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Hans-Jürgen Leonhardt, Kurt Mühler: Rückfallprävention für Chronisch Mehrfachgeschädigte [...]

Rezensiert von Arnold Schmieder, 21.03.2011

Cover Hans-Jürgen Leonhardt, Kurt Mühler: Rückfallprävention für Chronisch Mehrfachgeschädigte [...] ISBN 978-3-7841-2012-6

Hans-Jürgen Leonhardt, Kurt Mühler: Rückfallprävention für Chronisch Mehrfachgeschädigte Abhängigkeitskranke. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2010. 204 Seiten. ISBN 978-3-7841-2012-6. 20,90 EUR.

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Thema

Die Ergebnisse des seit 2008 laufenden Projekts „Soziales Kapital und Rückfallprävention bei CMA“ werden vorgestellt, an dem neben den Autoren auch Sarah Jahn und Christian Schmidtke beteiligt waren, die auch beide im Band mit einem Beitrag vertreten sind. Diese umfangreiche und sehr detaillierte Studie schließt an eine früherer Arbeit (2006) der Autoren an, die sich mit der besonderen Lebens- und Abhängigkeitssituation Chronisch Mehrfachgeschädigter Abhängigkeitskranker (CMA) beschäftigte und entsprechende Anforderungen an therapeutische Maßnahmen überprüfte und vorstellte. Das Alkoholismus-Rezidiv hat gerade unter dem Abstinenzgebot in Theorie und Praxis einen hohen Stellenwert. Die Leipziger ForscherInnengruppe untersucht dieses Damoklesschwert Rückfall im Hinblick auf CMA, eine Klientel, die durch Alkohol und ggf. auch anderen Drogenkonsum überdurchschnittlich schwer physisch und psychisch geschädigt und zusätzlich gravierend sozial desintegriert ist, deren Selbsthilfeambitionen derart ruiniert sind, dass sie institutioneller Hilfe bedürfen. Ursachen der Wiederaufnahme des krankhaften Trinkens werden diskutiert, vor allem aber geht es um präventionsstrategische Fragen, wobei es zu vermeiden gelte, dass „therapierte CMA Objekte informeller Sozialkontrolle“ werden. (S. 11)

Inhalt

Ein wesentliches Therapieziel, nämlich die Gewinnung einer Perspektive zur Wiedereingliederung des Alkoholkranken in den Arbeitsmarkt, ist nach Befunden der Untersuchungen für CMA ausgeschlossen; damit auch in der Regel all das, was man landläufig ein normales Leben nennt. Warum also sollten gerade diejenigen, die ganz außen am Rand der Gesellschaft angesiedelt sind, dauerhaft abstinent, d.h. lebenslang trocken bleiben, wenn anderer Problemdruck nicht genügend Motivation abwirft und zudem das so genannte Suchtgedächtnis nach neurobiologischen Befunden latent aktiv bleibt? Da nach begründeter Auffassung der Autoren die Abstinenzforderung aufrecht erhalten bleiben muss, gleichzeitig die Schwere einer solchen Forderung gerade für CMA unmittelbar einleuchtet, müssen soziale Anreize für abstinente Lebensweise geschaffen und Wege zum Aufbau eines positiven Selbstbewusstseins aufgezeigt werden – was nach Befunden der Studien der CMA nicht allein zu leisten in der Lage ist, zumal auf Grund hoher sozialer Desintegration kaum Ressourcen zur Verfügung stehen, die als Stützen für ein eventuell etwas mehr als nur abstinentes Leben dienen könnten. Da Langzeittherapien nicht nur sehr sinnvoll, sondern nahezu unabdingbar sind, aber auch nicht zwingend hinreichende Fähigkeiten zur psychischen Selbststeuerung vermitteln können, da sich gezeigt hat, dass selbst bei ansatzweiser sozialer Integration das Rückfallgeschehen bei CMA weit über dem Durchschnitt liegt, sind „Außenwohngruppen“ das probateste Mittel einer Rückfallprävention nach der Therapie. Damit soll allerdings die Bedeutung ambulant betreuten Wohnens nicht in Frage gestellt werden; es handelt sich nur um ein anderes, rückfallprophylaktisch offenkundig sinnvolles Modell. Geht man davon aus, dass es sich beim CMA um einen Menschen mit eben chronifizierter Abhängigkeit handelt, was aus diagnostischer Sicht nicht immer gesichert ist und ggf. auch relativiert bis revidiert werden muss, dann ist jenes Gesundheit supponierende Therapieziel einer Zurückführung ins Arbeitsleben für den CMA sogar kontraproduktiv, weil dort erhebliche Rückfallgefahren lauern, die ob weit höherer Chronifizierung für dieses Patientengut um ein Vielfaches bedrohlicher sind als für andere Abhängige. Gleichwohl bleibt soziale Integration ein wesentlicher Faktor, wenngleich auch da keine einheitliche Elle anzulegen ist – denn: „Wer bedingt durch Suchterkrankung ins soziale Abseits gelangt ist, aber noch relativ höhere Bewältigungsressourcen besitzt, gewöhnt sich eventuell besser daran, zum einen keine positive Gruppenidentifikation und zugleich keine hohe Autonomie zu besitzen (besonders dem Suchtmittel gegenüber).“ (S. 84) Das wirft natürlich Schwierigkeiten der Erreichbarkeit auf. Hinzu kommt, je „desorganisierter eine Person ist, desto weniger ist sie intrinsisch orientiert.“ (S. 139) Und was die Verweildauer in „Außenwohngruppen“ betrifft, tut sich ein weiteres Problem auf, nämlich die „Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Hospitalisierungseffekten.“ Senkt man die Therapiedauer, werden Erfolg und Nachhaltigkeit riskiert. Erhöht man sie und damit „den Therapieerfolg im Hinblick auf die physische und psychische Konstitution, dann werden jene Effekte gestärkt, welche die Wahrscheinlichkeit zur Selbständigkeit senken.“ (S. 194) – Insofern besteht weiterer Forschungsbedarf über die überzeugend dokumentierten Ergebnisse der Studie hinaus.

Diskussion

Die Forschungen zum Rückfall bei Alkoholkranken füllen Regalmeter und Überlegungen zur Prävention gibt es zuhauf. In Selbsthilfegruppen Alkoholabhängiger steht man zumeist ratlos dem Rückfall eines Mitgliedes gegenüber und der oder die Betroffene kann zumeist auch keine wirklich auslösende Ursache benennen. Man macht sich einen Reim darauf, spricht sogar vom ‚heilsamen‘ Rückfall, was – psychoanalytisch gesehen – sogar der Fall sein kann. Ohne sich auf die verzweigten Forschungsergebnisse und Ursachenvermutungen einzulassen, stellen die Autoren ihre Studie doch auf ein gut fundiertes theoretisches Gerüst, das in die generelle Problematik einführt und für deren Bedeutung in Bezug auf CMA sensibilisiert. Schnell drängt sich der Begriff der Exkludierten auf, also jener Menschen schon außerhalb der Unterschichtengrenze, denen im Zuge einer (transnationalen) Neuorientierung der soziologischen Forschungen zur sozialen Ungleichheit zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt wird. Nicht nur anderswo, auch hierzulande und nicht nur in Leipzig werden jene Segmente an den Rändern der Gesellschaft größer, die man nicht mehr als nur Bauernopfer des allgemeinen Fortschritts abtun kann. Stellt sich also angesichts der auf Umsetzung ihrer Ergebnisse drängenden Forschung die Frage – cui bono? Für den Arbeitsmarkt sind sie untauglich, scheint es, die CMA, wenn die Diagnose stimmt, deren Korrektur allerdings „im Verlauf einer Therapie (…) kein Sündenfall (ist), sondern ein Gebot, mit dem man adäquat umgehen muss“, wie die Autoren betonen, was aber das diagnostische Instrumentarium selbst nicht berühre. (S. 10) Ob und wann und wie sie außerhalb ihrer Außenwohngruppe wieder abstinent zu leben und Fuß zu fassen in der Lage sind, auch das steht zur Frage. Eine soziologische Diagnose sähe da eher ungünstig aus. –

Fazit

Was bleibt, ist ein stilles Abrücken vom Selbstverschuldenstheorem und eine Besinnung auf gesellschaftliche Verantwortung oder gar eine Moral, die in einer nach neoliberalen Regularien nur noch stotternd funktionierenden Arbeitsgesellschaft keine sonderliche Konjunktur zu haben scheint. Das therapeutische Bemühen um CMA soll keine Methode bloß „informeller Sozialkontrolle“ (s.o.) sein, wie die Autoren betonen. Wenn das Engagement durch andere Motive gestiftet ist, scheint gleichzeitig eine deutlich auszusprechende Kritik an einer Normalität auf, in der die CMA nur Spitze des Eisbergs längst überwunden geglaubter Zeiten eines Elendsalkoholismus sind.

Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 21.03.2011 zu: Hans-Jürgen Leonhardt, Kurt Mühler: Rückfallprävention für Chronisch Mehrfachgeschädigte Abhängigkeitskranke. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2010. ISBN 978-3-7841-2012-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11213.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.


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