Gabriele Bartsch, Raphael Gaßmann (Hrsg.): Generation Alkopops
Rezensiert von Arnold Schmieder, 10.03.2011

Gabriele Bartsch, Raphael Gaßmann (Hrsg.): Generation Alkopops. Jugendliche zwischen Marketing, Medien und Milieu. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2011. 136 Seiten. ISBN 978-3-7841-2006-5. 19,90 EUR. CH: 30,50 sFr.
Thema
Der Sammelband ist kein Buch zum (Dauer-)Medienereignis; vielmehr nähern sich die AutorInnen der insgesamt thematisch breit gefächerten Beiträge ohne vorschnelle Schuldzuschreibungen den Ursachen und Folgen jugendlichen Alkoholkonsums an. Damit werden zugleich die Konturen einer hier und heute immer spektakulären Alkoholnormalität skizziert, welche – auch – die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen ausmacht, an der sie sich in den Prozessen ihrer psychosozialen Reifung abarbeiten müssen. Dieser Blick auf das soziale Umfeld richtet sich besonders auf Elternhaus und Schule, Peer-Gruppen und Werbung, aber auch auf Institutionen, die für Prävention zuständig sind, denen dann auch praxisorientierte Hinweise an die Hand gegeben werden. Insgesamt soll der Band dazu beitragen, „hinter die aufgebauten Kulissen zu schauen und die Entstehungsbedingungen von Konsum und Abhängigkeit von psychotropen Substanzen begreiflich zu machen“; u.a. werden auch „Belastungen und Bewältigungsverhalten von Kindern und Jugendlichen aus suchtbelasteten und gewalttätigen Familien“ vorgestellt, weil dieses Problem zu selten diskutiert wird. (S. 7)
Aufbau und Inhalt
Eingangs wird die Shell Jugendstudie aus dem Jahre 2006 vorgestellt und man erfährt, dass politisches Engagement für die Mehrheit der Jugendlichen wenig attraktiv ist, was an deutlicher Skepsis gegenüber der Funktionsweise gegenwärtiger Demokratie und gesunkenem Zukunftsoptimismus liegen kann, aber nicht muss, da den jungen Menschen zugleich zu testieren ist, dass sie engagiert und leistungsbereit sind und zudem Freude daran haben, etwas zu lernen. Sie möchten sich in der Gesellschaft verorten, und wo das nicht gelingt, können Enttäuschungen in Aggressivität umschlagen. Das ist trotz (Kinderarmut und) hoher Jugendarbeitslosigkeit aber nicht der Regelfall, da von „kollektiver Resignation und einem Ausstieg in Ersatzwelten“ wenig zu spüren ist. (S. 22)
An dieser Tatbestandsaufnahme dürfte sich in den letzten fünf Jahren wenig geändert haben; wenig geändert hat sich aber auch an den ökonomischen, sozialen und psychosozialen Verhältnissen, mit denen Jugendliche bei ihren tastenden Schritten ins Erwachsenenleben konfrontiert sind. Eher schon sind die Hürden höher gelegt und man fragt sich, woher die Jugendlichen ihren Pragmatismus und ihr Engagement beziehen, wodurch sie sich auch auszeichnen sollen.
Die Werbung, erfährt der Leser weiter, greift positive Selbstbilder, also Persönlichkeitsentwürfe der Jugendlichen auf und bezieht sich auf ihre Lebenswelt, um sie für Alkoholkonsum zu konditionieren. Angesichts der Werbeflut dürfe es nicht erstaunen, „dass gerade Jugendliche und junge Erwachsene eine überwiegend positive Einstellung zum Alkoholkonsum entwickeln.“ (S. 30 f) Abgesehen davon, dass über einen Blick in die Wirkungsforschung differenziertere Aussagen möglich gewesen wären, hätte ein Verweis auf sozialstrukturelle Herkunft vielleicht erhellt, warum „immer mehr Jugendliche riskante Konsummuster in Bezug auf Alkohol“ entwickeln, warum ein vielleicht anwachsender Teil von Jugendlichen nicht „über ausreichende psychische Ressourcen zur Bewältigung schwieriger Situationen und neuer Anforderungen“ verfügt. (S. 31)
Die heterogenen Trinkmotive Jugendlicher bis in den Bereich des riskanten Rausch-Trinkens und seiner Spielformen, also Ritualen, die nicht mehr schlicht darin aufgehen, dass die Kids ihr Mütchen kühlen, werden in einem weiteren Beitrag ausgelotet. Die Folgerung daraus ist, dass „undifferenzierte Präventionsmaßnahmen“ im schlimmsten Falle verstärkend und daher kontraproduktiv sein können – was ja so neu nicht ist –, dass Verstärkungs- und Bewältigungsmotive in den Vordergrund gerückt und Strategien mit den Betroffenen entwickelt werden sollten, mit deren Hilfe sie ohne Griff nach einer Droge „negativen Affekt“ bewältigen können. (S. 45) Wer das als Laie für sich dahingehend übersetzt, dass Lob besser ist als Tadel, übersetzt richtig. Daher wird man wissen wollen, welchen Einfluss Elternhaus und Schule und Art und Weise ihres erzieherischen Wirkens auf das bedrohliche Saufen junger Menschen haben können.
Der pubertierende oder adoleszente Mensch ist anders – jedenfalls aus der Sicht der Erwachsenen, die umgekehrt auch für den Jugendlichen zu den Anderen werden. Die Turbulenzen sind bekannt und lästig bis enervierend, solides Wissen und daher gespeistes Verständnis ist nicht immer vorhanden. Insofern sind die mit den Aussagen der Psychoanalyse koinzidierenden Ergebnisse der Hirnforschung über die „‘Renovierungsarbeiten‘ im Gehirn“ von Belang, die im Beitrag über Möglichkeiten und Grenzen des familiären Einflusses in das treffende Zitat von Hartmut von Hentig münden: „Die Erwachsenen nehmen plötzlich erschrocken ihre eigene Faszination durch die Wesen wahr, die ihnen äußerlich näher kommen und sich gleichzeitig so hartnäckig von ihnen zu entfernen suchen, die sich selbst um einen Preis verwirklichen wollen, den sie – abgeklärt oder abgestumpft – längst nicht mehr zu zahlen bereit sind.“ (S. 58) Wenn der Mitherausgeber im Abschlussbeitrag meint, und dies wohl nicht nur hinsichtlich des Problemfeldes Jugend und Alkohol: „Scheinbar haben wir uns weit vom Jugendthema entfernt“ (S. 133), dann scheint das eher für ein Vorherrschen der Abstumpfungsvariante zu sprechen, die sich weniger durch Reflexion und mehr durch standardisierte Verhaltenszumutungen auszeichnet und so auch Erziehungsverhalten überformt. Die Entfernung von der Jugend und ihren Problemen aus und in einem lebensgeschichtlich zentralen Reifungsprozess ist da nicht nur scheinbar.
Vor dieser abschließenden, wohl berechtigten Klage darüber, dass alle über Kinder reden und nichts geschieht, geht es noch um Präventions- und Interventionschancen bei Gewalt und Sucht in der Familie. Dabei wäre dieses wichtige und sensible Thema gerade dadurch in seiner ganzen Brisanz um das Phänomen des ‚Missbrauchs mit dem Missbrauch‘ zu vervollständigen gewesen, weil Kinder und Jugendliche zumal im Scheidungskrieg über Instrumentalisierung davon betroffen sein können, was gravierende Spätfolgen zeitigen kann. Dem Themenkomplex Kindesvernachlässigung und Entwicklungsstörungen ist ein eigenes Kapitel gewidmet, das ebenso den menschenunwürdigen Bodensatz und Nährboden für ein späteres Fluchtverhalten in Drogenmissbrauch aufzeigt, wobei für das Wohl dieser „sozial Benachteiligten“ sehr sinnvoll auf die „Vermittlung an eine Familienhebamme“ hingewiesen wird. (S. 85)
Im Hinblick auf schulische Sozialisation wird die Frage nach einer Erziehung zur Selbstständigkeit gestellt, wobei pädagogische Konzepte thematisiert werden, die es bereits hier und da in praktischer und sehr erfolgreicher Umsetzung gibt, die aber dank einer zähen Schulbürokratie wenig verbreitet sind. Unter anderem fordert der Verfasser, alle Lehrkräfte müssten „professionell beratungskompetent sein bzw. werden“. (S. 94) Vergegenwärtigt man sich dabei, dass allzu viele Lehrer und Lehrerinnen auf Grund des übermäßigen Belastungsdruckes nicht nur an sozialen Brennpunktschulen die pädagogischen Waffen strecken und sich aus Selbstschutz in Wissensvermittler umdefinieren, dann sollte solcher Botschaft umso mehr Gehör geschenkt werden, wenn man einen Teil der Jugend nicht unbedacht an den falsch tröstenden Erzieher Alkohol verlieren will. Dass man dazu auch da ansetzen kann, wo man sonst kaum zu erreichende Jugendliche erreicht, macht ein Beitrag über Online-Beratung deutlich, über welche man jene „Dunkelziffer“ erreicht und über deren „Kontaktaufnahme zu Beratungsstellen“ eine „frühe Intervention“ möglich wird. (S. 108)
Was an einem vorhergehenden Beitrag zum Thema Alkoholwerbung nachgefragt wurde, nämlich welche Auskünfte die Wirkungsforschung gibt, wird im Beitrag über Kinder und Jugendliche als Zielgruppe von Werbung nachgeholt. Wenn als Fazit eine „Verhaltensprävention“ empfohlen wird, welche die „Förderung der Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen und deren Eltern“ umfasst, wenn zudem der Rat erteilt wird, „Kinder und Jugendliche zu kritischeren Rezipienten zu erziehen“ (S. 121), dann scheint da etwas auf, was noch aus der Schublade einer Medienpädagogik der frühen 70er Jahre lugt, in der es um die verarmende Wirkung unkontrollierten und übermäßigen Fernsehkonsums von Kindern ging. Das diskreditiert weder Fazit noch Rat des Beitrages; vielmehr wirft es einen Schlagschatten auf Umstände, die immer noch solcher Hinweise bedürfen.
Diskussion
Es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen, meint ein afrikanisches Sprichwort. Wenn, und zwar nicht nur im abschließenden, sondern dem Tenor nach in jedem Beitrag „die ungeteilte Verantwortung Erwachsener für den Alkoholkonsum junger Menschen unterstrichen“ wird (S. 10), dann verweist das zu Recht darauf, dass Erziehungsaufgaben nicht nur delegiert werden können. „Seien Sie vorsichtig“, wird daher im Vorwort gewarnt, „ja misstrauisch, gegenüber allen vorgeblich an Prävention Interessierten, die ‚Erwachsene‘ stets nur als ‚Eltern und Lehrer‘ buchstabieren.“ (S. 10) Insofern sollte praxisorientierte Jugendforschung immer mit reflektieren, wie es etwa mit Vorbildfunktionen bestellt ist, mit der Bigotterie Erwachsener, was nicht nur den Umgang mit Alkohol und Drogen betrifft, sondern vor allem auch lebensplanerische Ratschläge und Orientierungen, deren Basis bröckelt oder gar überholt ist. Sicherlich weiß die Jugendsoziologie darum, dass viele Konflikte zwischen den Generationen aus Konflikten zwischen ‚Systemen‘ und Karriereerwartungen hervorgehen und auch auf dem Hintergrund eines Wandels von Norm- und Wertorientierungen zu interpretieren sind. In Aushandlungsprozessen haben Jugendliche allein darum die schwächere Position, weil sie sich, so Pierre Bourdieu in einem Interview, „in einer Art sozialem Niemandsland“ befinden, „sie sind Erwachsene in manchen Dingen, Kinder in anderen, sie spielen auf beiden Registern.“ Die Definitions- und Entscheidungsmacht liegt letztlich bei den Erwachsenen, worauf Bourdieu nachdrücklich aufmerksam macht, wenn er sagt, „dass es bei der logischen Aufteilung zwischen Jugend und Alter um Macht geht, um Gewaltenteilung (…). Klassifizierungen nach dem Alter (…) laufen immer darauf hinaus, Grenzen zu setzen und eine Ordnung zu produzieren, an die sich jeder zu halten hat“. Implizit machen die Beiträge des Bandes in der Zusammenschau darauf aufmerksam, dass es auch am Gegenstand Alkopops und Jugendliche um Ordnungsmuster geht, die der Reflexion und Revision bedürfen.
(Am Rande: Auf ein ‚Ordnungsmuster‘ verzichtet der Rezensent ungern: Unter den Angaben zu den Autorinnen und Autoren sucht man vergeblich nach Gabriele Bartsch, der Mitherausgeberin und Mitunterzeichnerin des Vorworts. Ob hier ein Versehen des Lektorats vorliegt oder sich Frau Bartsch noch in ‚wissenschaftlichem Niemandsland‘ befindet, ist von hier aus nicht zu beurteilen. Jedenfalls möchte der Rezensent diese Scharte dadurch auswetzen, dass er auf diesem Wege seinen Glückwunsch zu ihrer Leistung ausspricht.)
Fazit
Die Beiträge des Buches beschäftigen sich nicht nur mit Alcopops, ihrer Akzeptanz und Verbreitung unter Jugendlichen. Das Buch bietet an Informationen mehr, als der Titel vermuten lässt. Eher schon ist der Untertitel aussagekräftig; man bekommt einen guten Einblick in die Veränderungen der Lebenswelt Jugendlicher, die milieuspezifisch differenziert dargestellt wird. Wer über Information auch Handreichungen für pädagogische Praxis und Sozialarbeit sucht, ist mit diesem Sammelband gut beraten.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 10.03.2011 zu:
Gabriele Bartsch, Raphael Gaßmann (Hrsg.): Generation Alkopops. Jugendliche zwischen Marketing, Medien und Milieu. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2011.
ISBN 978-3-7841-2006-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11212.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
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