Johannes Liess: Artgerecht leben
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 21.04.2011
Johannes Liess: Artgerecht leben. Von einem, der auszog, ein Dorf zu retten. Irisiana (München) 2011. 272 Seiten. ISBN 978-3-424-15082-7. D: 17,99 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 30,90 sFr.
Mauern einreißen und gemeinsam etwas Neues bauen
Die Warnungen vor der Urbanisierung der Welt, von Landflucht und Anonymisierung der Menschen in der Verstädterung füllen mittlerweile Bibliotheken. Die Frage nach einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung, wie sie in der Agenda 21 deutlich gestellt wird, die „Macht der Städte“ (vgl. dazu: Michael Gehler, Hrsg., Die Macht der Städte. Von der Antike bis zur Gegenwart, Olms Verlag, Hildesheim 2011, 780 Seiten, in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/10743.php) und die Ohnmacht der ländlichen Regionen haben lokal, regional und global eine neue Aufmerksamkeit gebracht. Zwar scheint das Bedürfnis der Menschen zu wachsen, Ausschau nach dem „guten Leben“ zu halten; doch die scheinbaren und tatsächlichen Zwänge führen im allgemeinen dann doch dazu, mit dem kapitalistisch und ökonomisch fließenden Strom zu schwimmen und selten eine Gegenbewegung einzuschlagen. In der Wochenzeitung DIE ZEIT wird jeweils in jeder Nummer auch ein Beitrag gebracht, in dem individuelle und gemeinschaftliche Initiativen mit der Überschrift „Was bewegt …“ vorgestellt werden. Darin wird gelegentlich deutlich, dass es Menschen gibt, die dem „Immer-mehr-immer-schneller-immer-höher“ – Denken ein Kontra entgegensetzen. Einer der überzeugenden Perspektivenwechsler war der ehemalige Schweizer Manager Hans A. Pestalozzi (1929 – 2004), der sich Ende der 1970er Jahre auf „seinen“ Weg machte, seinen hochdotierten Job aufgab, sich auf eine Alm in den Bergen zurück zog und für sich die „positive Subversion“ entdeckte (Hans A. Pestalozzi, Nach uns die Zukunft. Von der positiven Subversion, Bern 1979). Bei dieser Form von „Aussteiger“ handelt es sich allerdings nicht um Menschen, die alleine in Höhlen leben und von der Welt nichts mehr wissen wollen, sondern um wirkliche „Perspektivenwechsler“, die durchaus den Appell der Weltkommission für Kultur und Entwicklung ernst nehmen: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt. Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (Kurzfassung), Bonn, zweite, erweit. Ausgabe 1997, S. 18).
Entstehungshintergrund und Autor
„Von einem der auszog…“, das klingt wie der Anfang vom Grimmschen Märchen „Hans im Glück“; doch es ist die reale Geschichte eines Intellektuellen und Architekten, Johannes Liess, der 2003 mit seiner Familie in das durch die Abwanderung der Menschen vom Dorf in die Städte und industriellen Zentren fast ausgestorbene Dorf Lüchow in Mecklenburg-Vorpommern zog, dort ein leer stehendes Bauernhaus erwarb und sein Planungsbüro eröffnete. Es zogen weitere Familien und Freunde nach, so dass die neu entstandene Dorfgemeinschaft 2006 eine Landschule eröffnete und dadurch neues, jungen Leben ins Dorf kam; freilich nicht ohne Konflikte, die durch Verwaltungs-Obrigkeitsmacht, durch Unverständnis und fehlender Empathie bei den kritisch Zuschauenden und das ungewöhnliche Projekt Musternden entstanden sind und weiterhin entstehen.
Aufbau und Inhalt
Wenn Träume Wirklichkeit werden, diese Wunschvorstellung schlummert in vielen Menschen. Und wenn die ländliche, in der Phantasie idyllisch sich darstellende Herkunft lebendig bleibt und nicht von der Gier und dem Haben-Streben ausgelöscht ist, dann ist schon ein Grundstein für die eigene Lebensgestaltung gelegt. So jedenfalls lässt sich lesen, was der Autor im ersten Kapitel „Traum trifft Wirklichkeit“ schildert. Er ist ja nicht einer, der nicht aus seiner angestammten Umgebung heraus kam; er arbeitete als Architekt in vielen Ländern der Welt, in Mexiko, den USA, Frankreich, Österreich. Vielleicht war es die Abhängigkeit, die ihn antrieb, sich mit seiner Familie in einem verlassenen Dorf niederzulassen und dort zu arbeiten? Ohne Zweifel ist diese Entscheidung nicht das Ergebnis einer einsamen Hocke auf einer Bergspitze oder am Meer, sondern muss mitgetragen und gewollt werden von denen, die das Vorhaben gemeinsam gestalten wollen. Die Vision „artgerecht leben“ ist ja mit vielfältigen Verlockungen, aber auch Fallstricken verbunden; denn „auf die Bäume wollen wir nicht mehr zurück“, wie der flapsige Gegenspruch derjenigen lautet, die von der „ganzen Umweltromantik“ nichts halten.
Natürlich hat ein Architekt, ein Fachmann für Bauen und Wohnen, erst einmal gewisse Vorteile gegenüber anderen mit „zwei linken Händent“; aber „Träumen und Bauen“, das sind doch Eigenschaften, mit denen jedes Kind spielt. Denn der Ausbau des baufälligen, teilweise ruinenhaften Bauernhauses, gelingt mit Familienangehörigen und Freunden erstaunlich gut, wenn auch nicht immer handwerklich exakt. Aus dem Bauernhaus ist ein „Sommerhaus“ geworden, als Gründungsstation für die Interessierten, die erstaunlicherweise ebenfalls mit ihren Familien in das Dorf ziehen wollen. Zwangsläufig stellte sich damit die Frage danach, wo die Kinder in die Schule gehen sollten. Etwas unbedarft und naiv, aber mit mächtigem Willen gründete die kleine, aber wachsende (neue) Dorfgemeinschaft einen Schulverein, und gemeinsam entstand ein Gelände mit Schulgebäude, Gemeinschafts- und Gästehaus und Werkstatt; die Montessori-Schule konnte beginnen, mit Hort und Ganztagsschulbetrieb. Und als ob ein Magnet wirksam wäre, aus den erst einmal vier Kindern wurden mehr, aus einer vom Schulverein finanzierten Lehrerin bald zwei…
Wir haben oben schon mal die Frage gestellt, wie jemand darauf kommen kann, in ein verlassenes Dorf zu ziehen, dort nicht nur einfach die Sonne auf- und untergehen lassen will, sondern für sich, seine Familie und die Zugezogenen und ihre Familien Lebens- und Arbeitsexistenzen zu schaffen. Im Rahmen der Diskussion um Lebens- und Bildungschancen wird immer wieder das biographische Element ins Spiel gebracht, gewissermaßen als Auslöser wie Anreger für die Entwicklung der eigenen Identität und einer „guten“ Lebensgestaltung. Im Kapitel „Menschen, die noch Träume haben“, stellt Johannes Liess seine eigene Biographie und die der anderen Mitbewohner vor. Diese, im Telegrammstil und in ausführlichen Darstellungen formulierten Lebensläufe können eine Fundgrube für „biographisches Lernen“ sein.
Freilich, die „Idylle“ wird bald gestört. Auch wenn es weiter geht im Dorf, sogar mit einem Dorfladen, und die Kinder, die die eigene Dorfschule in Lüchow besuchen, von Jahr zu Jahr mehr werden, die Zufriedenheit der Eltern und Kinder mit ihrer Schule vorhanden ist; denn die Gründung einer „freien Schule“ bedarf vieler Genehmigungsverfahren, durch die Gemeinde, zu der das Dorf gehört, durch den Landkreis und nicht zuletzt durch die Schulverwaltung und –aufsicht des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Da gibt es Hürden und Mauern, die von den – zugegebenermaßen, sympathisch aber irgendwie auch etwas naiv - agierenden Initiatoren nicht vorbedacht wurden, aus der demokratischen Auffassung heraus, dass Bürgeraktivitäten und Bürgerwille anerkannte Werte in unserer Gesellschaft sein sollten. Insbesondere die Schulgründung ist es, die von den jeweiligen Entscheidern mit Wenn und Aber bedacht und immer wieder mit der Androhung der Schulschließung durch das zuständige Bildungsministerium beschieden werden. So entstehen die FLEX, die Frustrierten Lüchow Exmitbewohner und Exmitarbeiter, die aufgeben, weil sie gegen die bürokratischen und hoheitlichen Windmühlenflügel nicht mehr angehen können oder wollen, die sich zurückziehen, weil die Enttäuschungen zu groß geworden sind. Aber es bleiben die TROTZ, die trotzdem weiter machen und gegen Willkür und Bürokratismus ankämpfen; aber wie lange noch?
Fazit
Der Erfahrungsbericht „artgerecht leben“ von einem, der auszog, ein Dorf zu retten und sich, seine Familie und die Mitstreiter auch, die nicht aussteigen im üblichen Sinne, sondern ein anderes Dasein gestalten und nicht mehr mitstrampeln wollen im kapitalistischen (scheinbar goldenen) Hamsterrad, ist ein Mutmacher; sicherlich nicht für jeden geeignet, um die Initiative nachzumachen; aber im Tenor ein Vorzeiger dafür, dass eine andere, eigene und gesellschaftliche Welt möglich ist! Die Schlussaussage des Autors klingt resignativ, aber trotzig, und irgendwie doch hoffnungsvoll, wenn auch die vorhandenen und scheinbar unverrückbaren Strukturen nicht gerade eine positive Entwicklung versprechen: „Wir sind uns einig, dass wir weiter kämpfen werden… Aber wenn es hier nicht weitergeht, dann suchen wir uns ein anderes Plätzchen, wo wir den Traum vom artgerechten Leben weiterträumen können“.
Eigentlich müsste ein Aufschrei der Empörung durch das Land gehen, ob der Stolpersteine und Barrieren, die den „Artis“ in den Weg gelegt werden; denn wir brauchen positive und gelingende Beispiele, wie ein Perspektivenwechsel möglich wird ( vgl. dazu auch: J. A. Goedhart, Über-Leben. Wissenschaftliches Sachbuch, Halle / Saale, 2006, in: www.socialnet.de/rezensionen/10087.php).
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 21.04.2011 zu:
Johannes Liess: Artgerecht leben. Von einem, der auszog, ein Dorf zu retten. Irisiana
(München) 2011.
ISBN 978-3-424-15082-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11201.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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