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Klaus Ahlheim, Matthias Heyl (Hrsg.): Adorno revisited

Rezensiert von Johannes Jöhnck, 11.04.2011

Cover Klaus Ahlheim, Matthias Heyl (Hrsg.): Adorno revisited ISBN 978-3-930345-89-2

Klaus Ahlheim, Matthias Heyl (Hrsg.): Adorno revisited. Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur Mündigkeit heute. Offizin (Hannover) 2010. 157 Seiten. ISBN 978-3-930345-89-2. 13,80 EUR. CH: 20,70 sFr.
Reihe: Kritische Beiträge zur Bildungswissenschaft - Band 3.

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Thema

Die Vorträge Theodor W. Adornos „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ und „Erziehung nach Auschwitz“ sowie sein Gespräch mit Hellmut Becker zu Ansprüchen, Möglichkeiten und Problemen einer „Erziehung zur Mündigkeit“ standen im Mittelpunkt des Ravensbrücker Kolloquiums „Adorno revisited“, welches im Winter 2009 stattfand. Die im vorliegenden Buch zu findenden Beiträge, die auf jene Texte von und mit Adorno Bezug nehmen, gehen auf Referate und Wortmeldungen bei diesem Kolloquium zurück. In den Beiträgen wird die Auffassung vertreten, dass der ‚pädagogische Adorno‘ immer noch aktuell sei.

Herausgeber

Klaus Ahlheim, Jg. 1942, lehrte bis 2007 politische Erwachsenenbildung an der Universität Duisburg-Essen. Matthias Heyl, Jg. 1965, ist Leiter der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Ravensbrück und der Pädagogischen Dienste der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.

Aufbau

Nach einem kurzen Vorwort der Herausgeber folgen 5 Beiträge. Das Buch wird abgerundet mit einem Gesamt-Verzeichnis der Literatur, auf welche die AutorInnen in den Beiträgen Bezug nehmen. Jene Beiträge im Einzelnen:

Wolfgang Kraushaar: Adorno, die antisemitische Welle (1959/60) und ihre Folgen, S. 9-37. Klaus Ahlheim: Theodor W. Adornos »Erziehung nach Auschwitz« – Rezeption und Aktualität, S. 38-55.
Rose Ahlheim: »So hat Erziehung auf die frühe Kindheit sich zu konzentrieren«. Autorität, Familie und die Rolle des Vaters, S. 56-88.
Matthias Heyl: Erziehung nach Auschwitz – Bildung nach Ravensbrück. Historisch-politische Bildung zur Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen, S. 89-125.
Astrid Messerschmidt: Widersprüche der Mündigkeit – Anknüpfungen an Adornos und Beckers Gespräch zu einer »Erziehung zur Mündigkeit« unter aktuellen Bedingungen neoliberaler Bildungsreformen, S. 126-147.

Inhalt

Die AutorInnen liefern Impulse für die Auseinandersetzung mit den Texten von und mit Adorno, wobei die Herangehensweisen teilweise deutlich heterogen sind.

  • Wolfgang Kraushaar liefert eine Chronik der antisemitischen Welle von 1959/60 und ihrer Folgen. Aufhänger hierfür ist der Kommentar Adornos, dass er „das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie“ ansehe. In der Schlussbetrachtung resümiert Kraushaar, dass die „Bekämpfung […] des Nachlebens ‚faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie‘ wichtiger und auch erfolgreicher gewesen“ sei „als die ‚des Nationalsozialismus in der Demokratie‘“ (S. 37). Der Autor geht zwar – wie man insbesondere anhand des genannten Aufhängers sehen kann – in seinem Text immer wieder kritisch auf Adornos Denken bzw. auf von der Kritischen Theorie geprägte, politische Akteure ein, dies jedoch wenig vertiefend.
  • Eine erste, umfassendere Einführung in Adornos Denken und dessen pädagogische Seiten liefert Klaus Ahlheim. Dieser argumentiert, der ‚pädagogische Adorno‘, der nicht trivialisiert werden dürfe [„Der pädagogische Adorno und seine Rezeption, das ist eben kein Verrat am philosophischen“ (S. 43)], sei das Gegenprogramm zum aktuellen bildungspolitischen und erziehungswissenschaftlichen Mainstream, zumal, da er das Wettbewerbsprinzip und die Zurichtung auf das ökonomisch Nützliche scharf kritisiert habe. Ahlheim thematisiert die Felder, Aufgaben und Ansatzpunkte einer „Erziehung nach Auschwitz“, wie Adorno sie vorschwebten. Mit Adorno umkreist Ahlheim „die besondere Bedeutung gewaltfreier, liebevoller und akzeptierender familialer Sozialisation und Erziehungsstile für die Entwicklung liberaler und vorurteilsfreier Einstellungen“ (S. 47), die Ahlheim selbst (zusammen mit Bardo Heger) habe belegen können. Doch der ‚pädagogische Adorno‘ sei tief skeptisch geblieben, „ein vorsichtiger, zweifelnder Realist, aber einer, der nicht aufgibt“ (S. 52).
  • Rose Ahlheim liefert eine psychoanalytisch fundierte Sekundäranalyse zweier Interviews mit gewaltbereiten jungen Männern, die an den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen von 1992 beteiligt waren. Dabei demonstriert sie die „Brauchbarkeit“ (S. 60) des Konzepts des „autoritären Charakters“, wie es Adorno und seine Co-Autoren (insbesondere im Anschluss an Erich Fromm) entwickelt haben. Ahlheim fragt: „Wie brauchbar ist das Autoritarismus-Konzept, um die Einstellungen und Handlungen dieser beiden jungen Männer zu verstehen?“ (S. 62) Während „Jörg“, der insbesondere an seinem gewalttätigen Vater leidet, geradezu als „Lehrbeispiel“ (S. 74) des „autoritären Charakters“ gelten könne, ist doch auch „Peter“, in dessen Sozialisation der Vater fern war, autoritär strukturiert.
  • Matthias Heyl versucht mithilfe Adornos in seinem facettenreichen Aufsatz, Kategorien für eine weiterführende Debatte um konkrete Inhalte, Ziele und Methoden einer Gedenkstättenpädagogik zu entwickeln bzw. zu schärfen, Gedenkstättenpädagogik mit Adorno zu überdenken. Im Aufsatz finden u.a. Überlegungen zum Begriff der „Erinnerungskultur“ (S. 91 ff.), zum Thema „Trauern und Gedenken“ (S. 98 ff.), zu „Multiperspektivität und Subjektorientierung“ (S. 110 ff.) und zu einer „mehrfache[n] ‚Wendung aufs Subjekt‘“ (S. 118 ff.) in der historisch-politischen Bildung über die Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen, speziell in der gedenkstättenpädagogischen Arbeit, Platz.
  • Astrid Messerschmidt zeichnet bildungstheoretische Motive des o.g. Gesprächs zwischen Adorno und Becker nach und reflektiert das darin aufscheinende Verständnis von Mündigkeit. Hier wird insbesondere auf den dialektischen Gedanken Adornos hingewiesen, „dass die Voraussetzungen der Mündigkeit ‚von der Unfreiheit der Gesellschaft determiniert‘ sind“ (S. 128). „Adornos ganze Sorge gilt der Einzigartigkeit des Einzelnen, dem Einspruch gegen den Identitätszwang – und erst in diesem Einspruch würde sich Mündigkeit realisieren“ (S. 130), so Messerschmidt. Anschließend wird dem Versuch nachgegangen, „mit dem Widerspruchsgedanken kritischer Bildungstheorie aktuelle Bedingungen von Mündigkeit im Kontext neoliberaler Vergesellschaftung auszuloten“ (S. 126). Mit Blick sowohl auf „Gernot Koneffkes Kritik bürgerlicher Mündigkeit“ (S. 132) als auch auf „Heydorns widersprüchliche Bildungskonzeption“ (S. 136) sowie in Bezugnahme auf „Beobachtungen aus der Erwachsenenbildung“ (S. 141) beschreibt Messerschmidt hier die „Vereinnahmungen von Autonomie zugunsten eines aktivierten unternehmerischen Selbst, das seine eigene Verwertung optimal betreibt“ (S. 128 f.).

Diskussion

Während Kraushaar eine eher ambivalente Haltung gegenüber dem Denken Adornos einnimmt – die etwa dann fraglich wird, wenn er ein vermeintlich „bloß kritische[s] Denken“ (S.37) der Kritischen Theoretiker problematisiert, ohne dabei jedoch in die Komplexität der Auseinandersetzung zumal Adornos mit dem Theorie-Praxis-Problem vorzudringen –, zeitigt seine um Objektivität bemühte Darstellung des zeitlichen Geschehens in der noch jungen Bundesrepublik durchaus fruchtbare Ergebnisse, sofern der Leser die damalige Atmosphäre rund um die antisemitische Welle von 1959/60 plastisch vor Augen geführt bekommt. Auffällig ist, dass Kraushaar „angesichts der marxistischen Verklammerung von Ökonomie- und Gesellschaftskritik nicht nur Gedanken der Anerkennung und Würdigung durch den Kopf“ (S. 10 f.) schießen, und damit tendenziell von den anderen AutorInnen des Bandes „Adorno revisited“ abweicht, etwa von Klaus Ahlheim, der Adornos „Frage nach der zerstörenden Qualität kapitalistischer Gesellschaften“ (S. 55) positiv hervorhebt. Klaus Ahlheim ist es nun auch, der eine gute Möglichkeit verschafft, sich Adornos Denken stärker anzunähern und ferner seine Aktualität besser zu begreifen. In diesem letztgenannten Aspekt bekommt er zumal von Astrid Messerschmidt Unterstützung, die Adornos (und Beckers) Vorstellungen zu Mündigkeit gewinnbringend auf die aktuelle (bildungs-)politische Situation unter den Bedingungen der Globalisierung bezieht. Der Beitrag Rose Ahlheims zeigt insbesondere auf, dass ein tiefenpsychologischer Zugang viel zum Verständnis rechtsextremer Gewalttäter und deren Lebenssituationen beitragen kann. Es ist dabei eben positiv hervorzuheben, dass sie an die Stärken des Autoritarismus-Konzepts zu erinnern weiß, statt dieses – wie häufig in der Sozialpsychologie – schlicht ad acta zu legen. Matthias Heyls Beitrag liefert eine Fundgrube für Einsichten in erster Linie für diejenigen, die am Thema „Gedenkstättenpädagogik“ Interesse hegen.

Fazit

Das Buch kann vor allem denjenigen empfohlen werden, die am Anfang einer Auseinandersetzung mit Adorno stehen, aber auch denen, die sich mit Adorno bereits längere Zeit beschäftigen und interessiert an neuen Impulsen sind. In erster Linie dürfte der Band für Studierende und Wissenschaftler der Erziehungswissenschaften, dann der Geschichtswissenschaften, der Politologie, der Soziologie und der Psychologie interessant sein.

Rezension von
Johannes Jöhnck
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Es gibt 2 Rezensionen von Johannes Jöhnck.

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ISSN 2190-9245