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Stephan Günzel (Hrsg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch

Rezensiert von Prof. Dr. Gregor Husi, 20.07.2011

Cover Stephan Günzel (Hrsg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch ISBN 978-3-476-02302-5

Stephan Günzel (Hrsg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2010. 372 Seiten. ISBN 978-3-476-02302-5. D: 64,95 EUR, A: 66,80 EUR, CH: 100,00 sFr.

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Thema

Seit längerem schon nimmt in Theoriedebatten unterschiedlicher Disziplinen das Thema Raum mehr Raum ein. Textsammlungen zu Raumtheorien liegen bereits vor, ebenso Beiträge aus den Einzelwissenschaften. Der vorliegende Band nun will einen Überblick über die gegenwärtige Raumdebatte geben und dabei einen kulturwissenschaftlichen Schwerpunkt setzen. „Dem liegt die Annahme zugrunde, dass ‚Raum‘ … nicht ohne die Berücksichtigung der konstitutiven Leistung von Medien und Kulturtechniken sowie ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Prozessen beschreibbar ist“ (S. XI).

Herausgeber

Stephan Günzel ist promovierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam.

Aufbau

Das Buch ist in drei Teile aufgeteilt:

  1. Grundlagen
  2. Raumkehren
  3. Themen und Perspektiven

Darin werden zuerst in historischer Perspektive raumwissenschaftliche Wurzeln in Mathematik und Physik, Geowissenschaften sowie den Raumkünsten freigelegt. Die Kehren werden mit sozialgeographischer Skepsis kommentiert: auf die Kopernikanische Wende folgte der spatial turn und in den Kulturwissenschaften der topographical turn.

Der letzte Teil handelt 14 Themenbereiche ab, die immer die drei Unterkapitel „Entstehung des Themenfeldes“, „Spektrum der Diskussion“ und „Offene Fragen und Kontroversen“ enthalten. Hier werden in der nachfolgenden Reihenfolge der historische, politische, ökonomische, körperliche, postkoloniale, soziale, technische, mediale, kognitive, landschaftliche, urbane, touristische, poetische und epistemische Raum besprochen. Diese Auswahl und Reihenfolge erschliesst sich nicht von allein, ein rahmender Beitrag des Herausgebers fehlt.

Ein ganz knappes Vorwort leitet ein, ein Anhang umfasst Auswahlbiographie, Autor(inn)enverzeichnis, Personen- sowie Sachregister.

Im Inhaltsverzeichnis finden sich Stichworte wie Katastrophismus und Klimazonenlehre, Kulturrelativismus und Kolonialismus, Kisten und kreative Stadt. Das Sachregister reicht von Abstraktion bis Zwischenraum, ohne dazwischen Axiom, Chora, Dasein, Figur, Haptik, Labor, Schwelle und vieles andere zu vergessen. Der Raum, ein weites Feld fürwahr. Im Personenregister erhalten die meisten Verweise Gaston Bachelard, Walter Benjamin, Michel de Certeau, Gilles Deleuze, Michel Foucault, Immanuel Kant, Henri Lefebvre, Isaac Newton, Georg Simmel, darunter am meisten, man staune, Foucault.

Ausgewählte Inhalte

Inhalte, die von der Geodäsie bis zur Datenverwaltung, von der Psychoanalyse der Geschlechterdifferenz bis zum Cyberspace reichen, können hier natürlich nicht referiert werden.

Stellvertretend sei das Kapitel über sozialen Raum näher betrachtet, dem das Substantiv Verräumlichung beigestellt ist. Es geht vornehmlich um die Verräumlichung nicht etwa menschlichen Zusammenlebens, sondern der Soziologie. Diese Verräumlichung, die schon mit den Klassikern einsetzte, hat geholfen, die soziologische „Raumblindheit“ zu überwinden. Drei Entwicklungen sind dafür entscheidend gewesen, nämlich vom Blick auf den physischen zu jenem auf den sozialen Raum, vom Container-Modell zur relationalen Raumauffassung sowie von der Aufmerksamkeit für Zeit zu jener für Raum. Raum ist demnach nicht einfach natürlich, physisch-materiell gegeben, sondern wird durch Akteure und Akteurinnen hergestellt. Die Vorstellung eines absoluten Raums, in den Dinge und Menschen aufgenommen werden und in dem sie einen festen Platz erhalten, diese Vorstellung, mit der die sozialwissenschaftliche Orientierung an territorialen, staatlichen Grenzen einher geht, weicht einer relationalen Auffassung. Besonders Newton, Leibniz, Kant und Einstein stehen für die Ansicht ein, dass Raum und Rauminhalte welcher Art auch immer nicht voneinander zu trennen sind. Das bedeutet: Menschliche Körper konstituieren Raum mit. In der Folge steht nicht mehr nur Zeit für das Flüchtige und Bewegliche, sondern auch der Raum gerät in Bewegung.

Bereits Durkheim und Simmel sind der Meinung, nicht der Raum selber, sondern die ihm zugeschriebenen Eigenschaften wirkten auf Menschen, und diese Eigenschaften entständen kollektiv. Bei beiden Autoren zeichnet sich jedoch ab, der Betrachtung von Zeit den Vorrang gegenüber jener des Raums zu geben. Am radikalsten vollzieht diese Abwendung zweifellos Niklas Luhmann. Seine Systemtheorie gibt neben der Sach-, Sozial- und Zeitdimension, in denen er menschliches Zusammenleben beobachtet, der Raumdimension keinen expliziten theoretischen Raum - Raumerscheinungen behandelt er zuweilen gleichwohl. Ganz anders die marxistische Tradition, die in Bezug auf Raum am massgeblichsten von Henri Lefebvre geprägt wird. Er unterscheidet grundlegend räumliche Praxis, Repräsentationen von Raum und den Raum der Repräsentation. Bezugspunkte dieser Unterscheidung sind Alltagsleben, Wissen und Imagination. Neben dem Marxismus wendet sich insbesondere der Poststrukturalismus wieder entschieden dem Raum zu. Foucault interessiert sich für unübliche Orte, für Krisen- und Abweichungsheterotopien. Erstere sind für vorübergehende Krisen vorgesehen, etwa für Heranwachsende, Frauen im Kindbett oder alte Menschen, letztere für dauerhafte Abweichungen, für die zum Beispiel Sanatorien, psychiatrische Anstalten oder Gefängnisse gebaut werden. Schwebt Foucault als Wissenschaft eine „Heterotopologie“ vor, so Gilles Deleuze und Félix Guattari eine „Nomadologie“. In deren Verständnis stehen sich der „glatte Raum“ als der deterritorialisierte der Nomaden und der „gekerbte Raum“ als der reterritorialisierte der Sesshaften unversöhnlich gegenüber. Staatliche Grenzziehung mit einem klaren Innen und Aussen kontrastiert so beispielsweise mit der Verflüssigung, auf die Kunst abzielt. Die beiden Autoren wollen angesichts der Vorherrschaft des Sesshaften dem nomadischen Denken wieder zu seinem Recht verhelfen und damit der Heterogenität und dem Nebeneinander. Als Vorläufer von Pierre Bourdieus Soziologie des sozialen Raums kommen die Arbeiten des russisch-amerikanischen Soziologen Pitirim A. Sorokin in Betracht. Bei diesem ist der horizontal und vertikal differenzierte soziale Raum auch ohne geographische Nähe wirkmächtig. Bourdieu nun hält nicht nur den sozialen Raum für menschengemacht, sondern auch der physische Raum sei sozial angeeignet. Das heisst, soziale können sich in physischen Distanzen niederschlagen. Der soziale Raum ist gegliedert in viele „Felder“ mit eigenen Regeln. Es winken unterschiedliche Gewinne, entsprechend sind unterschiedliche Einsätze und Strategien verlangt. Die relative Position der Individuen in den Feldern bemisst sich nach ihrem Besitz an relevanten Kapitalien. Der im physischen Raum eingenommene Platz stellt für Bourdieu einen guten Indikator für die Stellung des betreffenden Menschen im sozialen Raum dar. Diese räumliche Manifestation behindert gesellschaftlichen Wandel. Anthony Giddens, den man oftmals mit Bourdieu zusammen als Strukturierungstheoretiker behandelt, lässt mit seiner Vorstellung von agency vergleichsweise mehr Raum für produktive, ungeregelte Raumaneignungen. „Spacing“ vollzieht sich durch individuelles reflexives Monitoring und Systembildung unter An- und Abwesenden. Orte werden durch unterschiedliche Zonen regionalisiert. Routinen vollziehen sich in vorder- und rückseitigen Regionen eines Ortes. In der Anwesenheitsverfügbarkeit scheinen Machtphänomene auf. Allerdings relativiert sich die Bedeutung des Orts durch das, was Giddens im Zuge von Globalisierung „raumzeitliche Abstandsvergrösserung“ nennt. Es entfaltet sich infolgedessen eine Dialektik von Entbettung und Rückbettung, von System- und Sozialintegration. Das Werk von Norbert Elias ist nicht nur für Giddens von Bedeutung, sondern auch für Martina Löw, die bei Giddens wie Elias anknüpft. Sie verbindet Giddens' Auffassung von spacing mit Elias' Vorstellung von Synthese. Menschen synthetisieren mit ihren kognitiven, auch erinnernden Fähigkeiten vorhandene Dinge und Körper zu einer kohärenten Raumwahrnehmung. Raum kann somit als (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten definiert werden, der von der kognitiven Konstruktion ebenso abhängt wie von den vorläufig gegebenen Folgen der gleichsam sozialen Konstruktion durch menschliches Wirken. Als Fazit aus all diesen raumtheoretischen Fragmenten lässt sich kritisch auf zwei drohende Gefahren hinweisen: „Fraglos vom absolutistischen Raummodell auszugehen, birgt die Gefahr eines Raumdeterminismus, der die strukturierenden Kräfte des Raums überschätzt. Umgekehrt kann aus einem relationalen Raumverständnis eine Überbetonung der kreativen Möglichkeiten und Chancen der Akteure bei der Konstituierung von Raum resultieren. Die soziologische Untersuchung hat sich folglich auch der Funktion verschiedener Raumvorstellungen zu widmen“ (S. 201f.). Ein relationales Raumverständnis billigt den Individuen mehr „Raumkonstituierungskompetenz“ zu und könnte sich auf deren Selbstwahrnehmung und räumliche, Raum erzeugende Praxis auswirken. Autor und Autorin des Kapitels über sozialen Raum, Laura Kajetzke und Markus Schroer, schliessen ihre Ausführungen mit einem Bekenntnis zur Vielfalt: „Es gilt, ein differenziertes Verständnis der Möglichkeiten der Konstitution von Räumen zu erlangen: Diese können sowohl offen als auch geschlossen, sowohl statisch als auch dynamisch sein. Keine dieser Qualitäten haftet dem Raum zwingend an. Empirische Untersuchungen müssen aus diesem Grund den Einzelfall berücksichtigen und sich dabei der theoretischen Vielfalt, Raum zu denken, bedienen. Verräumlichung ist ein sozialer Prozess, in dem gleichermassen die Wirkmacht räumlicher Strukturen, kollektive Vorstellungen über Räume, aber eben auch die schöpferische Kraft der Individuen berücksichtigt werden muss“ (S. 203).

Das Kapitel über sozialen Raum greift lediglich auf philosophisch-soziologische Literatur zurück. Mit keinem Wort erwähnt wird die Sozialraumorientierung Sozialer Arbeit und die entsprechende sozialarbeitswissenschaftliche bzw. sozialpädagogische Debatte über den Sozialraum, die nun schon seit Jahren läuft und zu vielen Veröffentlichungen geführt hat. Desgleichen fehlt eine Sozialpsychologie der Nähe und Distanz.

Diskussion

Das Handbuch bietet alles in allem einen gut fundierten Überblick über die aktuellen Raumdiskussionen und besticht durch den aspektreichen Zugang. Es lädt zu einer multiperspektivischen Sichtweise des Raums ein und weckt das Interesse für disziplinäre Zugänge, die einem bislang vielleicht noch recht verschlossen waren. Auf einige Lücken sei dennoch hingewiesen:

Nicht gut verstehen kann man den Verzicht auf einen rahmenden Beitrag des Herausgebers. Darzustellen wären die Kriterien, die der Auswahl und Gliederung der Kapitel zugrunde gelegt wurden. Warum folgt auf ökonomischen Raum körperlicher Raum? Warum ist kognitiver Raum so weit entfernt von körperlichem wie von epistemischem Raum? Warum wird kognitiver Raum mit landschaftlichem Raum fortgesetzt?

Wenig erfährt man über das Raumverhältnis einzelner Bevölkerungsgruppen, man denke zum Beispiel an Kinder und Jugendliche oder alte Menschen. Man hätte sich denn gut auch ein Kapitel über sozialisatorische Räume vorstellen können. Die Körperdimension auf Geschlecht zu reduzieren, überzeugt keineswegs. Zudem interessierte der Zusammenhang von Raum und Gesundheit.

Im Sachregister stehen Wörter wie Raumaneignung, (räumliche) Praxis, Nähe, Ort, Glokalisierung oder Verinselung, um nur einige recht beliebig ausgewählte zu nennen, im Abseits - das gilt auch für das Abseits selber.

Das Handbuch glaubt, abgesehen von den kurzen Unterkapiteln zu Mathematik und Physik, ohne Visualisierungen auskommen zu können, was gerade beim Thema Raum doch recht erstaunt.

Fazit

Bei aller Kritik kann das Handbuch zur Lektüre sehr empfohlen werden. Es bedient kompetent vielseitige Interessen und weckt durch den unterschiedlichste Disziplinen übergreifenden Zugang die Neugier. Lesende können überall mit einer sachlich fundierten Aufarbeitung rechnen, die Spuren sichtbar macht, auf denen man durch eigenes weitergehendes Erschliessen der Quellen gut weiter wandeln kann.

Rezension von
Prof. Dr. Gregor Husi
Professor an der Hochschule Luzern (Schweiz). Ko-Autor von „Der Geist des Demokratismus – Modernisierung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit“. Aktuelle Publikation (zusammen mit Simone Villiger): „Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziokulturelle Animation“ (http://interact.hslu.ch)
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Es gibt 41 Rezensionen von Gregor Husi.

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ISSN 2190-9245