Jürgen Boeckh, Ernst-Ulrich Huster u.a.: Sozialpolitik in Deutschland
Rezensiert von Prof. Dr. Walter Wangler, 28.04.2011

Jürgen Boeckh, Ernst-Ulrich Huster, Benjamin Benz: Sozialpolitik in Deutschland. Eine systematische Einführung.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2011.
3., grundlegend überarbeitete und erweiterte Auflage.
489 Seiten.
ISBN 978-3-531-16669-8.
22,95 EUR.
Reihe: Lehrbuch
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-658-13694-9 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Autoren
Die Autoren sind Professoren für Politikwissenschaft. Boeckh lehrt an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wolfenbüttel, Benz an der Evangelischen Hochschule Freiburg, Huster an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum sowie (als Privatdozent) an der Universität Gießen. Boeckh und Benz haben zu Beginn ihrer akademischen Laufbahn Sozialarbeit, Huster hat Politikwissenschaft und Germanistik studiert.
Aufbau
Das Buch umfasst 434 Seiten Lesetext. Im Wesentlichen werden fünf Themenbereiche behandelt:
- Geschichte der deutschen Sozialpolitik (ca. 110 Seiten)
- Prinzipien, Rahmenbedingungen, Wirkungen und Trends der deutschen Sozialpolitik (ca. 60 Seiten)
- Problemlagen und Sicherungssysteme der Sozialpolitik in Deutschland (ca. 180 Seiten)
- Europäische Sozialpolitik (ca. 50 Seiten)
- Sozialpolitik im Sozialstaat: Zum theoretischen Zusammenhang zwischen Staatlichkeit und sozialpolitischer Intervention (ca. 25 Seiten).
Ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Personenverzeichnis schließen sich an.
Inhalt
Etwa ein Viertel des Buches ist der
Historie, also der Entstehung und Entwicklung der
Sozialpolitik in Deutschland, gewidmet. Von der Nürnberger
Bettelordnung um 1370, über Luthers Feststellung „Es
ist genug, dass die Armen … nicht Hungers sterben noch
erfrieren. Es gehört sich nicht, dass einer auf des anderen
Arbeit hin müßig gehe“ bis zum Elberfelder Modell
von 1852 werden zunächst Etappen einer - gerade das
Überlebensnotwendige garantierenden - kommunalen Armenfürsorge
nachgezeichnet. Die Repräsentanten einer sich konstituierenden
Arbeiterbewegung (Weitling, Born) werden ebenso gewürdigt wie
die dem Bürgertum entstammenden späteren Leitfiguren des
Proletariats (Lassalle, Engels und Marx). Besonders
hervorgehoben werden in dem Buch neben Pionieren betrieblicher
Sozialpolitik wie Krupp, Harkort, Bosch und Stumm
(Ernst Abbe fehlt), konfessionelle Sozialreformer wie Wichern,
Ketteler und Kolping. Der Papst-Sozialenzyklika „rerum
novarum“ von 1891 wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
In dem Jahr der Verkündung dieses ersten päpstlichen
Rundschreibens zur „sozialen Frage“ war die - wesentlich
patriarchal-feudalem Gedankengut entstammende - Bismarcksche
Sozialpolitik bereits vollendet. Die wesentlichen Inhalte der
zwischen 1883 und 1889 verabschiedeten Sozialversicherungsgesetze
werden in dem Buch vorgestellt. Es wird auch deutlich, dass die
konservativen „Kathedersozialisten“ um Gustav
Schmoller an der Sozialreform einen größeren Anteil
hatten als die sich anfänglich zierende, ja ablehnend
verhaltende Sozialdemokratie.
Die Konsolidierung und
Weiterentwicklung der Sozialpolitik in der Weimarer Republik fand
dann aber nicht nur mit Billigung, sondern unter - zumindest
anfänglicher - Federführung der SPD statt. Es folgte 1933
die „völkische“ Sozialpolitik des Dritten Reiches.
Und obwohl letzteres das soziale Sicherungssystem im Kern erhielt,
sogar ausbaute, weigern sich die Autoren, das Dritte Reich mit seiner
Verfolgung und Diskriminierung von Minderheiten und sozial Schwachen
einen Sozialstaat zu nennen. Und dies mit durchaus nachvollziehbaren,
gescheiten Begründungen.
Die Sozialpolitik der
Bundesrepublik wird anschließend vorgestellt und kritisch
gewürdigt, von der sozialrechtlichen Aufarbeitung der
Kriegsfolgen über die Jahrhundertreform der Rentengesetzgebung
1957 bis zur, so die Autoren, „widersprüchlichen
Sozialpolitik“ der letzten Jahrzehnte. In einem Exkurs
(„Sozialpolitik in der DDR“) wird das Sozialrechtssystem
im zweiten deutschen Teilstaat (allzu)kurz gestreift.
Der zweite größere Abschnitt
des Buches, der Prinzipien, Rahmenbedingungen, Wirkungen und
Trends deutscher Sozialpolitik behandelt, ist - nach dem eher
beschreibenden ersten Teil - mehr theoretischer Natur. Als
Grundnormen der Sozialpolitik werden Eigenverantwortung,
Solidarität und Subsidiarität genannt und zunächst in
ihrem ideengeschichtlichen Zusammenhang vorgestellt (Rousseau,
Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung, katholische Soziallehre,
Nell-Breuning, Quadragesimo anno). Die wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen der Sozialpolitik haben sich nach Auffassung
der Autoren in den letzten Jahrzehnten fundamental geändert:
„die vormalige Koppelung der Sozialpolitik an eine
expandierende Ökonomie“ habe sich ins Gegenteil verkehrt,
„so dass trotz allgemeiner Wohlstandsmehrung letztlich für
den Umverteilungsprozess weniger zur Verfügung“ stehe. Zu
den Rahmenbedingungen gehörten auch die demografische
Entwicklung sowie die Gestaltungsformen, in denen Sozialpolitik
auftritt: Versicherung, Versorgung oder Fürsorge. Die Verfasser
erklären die Unterschiede und erläutern in diesem
Zusammenhang auch das Kausalitäts- und Finalprinzip.
Sozialpolitik, so wird bezüglich ihrer Wirkungen
ausgeführt, habe die Funktion der Kompensation, Konstitution und
Prävention. Kompensation bedeute, dass der Ausfall von Quellen,
die der Existenzerhaltung dienten, kompensiert werde, Konstitution
meine, dass - eine von Marktliberalen gewiss nicht geteilte
Auffassung - das bestehende Wirtschaftssystem auf Sozialpolitik
angewiesen sei, auch davon profitiere (z. B. sichere der
Kinderarbeitsschutz gesunde, arbeitsfähige Erwachsene). Man
könne deshalb auch von einer „Produktivitätsfunktion“
der Sozialpolitik sprechen. Die Autoren geben einen ersten Überblick
über das soziale Sicherungssystem, behandeln Finanzierung,
Organisation und Trägerschaft der sozialen Sicherung. Ein
Kapitel über die Verteilungswirkung von Sozialpolitik, über
Umverteilung, Vorstellungen von Gerechtigkeit und die Rolle der
Geschlechter schließt sich an.
Die Autoren sehen
einen Trend in der deutschen Sozialpolitik dergestalt, dass
das Solidaritätsprinzip gegenüber dem Prinzip der
Eigenverantwortung ins Hintertreffen gerät. Alle Zweige der
Sozialpolitik, die nicht unmittelbar oder mittelbar mit Erwerbsarbeit
und letztlich mit wirtschaftlichem Wachstum zu tun hätten,
verlören an Bedeutung und Gewicht.
Der dritte größere Abschnitt
des Buches behandelt die sozialen Sicherungssysteme und ihre
Problemlagen im Einzelnen. Er ist gleichzeitig der umfangreichste
Teil des Buches. Als „zentrale Problembereiche“ werden
Arbeit und Arbeitsschutz, Einkommen, Familie und Haushalt, Gesundheit
und Pflege sowie Alter behandelt. Es wird deutlich, dass trotz aller
Diskussionen über die „Krise der Erwerbsarbeit“ die
abhängige Beschäftigung, die soziale Sicherheit begründet
und prägt, noch immer das überragende Merkmal unserer
Wirtschaftsgesellschaft darstellt: 2008 befanden sich über 88
Prozent aller Erwerbstätigen in einer abhängigen
Beschäftigung. Deutlich wird allerdings auch, dass in einer
globalen Wirtschaft die Möglichkeit, über korporatistische
Vereinbarungen Einfluss auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten
zu nehmen zu nehmen, immer mehr schrumpft.
Dieser Teil des
Buches ist dadurch geprägt, dass zu den einzelnen Bereichen
zunächst soziologische Basisinformationen geliefert werden,
denen die entsprechenden sozialrechtlichen Regelungen folgen. So
erhält der Leser nicht nur Informationen über unser
soziales Sicherungssystem, sondern erfährt auch, auf welche
Problemlagen dieses reagiert und wie die soziale Realität
ihrerseits von der sozialen Sicherungspolitik beeinflusst wird. Im
Bereich der Arbeit werden Arbeitslosigkeit,
Arbeitslosenversicherung und Arbeitsschutz behandelt, im Bereich der
Einkommen Steuerpolitik, Umverteilung, Armut und
soziale Ausgrenzung, Mindest- und Grundsicherung, Sozialhilfe und
Arbeitslosengeld II sowie Sozialgeld. Im Zusammenhang mit dem Bereich
Familie und Haushalt wird zunächst auf den
Bedeutungswandel der Familie eingegangen, danach werden
familienspezifische Sozialleistungen vorgestellt. Auch das Wohngeld
sowie die Kinder- und Jugendhilfeleistungen bis hin zum
Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz finden Erwähnung.
Nach dem gleichen Schema werden die Bereiche Gesundheit und Pflege sowie Alter abgehandelt: auf soziologische Basisinformationen folgen die entsprechenden sozialrechtlichen Regelungen, verbunden mit einem kritischen Ausblick. Was die Krankenversicherung angeht, so kommen die Autoren zu dem Schluss, dass „Reformansätze zukünftig weniger darauf abzielen (sollten), das Sachleistungs- und Solidarprinzip stärker aufzuweichen“ als vielmehr „die Steuerungskompetenzen der Krankenkassen als Kontrollinstanz zu schärfen“. Im Problembereich Alter werfen die Autoren der Rentenpolitik „Kurzatmigkeit“ vor und kritisieren deren Focussierung auf die private Absicherung als dritte Säule der Altersvorsorge. Es sei „Skepsis angesagt, ob die aktuelle Rentenpolitik mit der Stärkung der dritten Säule wirklich dauerhaft die Altersvorsorge sichern kann“.
Die beiden abschließenden Kapitel befassen sich mit den Chancen und Risiken einer Europäischen Sozialpolitik, also einer Sozialpolitik im „europäischen Mehrebenensystem“, wie es die Autoren ausdrücken und schließlich mit der Frage, wo systematisch Grenzen von Sozialpolitik und Sozialstaatlichkeit zu bestimmen sind. Von Eugen Gerstenmaier über Milton Friedman, Anthony Giddens, Sachße, Tennstedt und dem allseits bekannten Robert Nozick (1938-2002) bis zu Steinbrück und Westerwelle reicht die Phalanx derer, die, wie das Buch dokumentiert, die Frage nach den Grenzen des Sozialstaats umtreibt. Im Schlusskapitel wird von den Autoren auch der historische Faden des Beginns wieder aufgenommen: mit Locke, Kant, Hegel, Fichte, ein weiteres Mal Lassalle, John Stuart Mills, Max Weber, Hermann Heller, Eduard Heimann, Popper, Hayek usw. usf. werden Autoren vorgestellt, die auch am Anfang des Buches nicht fehl am Platze gewesen wären.
Diskussion
Das im Großen und Ganzen informative Buch hat drei Schwachstellen. Es hat erstens, entgegen seinem Anspruch, eine „systematische Einführung“ zu liefern, systematische Schwächen. So überlappen sich nicht nur, wie zuletzt erwähnt, Inhalte am Anfang und am Schluss, sondern auch in den dazwischen liegenden Hauptkapiteln. Hier hat offenbar eine Kooperation und Koordination zwischen den Autoren gefehlt, ein Gesamtverantwortlicher hätte die Korrektur übernehmen müssen.Das Buch ist zweitens stellenweise überfrachtet mit Material, die Lektüre ist manchmal mühsam. Vor allem wird das Wesentliche oft nicht sichtbar, verschwindet hinter einer Fülle von weniger wichtigen Informationen. Und schließlich lässt bisweilen auch die Sprache zu wünschen übrig. Der erste Satz des historischen Teils z. B. lautet: „Politik setzt über soziale Bewegungen und Institutionen eine Kraft voraus, die diese bestimmen, betreiben, kontrollieren und auch verändern kann“ - zumindest dem Rezensenten ist der Sinn dieses Satzes unklar. Weitere Beispiele, allesamt noch von der gleichen Seite: „Hinzu kamen neue Formen des Wirtschaftens mit dem Ausbau des zwar schon bekannten Mediums Gold zu einer systematischen Geldwirtschaft. Die Entdeckung Amerikas, die dort erfolgende Ausplünderung der Ureinwohner und der Transfer der erbeuteten Gold- und Silberbestände forcierten Quantität und Qualität dieser Anhäufung von neuen Kapitalbeständen, die die Grundlage für weitere wirtschaftliche Neuerungen und Umwälzungen darstellten“ – nein, Sprachgenies sind die Autoren gewiss nicht.
Schließlich scheint den Verfassern ihr kirchlicher Hintergrund auch den kritischen Blick auf die eine oder andere kirchliche Verlautbarung getrübt zu haben. „Rerum novarum“ zum Beispiel verdient im Zusammenhang mit der sich konstituierenden Sozialpolitik durchaus lobende Erwähnung - aber nicht ohne Hinweis auf die schroffe Ablehnung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften seitens des Papstes.
Fazit
Trotz einzelner Kritikpunkte eine informative, materialreiche, aktuelle. Einführung in die Sozialpolitik. Besonders hervorzuheben ist der historische und ideengeschichtliche Bezug.
Rezension von
Prof. Dr. Walter Wangler
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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Zitiervorschlag
Walter Wangler. Rezension vom 28.04.2011 zu:
Jürgen Boeckh, Ernst-Ulrich Huster, Benjamin Benz: Sozialpolitik in Deutschland. Eine systematische Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2011. 3., grundlegend überarbeitete und erweiterte Auflage.
ISBN 978-3-531-16669-8.
Reihe: Lehrbuch.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11236.php, Datum des Zugriffs 17.08.2022.
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