Angela Kallhoff: Ethischer Naturalismus nach Aristoteles
Rezensiert von Mag. Harald G. Kratochvila, 12.10.2011
Angela Kallhoff: Ethischer Naturalismus nach Aristoteles. mentis Verlag (Paderborn) 2010. 236 Seiten. ISBN 978-3-89785-712-4. 34,00 EUR. CH: 56,00 sFr.
Natürliche Aspekte menschlicher Moralität – Aristotelische Ethik in der Gegenwart
„Menschen denken darüber nach, was für eine Person sie sein möchten und formulieren für sich ein Ideal guten Lebens." (Kallhoff 2010, 163) Inwieweit dieses Ideal verallgemeinerbar und argumentierbar ist, ist eine andere Frage. Krisen und Schicksalsschläge, Veränderungen und Belastungen stellen uns Menschen immer wieder vor die Frage (und damit auch vor die Entscheidung), wie wir leben möchten bzw. wie wir leben sollen (zur Welt- und Selbstorientierung vgl. Kratochvila 2010). Die Antworten, die wir auf diese Fragen finden, bestimmen direkt oder indirekt den Verlauf unseres weiteres Lebens: „How should you live? Should you devote yourself to perfecting a single talent or try to live a balanced life? Should you lighten up and have more fun, or buckle down and try to achieve greatness? Should you be a saint, if you can? Should you be a parent, a career woman, a socialite, a good friend? How should you you decide among the paths open to you? Should you consult experts, listen to your parents, do lots of research? Should you be self-critical or self-accepting? These are questions about how to live that are addressed to the first-person point of view, to you, the one who is living your life.” (Tiberius 2008, 3)
Manche Philosophen haben versucht diese Überlegungen auch in einen Begriff zu packen, der es anschaulich macht, was für eine Bedeutung diese Fragen für uns haben – mit Hilfe unserer moralischen Vorstellungskraft orientieren wir uns im Leben an den Möglichkeiten, die sich uns bieten, an den Werten, die uns wichtig sind, und an den Menschen, die wir brauchen. „Moral imagination does its work in three ways, which I call corrective, explanatory, and disciplined.? (Kekes 2006, 33) Als Korrektiv ist der Blick zurück auf die genutzten und vertanen Chancen in unserem Leben. Als Erklärung ist es das antizipierte Durchspielen unserer Möglichkeiten, sowohl der vergangenen als auch der zukünftigen. Beide Perspektiven zusammen disziplinieren unseren Blick auf unser Leben – und können als dritter Weg verstanden werden, weil sich die beiden ersten Perspektiven zwar bedingen, aber nicht gänzlich deckungsgleich sind.
Wesentlich ist, dass diese Übung (man könnte sie auch als Anthropotechnik bezeichnen – vgl. dazu Peter Sloterdijk 2009) eine gewisse Distanz von uns abverlangt – eine Distanz die sowohl sprachlich als auch gedanklich vermittelt wird - bei Wilhelm von Humboldt findet sich in seiner Schrift über Denken und Sprechen folgender Satz: „Die Sprache beginnt daher unmittelbar und sogleich mit dem ersten Akt der Reflexion, und so wie der Mensch aus der Dumpfheit der Begierde, in welcher das Subjekt das Objekt verschlingt, zum Selbstbewußtsein erwacht, so ist auch das Wort da – gleichsam der erste Anstoß, den sich der Mensch selbst gibt, plötzlich stillzustehen, sich umzusehen, und zu orientieren.“ (Humboldt 2008, 11) Denken und Sprechen heben den Menschen aus seiner Unmittelbarkeit heraus, und verschaffen ihm Raum, Raum für Welt- und damit auch Selbstvergewisserung. Diese Selbstvergewisserung ist Teil eines Prozesses, der als Selbst-Werdung beschrieben werden kann. Eine gelungene Selbst-Werdung beinhaltet für das Individuum die Gestaltung eines Reservoirs an Erzählungen – Erzählungen auf die es zurückgreift, um über sich, und sein Verhältnis zur Welt Klarheit zu bekommen. Der Philosoph Dieter Thomä hat dieser Idee folgende sprachliche Form gegeben: „Auf die Erzählung des eigenen Lebens richten sich demnach zwei einander widerstreitende Ansprüche: zu erfahren, wie ich bin, und zu entwerfen, worauf es mir dabei ankommt.“ (Thomä 2007, 15)
Daher lässt sich mit Wilhelm von Humboldt auch sagen: „Rein und in seiner Endabsicht betrachtet, ist sein Denken [des Menschen, HGK] immer nur ein Versuch seines Geistes, vor sich selbst verständlich, sein Handeln ein Versuch seines Willens, in sich frei und unabhängig zu werden, seine ganze äußere Geschäftigkeit überhaupt aber nur ein Streben, nicht in sich müßig zu bleiben. Bloß weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders, als nur vermöge eines dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nichtmensch, d.i. Welt zu sein, sucht er, soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.“ (Humboldt 2008, 849-850)
Diese Einsicht ist kein Garant für Klarheit und Verständnis – in der Literatur finden sich immer wieder Beispiele für die Ambiguität, mit denen sich Menschen in diesen Fragen auseinanderzusetzen haben: „Warum weiß einer im Leben nicht immer, ob er richtig handelt. Warum ist die Ahnung, falsch zu handeln, immer viel deutlicher?“ (Flöss 2007, 112) Eine gute Annäherung ist sicherlich folgende Überlegung: „Ich glaube jedes Leben, dass du jetzt lebst und bei dem du nicht in Gedanken anderswo bist, ist gut.“ (Schlink 2008, 40)
Dieses Gut-Sein, dieses Gut, von dem hier die Rede ist, wird von vielen als der Schlüssel zum persönlichen Wohlsein aufgefasst: „Perceiving one?s life as full of meaning and purpose is a hallmark of healthy psychological functioning. The perception that one?s life has meaning is considered a fundamental buffer against existential anxiety … and is associated with quality of life …, psychological well-being …, and coping with stress or illness.? (Routledge et al. 2011, 638)
Die normative Auseinandersetzung mit persönlicher psychologischer Funktionalität – so könnte man das Bemühen von Angela Kallhoff zusammenfassen, das sie mit ihrem Buch: „Ethischer Naturalismus nach Aristoteles“ nun vorgelegt hat.
Autorin
Angela Kallhoff ist eine habilitierte Philosophin, die sich seit vielen Jahren mit Fragen zur Aristotelischen Ethik und Moraltheorie und deren Anwendung auf politische und ökologische Themen beschäftigt. Mit dem vorliegenden Buch hat sie sich 2008 an der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster (Westfalen) habilitiert (www.uni-muenster.de). Seit August 2011 hat sie nun die Professur für Ethik mit besonderer Berücksichtigung von angewandter Ethik an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien inne (http://philbild.univie.ac.at).
Aufbau und Inhalt
„Die aristotelische Ethik ist eine Ethik des guten Lebens“ (Kallhoff 2010, 37), und als solche bestimmt sie das Verhältnis von Glück und Natur im Leben des Menschen. Die bereits oben erwähnten Annäherungen des menschlichen Denkens an die menschliche Lebensführung stehen ganz im Zeichen der Normativität – „Die Frage wie es zu leben gilt, um ein gutes Leben zu führen, ist die entscheidende Frage der aristotelischen Ethik.“ (Kallhoff 2010, 44)
Das vorliegende Buch von Angela Kallhoff liefert eine differenzierte Auseinandersetzung mit zwei Gegenpolen ethischer Konzeption – die Autorin argumentiert für eine aristotelische Glückskonzeption zwischen absolutem Naturalismus und naturvergessener Ethik. (Kallhoff 2010, 46). Die zugrundegelegte Arbeitshypothese lautet: „Weder wird das gute Leben identifiziert mit der Verwirklichung bestimmter, der menschlichen Natur immanenten Ziele. Noch wird gutes Leben in anthroplogisch-naturphilosophischer Perspektive als voraussetzungslos bestimmt.“ (Kallhoff 2010, ibid.)
Das Buch ist in drei Teile gegliedert, die zusammen, die genannte Hypothese untermauern sollen.
In einem Einführungsteil (Propädeutik) setzt sich Angela Kallhoff mit den verschiedenen Spielarten des ethischen Naturalismus auseinander, der wie folgt definiert wird: „Mit dem Prädikat „ethischer Naturalismus“ wird eine Theorie versehen, sofern ethische Begriffe und Sätze auf naturwissenschaftlich erhellte Begriffe und Sätze zurückgeführt werden können.“ (Kallhoff 2010, 19).
Im eigentlichen ersten Teil des Buches (Ethischer Naturalismus in der Aristotelischen Glückskonzeption) stellt die Autorin eine Interpretation der aristotelischen Glücks- und Ethikkonzeption vor. Nachdem Ethik als der Versuch verstanden wird, wohlbegründete Antworten auf die Frage zu geben, wie wir Menschen leben sollen (vgl. Kallhoff 2010, 120), zeigt sich für die Autorin, dass „[D]as menschliche Leben […] also sowohl aus Perspektive seiner subjektiven Fähigkeiten als auch aus Perspektive seiner leiblichen Verfasstheit zu betrachten [ist].“ (Kallhoff 2010, 152). Der bekannte aristotelische Begriff der Eudämonie wird als „human flourishing“, als menschliches Gedeihen verstanden, und nicht bloß als menschliches Glück. (vgl. Kallhoff 2010, 47). Dieses Gedeihen steht nicht für die „Überwindung […] natürlicher Möglichkeiten“, sondern für deren „Erfüllung“ – denn darin „besteht das gute Leben“ (Kallhoff 2010, 120). Angela Kallhoff betont immer wieder, dass die ethische Lebensführung eine besondere Tätigkeit des Menschen darstellt – „Menschliches Gedeihen ist der gekonnte Vollzug jener Tätigkeiten, die dem Menschen eigentümlich sind. Menschen können ihr Leben gestalten.“ (Kallhoff 2010, 107)
Der zweite Teil des Buches (Typen des naturalistischen Arguments in der Moraltheorie) setzt sich mit verschiedenen Aspekten naturalistischer Konzeptionen auseinander. Angela Kallhoff widmet sich sowohl dem biologischen Funktionalismus, als auch der Frage nach der Natürlichkeit von Wünschen. Der Perfektionismus als die Pflicht nach naturgemäßer Selbstentfaltung wird ebenso ausführlich thematisiert wie die Frage nach dem moralischen Naturalismus. Schließlich wird dieser Teil des Buches und damit auch das Buch als Ganzes mit der Diskussion der Frage beschlossen, ob es ein Recht auf menschliches Gedeihen geben kann, und wie es begründet werden kann.
Fazit
„The world we live in contains an abundance of things, events, processes. There are trees, dogs, sunrises; there are clouds, thunderstorm, divorces; there is justice, beauty, love; there are the lives of peoples, gods, cities, of the entire universe. … Not everybody lives in the same world. … There are different events, not just different appearances of the same events. … Speech is poetry.? (Feyerabend 1999, 104-105)
Die Vielfältigkeit menschlichen Erlebens und der menschlichen Lebensführung ist durch die Vielfältigkeit der Dinge, Ereignisse und Prozesse bedingt, von denen im Zitat des Philosophen Paul K. Feyerabend die Rede ist (das Menschenbild als normatives Sinnbild, vgl. Kratochvila 2011). „Not everybody lives in the same world“ kann als Sprachbild für die Idee verstanden werden, dass Natur und Natürlichkeit bloß Ideen sind, und keine Objekte bzw. objektive Tatsachen. Der ethische Naturalismus kann daher nicht bloß auf die Plausibilität der Natur verweisen, um überzeugend zu sein. Angela Kallhoff legt mit ihrem Buch eine umfassende Auseinandersetzung mit vielfältigen Aspekten naturalistischer Ansätze in der Ethik vor. Durch ihren Zugang und ihre Argumente gelingt es ihr die Aristotelische Ethik in einer Form vorzulegen, die auch Skeptiker zu überzeugen vermag. Das Buch motiviert nicht nur dazu, selbst wieder zu den aristotelischen Schriften zu greifen, sondern liefert auch ein selbststehend kohärentes Bild davon, was es bedeutet ein gutes Leben zu führen. Angela Kalhoff argumentiert lesenswert, „dass gut zu leben bedeutet, gut darin zu sein, ein Mensch zu sein.“ (Kallhoff 2010, 120) Diese individuelle Orientierung am Guten bestimmt auch die gesellschaftlich realisierte Freiheit – „The more a society leaves it up to its members to determine individually the direction of their energies and the specification of their goals, and the more reasonable possibilities it offers them, the more enlightened and humane we consider it.“ (Frankfurt 1993, 108).
Das Buch ist all jenen empfohlen, die sich in Fragen des guten Lebens einen klar argumentierten, lesbaren und überzeugenden Zugang wünschen und erwarten – Angela Kallhoff ist wirklich gut darin, Philosophin zu sein.
Literatur
- Humboldt, W. v. (2008). Schriften zur Sprache. Frankfurt/Main (GER), Zweitausendeins
- Feyerabend, P. K. (1999 [1987]). Farewell to Reason. London (UK) & New York, NY (USA), Verso
- Flöss, H. (2007). Der Hungermaler. Innsbruck (AUT) & Wien (AUT), Haymon Verlag
- Frankfurt, H. G. (2003 [1993]). On the Necessity of Ideals. Necessity, Volition, and Love. H. G. Frankfurt. Cambridge (UK), Cambridge University Press: 108-116
- Kekes, J. (2006). The Enlargement of Life – Moral Imagination at Work. Ithaca, NY (USA) & London (UK), Cornell University Press
- Kratochvila, H. G. (2010). Orientierung im Denken – Rückgriff auf die mittelalterliche Tradition. (www.socialnet.de/rezensionen/9603.php)
- Kratochvila, H. G. (2011). Der Mensch als Projektionsfläche – Menschenbilder als normative Sinnbilder. (www.socialnet.de/rezensionen/10393.php)
- Routledge, C., J. Arndt, et al. (2011). The Past Makes the Present Meaningful: Nostalgia as an Existential Resource. Journal of Personality and Social Psychology 101(3): 638-652
- Schlink, B. (2008). Das Wochenende. Zürich (SUI), Diogenes Verlag
- Sloterdijk, P. (2009). Du mußt Dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag
- Thomä, D. (2007 [1998]). Erzähle dich selbst – Lebensgeschichte als philosophisches Problem. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Taschenbuch Verlag
- Tiberius, V. (2008). The Reflective Life – Living Wisely With Our Limits. New York, NY (USA), Oxford University Press
Rezension von
Mag. Harald G. Kratochvila
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Zitiervorschlag
Harald G. Kratochvila. Rezension vom 12.10.2011 zu:
Angela Kallhoff: Ethischer Naturalismus nach Aristoteles. mentis Verlag
(Paderborn) 2010.
ISBN 978-3-89785-712-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11219.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.
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