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Hans-Ernst Schiller: Ethik in der Welt des Kapitals

Rezensiert von Tobias Fischer, 25.06.2012

Cover Hans-Ernst Schiller: Ethik in der Welt des Kapitals ISBN 978-3-86674-148-5

Hans-Ernst Schiller: Ethik in der Welt des Kapitals. Zu den Grundbegriffen der Moral. zu KLAMPEN! Verlag (Springe) 2011. 239 Seiten. ISBN 978-3-86674-148-5. 28,00 EUR.

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Thema

Bei dem vorzustellenden Werk handelt es sich um die Stellungnahme des Sozialphilosophen Hans-Ernst Schiller zu den großen Begriffen der Moral in der gegenwärtigen kapitalistischen Welt. Diese gibt gemäß des Autors nicht nur eine wirtschaftliche Grundordnung vor, sondern sorgt durch die „hochgetriebene Schätzung des privaten Eigentums und des Egoismus, der für alle das Beste und sowieso natürlich sei“ (S. 9) auch dafür, dass auch unsere Attitüden zu den Grundbegriffen der Moral überformt werden. Welche inhaltliche Deutung bekommen dadurch Begriffe wie Freiheit, Würde, Gerechtigkeit oder Verantwortung – und wie unterscheiden sie sich vom klassischen Gebrauch der Philosophen und Vordenker, die sie einst definierten? Oder einfach ausgedrückt: Was hat der Gerechtigkeitsbegriff eines Aristoteles oder die Menschenwürde nach Kant, auf die wir uns so gern berufen, noch mit der Nutzung derselben Begriffe durch gegenwärtige Politik und Wirtschaftsunternehmen gemein? So widmet sich das vorliegende Werk der Rückbesinnung auf die ursprünglich innewohnenden Ideen dieser Grundbegriffe und möchte im Abgleich mit der Gegenwart einen Beitrag dazu leisten, die moralische Unabhängigkeit gegenüber den normierten Bedeutungen zu bewahren.

Autor

Hans-Ernst Schiller, Jahrgang 1952, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie in Erlangen und Frankfurt am Main. Er promovierte über Bloch und habilitierte sich in Kassel mit einer Arbeit über Wilhelm von Humboldt. Seit 1996 ist er Professor für Sozialphilosophie und Sozialethik an der FH Düsseldorf (Verlagsinformation).

Aufbau und Inhalt

Der Band enthält neben einer kurzen Vorbemerkung sieben Aufsätze von Hans-Ernst Schiller, von denen drei auf Vorträgen basieren, während die übrigen thematisch ergänzend beigefügt wurden.

  1. Was ist Moral?
  2. Glück und Solidarität
  3. Kritik der Mitleidskritik
  4. Gerechtigkeit und Gleichheit
  5. Menschenwürde: Universalität und Rechtsprinzip
  6. Die Modernität der Verantwortung
  7. Freiheit

So entsteht eine Gesamtkomposition von in sich abgeschlossenen, nur vage aufeinander aufbauenden Kapiteln, die sich jeweils einem (erweiterten) Kernbegriff der Moral widmen. Dabei gelingt es dem Autor geschickt trotz manch begrifflicher Nähe Wiederholungen zu vermeiden. Ein zusammenfassendes Fazit fehlt ebenso wie eine zusammenhängende Darstellung der im Titel genannten „Welt des Kapitals“. Im grundsätzlichen Aufbau der Kapitel versteht es Schiller unter fundierter Berufung auf Platon, Aristoteles und Kant, aber auch Marx, Bloch, Adorno, Freud, Max Weber oder auch aktueller psychologischer Untersuchungen die moralischen Kategorien sauber strukturiert abzuhandeln und dabei stets die ursprüngliche Fragestellung im Blick zu haben, so dass er sich nie in Philosophie- oder reiner Begriffsgeschichte verfängt.

„Was ist Moral?“ fragt das erste Kapitel und weist bei der Erklärung dafür, warum in der Welt des Kapitals Dinge und Menschen oft allein nach ihrem Nutzen oder Brauchbarkeit bewertet werden auf die beherrschende Stellung des individuellen Eigeninteresses hin (S. 18). Doch was sind eigentlich die Werte, die über die bloßen Behauptungen hinweggehen, die wir bei der Hand haben, wenn es um unsere eigenen Interessen geht? (S. 29). So muss erst die Reflexion über Werte in der „Welt brutaler Ungleichheit“ (S. 38), in der wir ohnehin eine privilegierte Position einnehmen, zeigen, was über den reinen Wert als Rechtfertigung des individuellen Nutzens als moralischer Wert hinaus geht. Eine auf wirtschaftlicher Konkurrenz beruhenden, den Egoismus prämierenden Gesellschaft (S. 70) droht – so Schiller im Kapitel über die Mitleidskritik – das Mitleid als vernunftgeleitete Tugend zu verdrängen und es zur respektlosen „Anerkennung“ der Leidensfähigkeit anderer zu verkürzen. An anderer Stelle nimmt sich der Autor den Gerechtigkeitsbegriff vor und subsumiert im Abgleich der Definitionen durch die Geschichte, dass unsere Besitz- und Einkommensverhältnisse nichts mehr mit der Idee der Verhältnismäßigkeit zu tun haben, wenn man sie etwa an Leistung misst (S. 89) und darüber den Unterschied von einfacher zu proportionaler Gleichheit in Vergessenheit geraten lässt. Überhaupt durchzieht die Kapitel immer wieder die Frage, ob unser Umgang miteinander überhaupt mit dem viel beschworenen Prinzip der Menschenwürde vereinbar ist, den wir gern unter Berufung auf Kant (S. 103) anbringen. Doch kann eine Gesellschaftsform, die Menschen ausschließlich nach ökonomischem und gesellschaftlichem Erfolg bewertet, überhaupt noch Chancengleichheit fordern, ohne die dazu erforderlichen Mittel (beispielsweise für die Bildung von Kindern aus weniger begünstigten Verhältnissen) zu investieren? (S. 114). Auch die Modernität der Verantwortung (Kapitel 6) muss inhaltlich mehr sein als die beschwörende Versicherung von Politikern, dass sie Verantwortung tragen, jedenfalls solange alles seinen Gang geht (S. 160): „wer von der Kompatibilität von Ethik und Gewinnmaximierung als Norm ausgeht, wird dabei enden, das als Ethik zu definieren, was sich auszahlt“ (S. 179).

Diskussion

Die Grundaussage Schillers ist fraglos überzeugend: Alle moralischen Grundbegriffe haben einen historischen Kern, der sich nur in Konfrontation mit früheren Praxisnormen erschließen lässt (S. 10). Wer von Gerechtigkeit spricht, wenn es um die Verteilung jedweder Ressourcen geht, muss schlechterdings angeben können, ob er eine einfache oder proportionale Aufteilung für „gerecht“ hält. Oft neigen wir dazu an große moralische (Verhaltens)Normen wie Freiheit, Autonomie oder auch Lebensglück zu appellieren oder akzeptieren ungerechte Verhältnisse unreflektiert, weil es vermeintlich Dinge und Verhältnisse gibt, die „unveränderlich nun mal so sind wie sie sind“. Und natürlich scheinen wir ebenso dafür verantwortlich zu sein, ein ertrinkendes Nachbarskind aus dem Teich zu retten, wie wir einem verhungernden Kind in Afrika nur hilflos mitleidig gegenüber stehen. Eine Rückbesinnung auf die Bedeutung von Moralbegriffen gerade in unserer Alltagssprache macht deutlich, wie einfach wesentliche begriffliche Inhalte mit bestenfalls Leerformeln oder gar polemischen Inhalt ersetzt werden können. So ist denn auch die Behauptung vom Bestehen „persönlicher Entscheidungsfreiheit“ oder „individueller Verantwortung“ nicht dadurch per se von moralischem Wert, sondern erst dann, wenn sich dahinter kein Euphemismus der Marke „es kann halt nicht jeder alles haben“ verbirgt. Der Ansatz ist auch durchaus entlarvend, weil Schiller den Leser stets durch eine kluge Auswahl der Paten durch seine Argumentation lotst, die für eine philosophische Auseinandersetzung mit den Moralbegriffen stehen. Von Aristoteles bis zur Gegenwartsphilosophie, wohldosiert und sorgsam eingebettet in eine klare flüssige Sprache, sowie durch Literaturverweise aus dem Nimbus der bloßen Behauptungen gerissen, ist das Werk genau das, was es in der ersten Zeile verspricht: Ein Werk, dass „weniger der Information über geläufige Moralphilosophien [dient] als dem Versuch, Argumente zu finden, die sich vertreten lassen und ein Wissen zu erlangen, das es uns erlaubt, die Leitbilder und Wertbegriffe der modernen Welt auf Distanz zu bringen“. (S. 9)

Als Kehrseite wird dabei jedoch auch in Kauf genommen den wissenschaftlichen Diskurs stark zu verkürzen. So vereinfacht beispielsweise das Starkmachen des Menschenwürdebegriffs in der kantischen Prägung die ethische Diskussion um den moralischen Status des Embryos auf eine schlichte Ablehnung anderer Haltungen (hier Peter Singer). Andererseits baut Schiller durch seine stringente Argumentationskette eine erfrischend streitbare Haltung auf. Schade nur, dass diese nicht in einer zusammenfassenden Schlussthese noch einmal fokussiert aufgeführt wurde.

Als folgenreich hingegen erweist sich das Fehlen eines vorangestellten analytischen Kapitels über die „Welt des Kapitals“. Es wird zwar schnell deutlich, dass Schiller mit diesem Terminus nicht etwa eine spezifische Finanzwelt, sondern generell unsere gegenwärtige Gesellschaftsordnung bezeichnet, aber eine etwas differenziertere Auffassung der Verhältnisse wäre hilfreich gewesen, zumal ja gezeigt werden soll, wie sie sich auf die Bedeutung von moralischen Grundbegriffen auswirkt. Die „Welt des Kapitals“ bleibt zwar keinesfalls unbestimmt, doch zeigt sie sich primär in knappen Formulierungen, die Schiller offenkundig nicht nur deskriptiv versteht, sondern sie ebenso normativ wie vorwiegend defizitär betrachtet: „Es ist eine vom Geld beherrschte Welt oder genauer: eine Welt, worin Geld als die allgemeine Form des gesellschaftlichen Reichtums gilt“ (S. 9), „eine[r] Gesellschaft, die den Menschen zum Funktionär verselbständiger Wirtschaftsapparate erniedrigt und die Entfaltung der menschlichen Kräfte der Anhäufung abstrakter dinglichen Reichtums unterordnet“ (S. 167). So bleibt die „Welt des Kapitals“ eine Lebenswelt ohne große Binnendifferenzierung, auf die sich der Leser einlassen muss.

Fazit

Das Werk greift die Hauptpunkte des gegenwärtigen Diskurses um die Grundbegriffe der Moral auf und stellt ihre im Lauf der Geschichte veränderte Bedeutung gegen die aktuelle Verwendung in der „Welt des Kapitals“. Wer der kapitalistischen Welt und ihren Normen kritisch gegenüber steht, findet in diesem Buch sehr gut argumentierte Unterstützung aus der Philosophie(geschichte); grundsätzliche Verfechter der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung könnten jedoch durch die mitunter scharf gezogene Konfrontationslinie verschreckt sein, sich auf den inhaltlichen Diskurs mit dem Autor einzulassen. Und das wäre durchaus schade.

Rezension von
Tobias Fischer
M.A.
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Zitiervorschlag
Tobias Fischer. Rezension vom 25.06.2012 zu: Hans-Ernst Schiller: Ethik in der Welt des Kapitals. Zu den Grundbegriffen der Moral. zu KLAMPEN! Verlag (Springe) 2011. ISBN 978-3-86674-148-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11202.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.


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