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Jan Karski: Mein Bericht an die Welt

Rezensiert von Mag. Harald G. Kratochvila, 08.03.2011

Cover Jan Karski: Mein Bericht an die Welt ISBN 978-3-88897-705-3

Jan Karski: Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund. Verlag Antje Kunstmann GmbH (München) 2011. 528 Seiten. ISBN 978-3-88897-705-3. D: 28,00 EUR, A: 28,60 EUR, CH: 41,90 sFr.

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Der Preis der Unabhängigkeit … Patriotismus, Nationalismus, und Untergrund

„ER: War das notwendig?
SIE: Nein, aber möglich.“ (Schwab 2010, 21)

Die polnische Stadt Warschau liegt ungefähr auf halber Strecke zwischen der russischen Stadt Kaliningrad (ehemals Königsberg) und der ukrainischen Stadt Lwiw (ehemals Lemberg) – es ist viel passiert …

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderes zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere auda! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung … Es ist so bequem unmündig zu sein.“ (Kant 1911, 227) Aufklärung kann sehr viele Formen annehmen – politische Arbeit, militärischer Widerstand und das Schreiben darüber tragen dazu bei, dass Kollektive den unbequemen Weg aus der Ver-leitung anderer nehmen.

Aufklärung zeigt sich vor allem in kleinen, einfachen Dingen - „Es scheint also, dass der Tod und die einfachen Dinge des Lebens zusammengehören. Sie sind, so scheint es, durch einen Unterstrom besorgten Fragens aufeinander verwiesen. Es scheint der Tod zu sein, der, recht bedacht, aus dem Leben für diejenigen, die es jeweils zu leben haben, jeweils mehr macht als bloß eine Abfolge mehr oder minder sinnvoller Episoden. „Recht bedacht“ deshalb, weil es ja immerhin möglich ist, sich beim Gedanken an den eigenen Tod gar nichts zu denken. Erst der Tod, so scheint es, mobilisiert die Frage nach dem Sinn des Lebens. Und erst die Frage nach dem Sinn des Lebens, die mit der Frage nach dem guten leben verzahnt ist, gibt dem Begriff der einfachen Dinge des Lebens eine Bedeutung, die über die Banalität der Feststellung, dass manche Dinge eben einfacher seien als andere, wesentlich hinausreicht.“ (Strasser 2009, 129) Mit dem Tod beginnt vieles - „Im Tod, genauer, in dem Moment, wo wir zu existieren aufhören, gibt es keinen Unterschied – Gaskammer, Massenexekution oder das heimtückische Aufblitzen einer Stahlklinge im Dunkeln, ein Seufzer des Schmerzes oder ein Röcheln und ein unfassbarer Stoß mit dem Messer. Zehntausend Menschen, zehntausend Särge, zehntausend Grabsteine, heeej, zehntausend! Über diesen Tod weiß man alles, oder wir tun heute wenigstens so, als wollten wir alles wissen; wir tun ihrem Tod in den Zeitungsspalten Gewalt an, da wir uns nie nach ihrem Leben fragen. Nichts wissen wir über all diese Menschen, die so wunderbar, gut oder schlecht wie jeder andere waren, nicht mehr und nicht weniger. Wunderbar insofern, als sie Menschen waren. Und insofern, als ich sie kannte.“ (Suljagic 2009, 9) Der Tod Vieler mobilisiert für viele die Frage nach dem Sinn des Lebens – Unterdrückung, Gewalt, Repression – Ecce homo!

Der französische Philosoph Emmanuel Levinas hat einmal in einem Interview gesagt: „Die Realität wiegt schwer, wenn man ihre Kontexte entdeckt. Das ist die phänomenologische Botschaft. Die Deduktion entstammt nicht der bloßen Analyse der Begriffe. Die Dinge begnügen sich nicht damit zu erscheinen, sondern sie liegen in Umständen, die ihnen das Gewicht ihrer Horizonte verleihen. Und dieses Gewicht ist ihr Reichtum. (in Engelmann 1985, 104). Gerade diese Umstände sind es, die den Bericht von Jan Karski so bedrückend machen …

Über Jan Kozielewski alias Jan Karski alias …

Jan Konzielewski wurde am 24. Juni 1914 in der polnischen Stadt Lodz geboren. Nach seinem Doppelstudium aus Rechtswissenschaften und Diplomatie, das er an der Jan-Kazimierz Universität in Lwów (heutiges Lwiw) absolvierte, wechselte er in den polnischen Militärdienst. Im Februar 1938 begann er eine Eliteausbildung für künftige polnische Diplomaten in Warschau. Mit dem Polenfeldzug des Deutschen Reichs im September 1939 änderte sich nicht nur für ihn das Leben dramatisch. „Im Februar 1940 fasste der Unterleutnant Jan Kozielewski (der inzwischen den Decknamen Jan Kanicki angenommen hatte) in Angers im Rahmen seiner ersten Mission, die ihn von Warschau über Budapest nach Paris geführt hatte, für den Premierminister der Polnischen Exilregierung, General Sikorski, seinen Weg seit der Niederlage Polens im September 1939 zusammen: „Gefangenschaft bei den Bolschewiken, ungefähr sechs Wochen, bei Poltawa“, „Austausch“ als einfacher Soldat und Übergabe an die Deutschen, weil gebürtig aus (Litzmannstadt [Lodz], „Gefangener der Deutschen, zehn Tage bei Radom“, Flucht, Leben im Untergrund. „Im Land habe ich politisch gearbeitet. Ich war illegal in Lwów, Lodz, Wilna, Poznan, Lublin, usw. …“ (in Karski 2011, 10-11)

Schattenstaat und Parallelgesellschaft

Durch den Polenfeldzug der Deutschen Wehrmacht im September 1939 hat sich das Leben in Polen dramatisch geändert – die Okkupation wurde brutal und gewaltsam umgesetzt: “In Wirklichkeit gingen in Polen bereits im September 1939 Wehrmacht- und Polizeieinheiten ohne jegliche Rücksicht auf international Konventionen gegen die polnische Zivilbevölkerung vor. Nach Erkenntnissen polnischer Behörden kamen zur Zeit der deutschen Militärverwaltung in Polen (1. September bis 25. Oktober 1939) im Zuge von 760 Exekutionen und anderen gewaltsamen Übergriffen 20100 Zivilisten ums Leben.“ (Conze et al. 2010, 223-224).

Das Buch „Mein Bericht an die Welt“ ist ein Bericht in 33 Kapiteln über die individuellen und kollektiven Bemühungen des polnischen Widerstands bürgerliche Normalität aufrecht zu erhalten, den polnischen Staat so schnell wie möglich wieder zu etablieren und die deutsche Besatzung zu brechen. Jan Karski schildert eindringlich die Organisation und Tätigkeit des polnischen Widerstands – von Sabotage, Denunziation bis hin zu Mord. Es ist eine persönlich gefärbte Schilderung – Jan Karski veröffentlicht dieses Buch noch während des Krieges (1944) und dementsprechend gering ist die Distanz zu dem, was ihm widerfahren ist und was die Widerstandsarbeit an Mitteln erfordert.

Die Etablierung einer derartigen Parallelgesellschaft war auch in anderen Krisenregionen ein probates Mittel für die nationalistisch-patriotischen Kräfte sich gegen die Besatzung – in welcher Form auch immer sie sich manifestierte. In der Stadt Srebrenica und im Kosovo etablierten sich in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts vergleichbare Parallelstrukturen, wie im Polen des 2.Weltkriegs, wobei die Bemühungen der Kosovaren in ihrer Ausprägung doch sehr ähnlich zu denen des polnischen Untergrunds gewesen sind. Klar: Die politische Konstellation dieser drei Beispiele ist nicht zu vergleichen – Polen war bis zum Überfall der Deutschen Wehrmacht ein souveräner Staat und konnte im Untergrund, bzw. im Widerstand auf einen funktionierenden politischen Apparat zurückgreifen. Dennoch – die Organisation einer gesellschaftlichen Normalität im Umfeld brutaler Unterdrückung lief in all diesen Beispielen in bemerkenswert ähnlichen Mustern ab.

Das jüdische Elend

Im Zuge seiner Mission, die polnische Exilregierung in London über die Situation des polnischen Widerstands und der gesellschaftlichen Verhältnisse zu informieren, machte Jan Karski Bekanntschaft mit hochrangigen Vertretern der jüdischen Gemeinschaft in Warschau – bei einem dieser Gespräche notierte er: „Für uns Polen ging es um Krieg und Besatzung. Für sie, die notleidenden polnischen Juden, war es das Ende der Welt. Weder sie noch ihre Brüder hatten auch nur die geringste Chance.“ (Karski 2011, 449). Die Einblicke, die er nach diesem Gespräch bekommen sollte –er ließ sich zweimal in das Warschauer Getto führen und einmal in das Vernichtungslager Izbica Lubelska (In den Fussnoten zum Text finden sich etliche Richtigstellungen der ursprünglichen Angaben von Jan Karski, der an dieser Stelle geschrieben hat, dass er das Lager Belzec besuchte – vgl. Fussnote 8 auf Seite 611).

Zwei Begebenheiten sollen nun in extenso zitiert werden: Zunächst eine „Menschenjagd“ im Warschauer Getto: „“Jetzt bekommen Sie gleich etwas zu sehen. Die „Jagd“. Wenn Sie es nicht mit eigenen Augen sehen, würden Sie es niemals glauben.“ Ich schaute durch den Spalt. Mitten auf der Straße standen zwei Burschen in Uniform der Hitlerjugend. Sie trugen keine Mützen, ihre blonden Haare glänzten in der Sonne … Plötzlich zog der jüngere von ihnen eine Pistole aus der Hosentasche, und mir wurde klar, was ich gleich miterleben würde. Er ließ seinen Blick schweifen, als ob er etwas suchte. Ein Ziel … Ich folgte seinem Blick. Dabei fiel mir auf, dass die Straße um ihn herum wie leergefegt war. Nirgends in Sichtweite dieser blauen Augen war auch nur ein einziges menschliches Wesen zu erkennen. Auf einmal verharrte der Blick des Jungen mit der Pistole auf einem Punkt, der außerhalb meines Blickwinkels lag. Er hob den Arm und visierte sein Ziel sorgfältig an. Dann gab er einen Schuss ab, woraufhin Glas zersplitterte und der Todesschrei eines Mannes zu hören war. Der Junge, der geschossen hatte, jubelte vor Freude …“ (Karski 2011, 463-464).

Und schließlich ein Massaker an jüdischen Gefangenen im Lager Izbica Lubelska: „Der SS-Mann drehte sich zu der Menge um … „Ruhe! Ruhe! Alle Juden steigen jetzt in diesen Zug und werden an einen Ort gebracht, wo Arbeit auf sie wartet. Ruhe bewahren und nicht drängeln. Wer versucht sich zu widersetzen, oder Panik verursacht, wird erschossen. … Plötzlich zog er mit einem lauten, herzhaften Lachen seine Pistole und schoss drei Mal wahllos in die Menge … „Alle Juden raus, raus“! Einen Augenblick verstummte die Menge. Diejenigen, die dem SS-Mann am nächsten standen, zuckten vor den Schüssen zurück und versuchten panisch, sich nach hinten zu schieben. Doch das wurde von der Menge verhindert, die nach einer Salve hinter ihr abgefeuerter Schüsse wie von Sinnen und unter Angst- und Schmerzensschreien nach vorn drängte. Die Schüsse kamen nun pausenlos von hinten und dann auch von den Seiten, kreisten die Menge ein … „Ordnung! Ordnung!“, wiederholten die beiden Polizisten … Getrieben und gelenkt von den Schüssen aus allen Seiten füllten sie rasch die beiden Wagons. Und jetzt kam der furchtbarste Teil des Ganzen. … Ihre Gewehre abwechselnd schwingend und abfeuernd, zwangen die Polizisten immer mehr Menschen in die bereits heillos überfüllten Waggons. Von hinten waren pausenlos Schüsse zu hören, und die so getriebene Menge schob sich vorwärts, wodurch sie einen unaufhaltsamen Druck auf jene ausübte, die sich vorn bei den Waggons befanden. Diese Unglücklichen, wahnsinnig von dem, was sie bereits durchgemacht hatten, gepeinigt von den Polizisten und geschoben von der mahlenden Menge, begannen auf die Köpfe und Schultern derer zu steigen, die sich schon in den Waggons befanden. … Die beiden Waggons waren nunmehr zum Bersten vollgestopft mit dicht gepresstem menschlichem Fleisch, vollständig gefüllt und hermetisch abgeriegelt. … Aber das war noch nicht alles … Die Böden der Waggons waren von einer dicken Schicht weißen Pulvers bedeckt. Das war Ätzkalk. Ätzkalk ist ungelöschter Kalk beziehungsweise dehydriertes Kalziumoxid. … Das feuchte Fleisch, das mit dem Kalk in Berührung kommt, verliert rasch sein Wasser und verbrennt. Die Menschen in den Waggons wurden binnen Kurzem buchstäblich verbrannt, das Fleisch wurde ihnen vom Knochen gefressen. Auf diese Weise sollten die Juden „qualvoll sterben“, wie es Himmler 1942 in Warschau „gemäß dem Willen des Führers „ versichert hatte.“ (Karski 2011, 484-487)

Relativierungen und Anmerkungen

Zwei wesentliche Punkte sollen hier zur Sprache kommen – zum einen die Bedeutung des jüdischen Elends für die polnische Untergrundbewegung, die sich für eine freies Polen einsetzte und zum anderen die (historische) Perspektive von Jan Karski.

Am 17.Dezember 1942 verlas der polnische Außenminister Edward Raczynzki einen Bericht auf BBC – ein Bericht, der sich zu einem großen Teil aus den Informationen speiste, die Jan Karski der polnischen Exilregierung in London übermittelte: „Ich möchte ihnen die Realität dieser Tragödie begreiflich machen, die sich nicht sehr fern von dieser Insel auf dem europäischen Kontinent abspielt – auf polnischem Gebiet … Die polnische Regierung hat den Regierungen der Vereinten Nationen zuverlässige Informationen über den Massenmord nicht nur an jüdischen Einwohnern übermittelt, die den Deutschen in Polen in die Hände fielen, sondern auch an Hunderttausenden von Juden, die aus anderen Ländern deportiert und in Gettos eingesperrt wurden, die der Besatzer in meinem Land errichtet hat … Nach den Berichten, die sich im Besitz der polnischen Regierung befinden, wurden ein Drittel der drei Millionen einhundertdreißigtausend polnischen Juden bereits vernichtet.“ (in Karski 2011, ohne Seitenangabe im Bildteil). Nimmt man das Buch von Jan Karski als Referenz der Bemühungen des polnischen Widerstandes, dann sieht man ganz klar, dass das jüdische Elend für den polnischen Untergrund nur eine nebensächliche Bedeutung hatte. Von den insgesamt 33 Kapiteln des Buches, sind zwei Kapitel dem jüdischen Elend gewidmet – „Das Getto“ und „Letzte Etappe“. Auf die jüdische Widerstandsbewegung wird nur wenigen Stellen hingewiesen (z.B. als ein Angehöriger einer jüdischen Widerstandszelle Jan Karski über die russisch-deutsche Grenze (inmitten von Polen) geschmuggelt hat – an dieser Stelle erwähnt Jan Karski auch zum ersten Mal den Massenterror gegen die Juden). (Karski 2011, 150). Bei der Schilderung seiner Zeit als Gefangener der Gestapo notiert Jan Karski einen Dialog mit einem deutschen SS-Offizier, der ihm die Position des Führers erklärte: „Wir wollen niemandem etwas zu leide tun … Außer den Juden natürlich. Die müssen vernichtet werden. Das ist der Wille des Führers.“ (Karski 2011, 241). Es liegt die Einschätzung nahe, dass der polnische Widerstand versucht hat, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, Aufmerksamkeit für die eigenen Bemühungen zu bekommen – die jüdische Sache mag geholfen haben – von großer Bedeutung für das eigene Tun, war sie nicht. Das zeigt auch, dass in „Mein Bericht an die Welt“ kein Wort über die polnische Beteiligung an der Vertreibung und Vernichtung der Juden thematisiert wird: „Few if any narratives in contemporary European history are as fractured as that of Polish-Jewish relations in the Second World War. The ’Polish“ side portrays Poles and Jews as equals in victimhood, admitting at best to a differing sequence in destruction: Jews first, Poles second. According to this version, Poles, deprived of state and army, hunted and starved, had no real opportunities to assist those scheduled to die first. Nevertheless, a substantial number did attempt to rescue Jews, at great personal risk, thus testifying to Poles“ basic sympathy for their Jewish neighbours. If antisemitism has little to no place in this ’Polish“ account, the ’Jewish“ counterpart finds it pervasive: in this view, Poles conspired with Nazi occupiers to identify, ghettoise, rob, and in many cases kill, Jews. During and after the war Poles shamelessly helped themselves to the possessions of their murdered neighbours, and then posed as Hitler„s ’first victims“, counting Polish Jews as Poles where convenient (for example in the figure of six million ’Polish citizens“ killed, half of whom were Jews).” (Connelly 2002, 641)

Jan Karski hat ein Buch geschrieben, dass Selbstreflexion und Selbstdistanzierung missen lässt - Am 13. Mai 1994, zum Anlass seiner Verleihung der israelischen Ehrenbürgerschaft sprach Jan Karski: “Möge Gott uns allen die Kraft geben, Fanatismus, Hass, Rassismus, Antisemitismus, religiöse Intoleranz und Bigotterie zu überwinden” (in Karski 2011, ohne Seitenangabe im Bildteil). In „Mein Bericht an die Welt“ finden sich an vielen Stellen Belege für Fanatismus, Hass und Ressentiments – nicht nur auf deutscher Seite – der polnische Widerstand musste bei der Bekämpfung der deutschen Gewaltherrschaft auch auf solche Ideologien zurückgreifen – Jan Karski beschreibt sich selbst als fanatischer Widerstandskämpfer, der dabei auch über Leichen geht, da die Befreiung Polens auf dem Spiel steht. Seine Beschreibung der Deutschen ist von Ressentiments durchzogen und sein Hass auf die Deutschen, verstellt ihm an vielen Stellen den Blick auf das Elend und das Leid auf der anderen Seite – der Krieg ist ein schmutziges Geschäft, das niemanden sauber zurück lässt.

Diskussion

Der Bericht an die Welt ist vor allem ein Bericht eines polnischen Untergrundaktivisten, der über die Bemühungen der polnischen Exilregierung und der polnischen Untergrundbewegung schreibt. Es geht dabei um „die Pläne des Untergrunds für den zukünftigen Aufbau des polnischen Staats und den all unseren Kämpfern gemeinsamen innigen Wunsch, Polen in eine echte, unerschütterliche Demokratie zu verwandeln, die jedem Einwohner soziale Gerechtigkeit und Freiheit gewährt.“ (Karski 2011, 529). Eine sehr persönliche Darstellung, die sehr viele eindrückliche Schilderungen enthält. Das Hauptziel dieses Berichts ist verständlicherweise (und in der historischen Situation auch legitimer weise) eine Form der Propaganda – der Bericht an die Welt soll vier wichtige Punkte publik machen: Erstens, dass „die polnische Widerstandsbewegung … nicht nur eine Streitmacht gegen die Besatzer [ist], sondern auch ein normaler Staat mit allen Attributen, mit der Autorität, den Institutionen und dem Apparat eines demokratischen Staates.“ Zweitens, dass die Exilregierung, „die den Rückhalt der ganzen Gesellschaft besitzt“ ihren Sitz in London hat. Drittens, dass der polnische Staat der einzige Staat ist, der sich auf keinerlei Kooperation mit den Deutschen eingelassen und die Alliierten zu keiner Zeit verraten hat. Viertens, dass Demokratie, Freiheit und Fortschritt für die polnische Nachkriegsordnung verwirklicht werden sollen. (Karski 2011, 21). Das Buch liefert Einblicke in die Untergrundarbeit – Propaganda, Guerilla-Taktik, Denunziation, Tötungen, Einschüchterungen, aber auch in den Aufbau einer Widerstandsbewegung, die Aufrechterhaltung eines Schattenstaates, die Weiterführung eines (polnischen) Schulsystems, usw. Auch die Widerstandsbewegung nimmt unschuldige Opfer in Kauf – und Jan Karski verweist dabei mehr als nur einmal auf „höhere Gewalt“: „Du denkst, dass wir über derartigen Tricks stehen sollten. Aber Du musst auch unsere Lage bedenken … Wir können die Struktur der Nazis nur durch solche Hinterlist zerschlagen. Ansonsten haben wir keine Chance gegen sie … Und außerdem sind das meine Befehle.“ (Karski 2011, 312). Diese Tricks reichen von der Infektion deutscher Soldaten mit Syphilis durch polnische Prostituierte, der Denunziation polnischer Kollaborateure bei der Wehrmacht (Bittgesuche für den Fronteinsatz usw.).

Das Buch ist daher eher von Selbststilisierung als von kritischer Distanz geprägt.

Wie auch immer – bei Sören Kierkegaard liest man den Satz: „Das Sündenbewußtsein, tief und erst ausgeprägt im Ausdruck der Reue, ist eine große Seltenheit … Lebt nicht jeder Mensch wesentlich in der Teilhabe am Absoluten, dann ist alles verloren.“ (Kierkegaard 1991, 105). Das Buch von Jan Karski zeigt, dass sich dieses Absolute in sehr unterschiedlichen Ausprägungen zeigen kann und dass der Widerstand gegen Gewaltherrschaft nur zum Teil selbst auf Gewalt verzichten kann.

Dennoch: Jan Karski ist ein wichtiger Zeitzeuge, eine wichtige Stimme gegen das Vergessen: „Es ist zwar richtig, daß totalitäre Herrschaft versucht, alle Taten, gute und böse, in der Versenkung des Vergessens verschwinden zu lassen. Aber genauso wie die fieberhaften Versuche der Nazis vom Juni 1942 an, alle Spuren der Massaker zu beseitigen – durch Kremierung, durch Verbrennung in offenen Gruben, durch Sprengungen, Flammenwerfer und Knochenmahlmaschinen - , zum Scheitern verurteilt waren, so waren auch alle Anstrengungen, ihre Gegner „in stummer Anonymität verschwinden“ zu lassen, vergebens. So tief ist keine Versenkung, daß alle Spuren vernichtet werden könnten, nichts Menschliches ist so vollkommen; dazu gibt es zu viele Menschen auf der Welt, um Vergessen endgültig zu machen. Einer wird immer bleiben, um die Geschichte zu erzählen. Deshalb kann auch nichts jemals „praktisch“ nutzlos sein, jedenfalls nicht auf Dauer.“ (Arendt 2009, 346). Sein Bericht verdeutlichen eine anthropologische Konstante „– die menschlichen Denk- und Handlungsweisen während des Krieges enden in ihrer Wirksamkeit nicht mit dem Kriegsende – sie schlagen sich im „Erfahrungs- und Denkpotential“ (Gaby Zipfel) einer Gesellschaft nieder, und werden von Generation zu Generation tradiert.“ (Kratochvila 2010)

Fazit

Der Verlag tat gut daran, dieses Buch nun erstmals auf Deutsch vorzulegen – die Grausamkeit des Krieges, das Leid und die Entbehrungen, und die Bemühungen, sich dagegen aufzulehnen können jede Stimme brauchen, um nicht vergessen zu werden (www.zeitzeugengeschichte.de). Um die Spange zu schließen – „Es ist so bequem unmündig zu sein“, heißt es bei Immanuel Kant – die polnischen Bemühungen den deutschen Usurpatoren Widerstand zu leisten waren alles andere als bequem. Zu behaupten: „Zeitgeschichte, die sich wie ein Kriminalroman liest“, wie es im Klappentext steht, ist eine Geschmacklosigkeit – die Realität des Elends, des Grauens und der Gewalt in einen fiktionalen Rahmen zu stellen (Kriminalroman), wird den Entbehrungen, dem Leid, der Gewalt und der menschlichen Grausamkeit, die Jan Karski beschreibt, nicht im entferntesten gerecht. Aufklärung heißt auch – sich dem Unbequemen zu stellen …

Literatur

  • Arendt, H. (2009 [1963]). Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München (GER) & Zürich (SUI), Piper Verlag
  • Connelly, J. (2002). "Poles and Jews in the Second World War: the Revisions of Jan T. Gross." Contemporary European History 11(4): 641-658
  • Conze, E., N. Frei, et al. (2010). Das Amt und die Vergangenheit - Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München (GER), Karl Blessing Verlag
  • Engelmann, P., Ed. (1985 [1984]). Philosophien. Edition Passagen. Graz (AUT) & Wien (AUT), Böhlau
  • Kant, I. (1911 [1784]). Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Kants Populäre Schriften. P. Menzer. Berlin (GER), Georg Reimer: 225-236
  • Kierkegaard, S. (1991 [1844]). Der Begriff Angst. Eine simple psychologisch-hinweisende Erörterung in Richtung des dogmatischen Problems der Erbsünde. Hamburg (GER), Europäische Verlagsanstalt (EVA)
  • Kratochvila, H. G. (2010). "„Nichts Menschliches ist mir fremd …“ – Zur Banalität der Grausamkeit." (www.socialnet.de/rezensionen/9652.php)
  • Rathfelder, E. (2010). Kosovo - Geschichte eines Konflikts. Berlin (GER), Suhrkamp Verlag
  • Schwab, W. (2010 [1992]). OFFENE GRUBEN OFFENE FENSTER EIN FALL von Ersprechen. „Königskomödien.“ W. Schwab. Graz (AUT) & Wien (AUT), Literaturverlag Droschl: 5-64
  • Strasser, P. (2009). Die einfachen Dinge des Lebens. München (GER), Wilhelm Fink Verlag
  • Suljagic, E. (2009 [2005]). Srebrenica - Notizen aus der Hölle. Wien (AUT), Paul Zsolnay Verlag

Rezension von
Mag. Harald G. Kratochvila
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Es gibt 57 Rezensionen von Harald G. Kratochvila.

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Zitiervorschlag
Harald G. Kratochvila. Rezension vom 08.03.2011 zu: Jan Karski: Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund. Verlag Antje Kunstmann GmbH (München) 2011. ISBN 978-3-88897-705-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11232.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.


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