher Kriminalität, wobei es durch die Bezugnahme auf psychologische, psychiatrische, soziologische und kriminologische Ansätze zu einer interdisziplinär-integrativen Auffächerung des Phänomens kommt. Die Herausgeber haben bei der Konzeption des Bandes offensichtlich großen Wert auf eine klare, gut verständliche Sprache gelegt, so dass ein wissenschaftliches Grundlagenwerk entstanden ist, das dem Anspruch, einen Dialog zwischen den beteiligten Disziplinen anzuregen und diesen für alle Praktiker im Arbeitsfeld der Jugenddelinquenz nachvollziehbar zu gestalten, voll gerecht wird. Die Herausgeber argumentieren in ihren Beiträgen ausgehend von den Verhältnissen in Österreich. Durch die Einbeziehung schweizerischer und deutscher Forschungsergebnisse gelingt ein länderübergreifender Erklärungsansatz des Phänomens Jugenddelinquenz.
Die Lektüre der 13 Einzelbeiträge ergibt einen Überblick in die aktuelle Forschungslandschaft und deren Bedeutung für Diagnostik und Behandlung straffälliger Jugendlicher. Dabei hätte ein orientierender Überblicksbeitrag, der entwicklungspsychologische Aspekte aufgreift und in den Zusammenhang zur Jugenddelinquenz stellt, den interdisziplinären Anspruch des Bandes weiter befördert. Leider fehlen in dem ansonsten fachlich breit aufgestellten Band Hinweise zu strafrechtlichen Themen und Rahmenbedingungen (z. B. Sanktionspraxis, besondere Sanktionsformen des Jugendstrafrechts und dessen Evaluation). Bei einer späteren Neuauflage des Bandes sollte der Abschnitt zu den Behandlungsstrategien ausgeweitet und z. B. um die Aspekte psycho-sozialer Behandlung, oder besondere Interventionsstrategien der Kinder- und Jugendpsychiatrie ergänzt werden.
Fazit
Ein äußerst lesenswerter Band der den aktuellen Forschungsstand zum Phänomen Jugenddelinquenz übersichtlich und gut lesbar zusammen fasst. Die Fachbeiträge unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen ergeben einen umfassenden, integrativen Erklärungsansatz jugendlicher Kriminalität, welcher den Lesern, die in den verschiedenen Arbeitsfeldern mit dieser Problematik konfrontiert sind, wertvolle Grundlagen für die eigene Praxis der Behandlung und Begleitung delinquenter Jugendlicher vermittelt.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 12.01.2012 zu:
Thomas Stompe, Hans Schanda (Hrsg.): Delinquente Jugendliche und forensische Psychiatrie. Epidemiologie, Bedingungsfaktoren, Therapie. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
(Berlin) 2011.
ISBN 978-3-941468-46-7.
Wiener Schriftenreihe für Forensische Psychiatrie - 2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11154.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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