Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Michael Huppertz: Achtsamkeitsübungen

Rezensiert von Mag. Harald G. Kratochvila, 31.03.2011

Cover Michael Huppertz: Achtsamkeitsübungen ISBN 978-3-87387-785-6

Michael Huppertz: Achtsamkeitsübungen. Experimente mit einem anderen Lebensgefühl. Junfermann Verlag GmbH (Paderborn) 2011. 200 Seiten. ISBN 978-3-87387-785-6. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Experimentieren mit dem Einfachen

In seiner Vorrede zu seiner Schrift: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) hat Immanuel Kant Lehre vom Menschen (also die Anthropologie) in zwei Zugänge unterteilt – zum einen physiologischer Hinsicht, und zum anderen in pragmatischer Hinsicht. Die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht geht der Frage nach, was der Mensch als freihandelndes Wesen, „aus sich selber macht, oder machen kann und soll.“ (vgl. Kant 1982, 399) Diese Lehre vom Menschen hat somit eine entscheidende Bedeutung für die Ausrichtung individueller Lebensformen an normativen Überlegungen, die in den Fragen: „Was für ein Mensch will ich sein? Was für ein Leben will ich führen? Worauf kommt es in meinem Leben an? Ihren Ausdruck finden. Manche Autoren verstehen das menschliche Leben, die menschliche Lebensführung als Kunstwerke – als “works of art”: „Our lives, whether we know is or not and whether we relish the factor bewail it, are works of art. To live or lives as the art of living demands, we must – just as artists must – set ourselves challenges that are difficult to confront up close,http://www.junfermann.de">www.junfermann.de) findet sich eine kurze Beschreibung des Autors: „Dr. phil. Dipl.-Soz. Michael Huppertz, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, studierte Soziologie, Philosophie und Medizin. Veröffentlichungen vor allem zu philosophischen Aspekten der Psychiatrie und Psychotherapie. Aufsätze, Workshops und Vorträge zu den Themen des Buches.“. Das Buch über Achtsamkeitsübungen ist in gewisser Weise die Fortführung des Buches „Achtsamkeit. Befreiung zur Gegenwart“, das 2009 beim selben Verlag erschienen ist und das Konzept der Achtsamkeit theoretisch begründet und dargestellt hat. Über die Einsatzmöglichkeiten der Achtsamkeitsschulung gibt der Autor großteils dort Hinweise – das Übungsbuch liefert vor allem eine Sammlung von verschiedenen Übungen und Meditationen, die alle drei Bereiche der Achtsamkeit abdecken (fokussierte - weite Achtsamkeit; äußere – relationale – innere Achtsamkeit; beobachtende – begleitende Achtsamkeit) (vgl. dazu Huppertz 2011, 20)

Aspekte der Achtsamkeit – Experimente des Lebensgefühls

Michael Huppertz definiert Achtsamkeit als Haltung, die Menschen Dingen, Ereignissen und Empfindungen gegenüber einnehmen können. Achtsamkeit hat viel mit Präsenz zu tun – Präsenz der wir uns umso bewusster werden, je achtsamer wir sind. „Achtsamkeit ist eine bewusste, absichtslose, nichtbewertende Haltung zum gegenwärtigen Geschehen.“ (Huppertz 2011, 20) Achtsamkeit wird vom Autor aber auch als Bewusstseinsform verstanden – nicht als reine Bewusstseinsform, aber als gerichtetes, intentionales Bewusstsein: „[d]as achtsame Bewusstsein ist nicht rein, sondern immer Bewusstsein eines bestimmten Menschen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort von etwas.“ (Huppertz 2011, 113) Michael Huppertz spricht in diesem Zusammenhang auch von „Verbundenheit“ (ibid.), und meint damit „ein Gefühl des Aufgehobenseins, der Einbettung, des Seins-in-der-Welt“. (ibid.).

In seiner Einleitung zu den Übungen verweist der Autor auf zwei traditionelle Zugänge zum Phänomen Achtsamkeit – diese verschiedenen Zugänge beeinflussen auch die Praxis der Achtsamkeit und können an zwei Aspekten verdeutlicht werden: Die vom Autor beschriebene „humanistische“ Tradition „betont die „Weisheit des Körpers“. Achtsamkeitsübungen sollen angenehm und leicht sein.“ Negative Empfindungen, Schmerzen, Unwohlsein – all das sind Gründe, die Übungen abzubrechen. Der zweite Zugang, der auch in den aktuellen achtsamkeitsbasierten Psychotherapien zur Anwendung kommt, schiebt unangenehme Empfindungen nicht zur Seite, sondern übernimmt diese in die Übungen – „Die Weisheit wird weniger im Körper als im Geist vermutet, der zwar einen Einklang mit dem Körper sucht, aber sich nicht allzu sehr von ihm leiten lässt.“ (Huppertz 2011, 17ff.)

Die traditionelle Gegenüberstellung von Geist und Körper findet eine klare Formulierung in den Schriften von René Descartes, bezeichnenderweise in seiner sechsten und letzten Meditation über die Grundlagen der Philosophie: „Über das Dasein der materiellen Dinge und den substantiellen Unterschied zwischen Seele und Körper.“ (vgl. das gleichnamige Buch, Descartes 1993, 64). Es ist nicht so sehr das Postulat der Differenz zwischen Psychischem und Physischem, das es schwierig macht, diese Gegenüberstellung einfach zu akzeptieren, als die Frage, auf welche Art und Weise beide Bereiche (die nach Descartes nichts miteinander gemeinsam haben) miteinander interagieren können.

Auch in der Diskussion um Achtsamkeit und Achtsamkeitsübungen liegt die Suggestion nahe, sich dieser Differenz nicht allzu genau und analytisch zu nähern – auch im Buch von Michael Huppertz, das explizit ein Übungsbuch ist, und daher keine vertiefenden Diskussionen zum Thema liefern soll, bleibt diese Differenz für sich genommen unklar.

Wie auch immer – wichtig ist, dass es verschiedene Zugänge zum Phänomen Achtsamkeit gibt, und dass diese Zugänge auch verschieden Übungen intendieren.

Zu den Übungen und ihrer Beschreibung

Michael Huppertz stellt insgesamt 85 Übungen vor, die nicht nur beide Traditionen der Achtsamkeitsschulung berücksichtigen, sondern auch alle drei Bereiche der Achtsamkeit abdecken, die der Autor vorgestellt hat (fokussierte - weite Achtsamkeit; äußere – relationale – innere Achtsamkeit; beobachtende – begleitende Achtsamkeit) (vgl. dazu Huppertz 2011, 20). Die Darstellung der Übungen folgt nach einem gleichbleibenden Aufbau, was es sehr einfach macht, sich zurechtzufinden und was es auch handhabbar macht, wenn man das Buch als „Handbuch“, als „Nachschlagebuch“ verwenden möchte.

Jede Übung trägt einen eignen Namen, danach folgt eine kurze Beschreibung darüber, wie lange die Übung mindestens dauert (Dauer), welche Körperhaltungen dabei eingenommen werden (Körperposition) und welche sonstigen Hilfsmittel man für die Übung benötigt (Medien). Es folgt eine Anleitung, die zum einen beschreibt, was vom Übungsleiter gesagt werden kann, um die Übung anzuleiten, und zum anderen beschreibt, was getan werden muss, damit die Übung stattfinden kann. Michael Huppertz gibt dazu noch Erweiterungen an, die es ermöglichen, die Übungen zu variieren, oder in einem anderen Kontext fortzuführen. Im anschließenden Kommentar erläutert der Autor die Übung, und welche Form der Achtsamkeit damit geschult wird.

Diese 85 Übungen sind vom Autor anhand der Zeitdauer, die sie jeweils in Anspruch nehmen, gereiht worden – Achtsamkeit ist (und das ist die unausgesprochene Grundbedingung des Buches) etwas, das geübt werden kann, und geübt werden muss. Die erste Übung („Objekte beschreiben“), in der es darum geht, seine Eindrücke von einem Gegenstand oder einem Bild oder Foto in Worte zu fassen, wird mit fünf Minuten minimaler Übungszeit angegeben – doch, was so einfach klingt, ist alles andere als einfach, wenn man es nicht gewohnt ist, seine Achtsamkeit auf diese Art und Weise so lange zu halten – nehmen wir Sie als Rezensionsleser/als Rezensionsleserin zum Beispiel: Sie haben diesen Text vor Ihnen, den Blick auf den Bildschirm gerichtet: Nehmen Sie nun bitte den ersten Gegenstand wahr, der rechts von Ihrem Monitor steht oder liegt. Beschreiben Sie es still für sich mit ihren Worten. Das erste Objekt rechts von meinem Bildschirm ist ein Geodreieck und wenn ich es ungeübt (ungeübt in Achtsamkeit) beschreibe, dann muss ich zugeben, dass dreieckig, knapp zwanzig Zentieter lang, aus Kunststoff gefertigt, mit einem Griff versehen … bei weitem keine 5 Minuten füllen können. Manche Übungen können aber auch an die sechzig Minuten in Anspruch nehmen.

Wie auch immer – die Übungen sind von Michael Huppertz einfach gehalten, was dem Thema auch angemessen ist: So wie in dem oben genannten Beispiel, braucht es keiner aufwendigen Gestaltungen von Raum und Inventar, um sich diesen Übungen widmen zu können – dem Autor ist es auch wichtig darauf hinzuweisen, dass es gerade im Hinblick auf die Frage wie man Achtsamkeit zur Gewohnheit (und darin steckt ja bereits die permanente Übung verborgen) machen könnte, notwendig ist, darauf hinzuweisen, dass man immer und überall diese Übungen durchführen kann – nicht alle, das ist klar, aber die Sammlung an Übungen soll ja dem Leser ermöglichen, für alle möglichen Situationen Übungen für sich zu finden – ausgehend von seiner Arbeit am PC, oder auch ausgehend von dem, was man gerade macht – sitzen, stehen, schmecken, …

Die mögliche Anwendung von Achtsamkeitsübungen im Coaching

„Coaching zielt immer auf eine (auch präventive) Förderung von Selbstreflexion und –wahrnehmung, Bewusstsein und Verantwortung, um so Hilfe zur Selbsthilfe zu geben“ (Zitat Christopher Rauen in Riedelbauch/Laux 2011, 27) – es liegt daher nahe, Achtsamkeit als Haltung zu einem Bestandteil des Coaching-Prozesses zu machen. Was kann man sich unter Coaching vorstellen? Einer gängigen Definition des Coachings zufolge, handelt es sich dabei um eine „gleichberechtigte, partnerschaftliche Zusammenarbeit eines Prozessberaters mit einem Klienten. Coaching bedeutet, dem Klienten in seiner Arbeitswelt (wieder) einem (sic) „ökologischen“ Zugang zu seinen Ressourcen und Wahlmöglichkeiten zu eröffnen. Der Klient soll durch die gemeinsame Arbeit an Klarheit, Handlungs- und Befähigungskompetenz gewinnen. Coaching ist eine handlungsorientierte hilfreiche Interaktion.“ (Björn Migge in Sachsenmeier 2009, 74) „Klarheit, Handlungs- und Befähigungskompetenzen“ – diese Trias an persönlichkeitsbildenden Fähigkeiten kann auf sehr unterschiedliche Art und Weise entwickelt werden – Achtsamkeit spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Diese Rolle wird aber in der Coaching-Literatur nicht besonders gewürdigt, wie sich an Beispielen wie diesem zeigen lässt: William George hat sich nicht nur in den USA einen guten Namen im Coaching-Bereich gemacht – seine Tätigkeit ist auf die Schulung von Führungskräften ausgerichtet – er verfolgt dabei das Konzept des inneren Kompasses: „True North is the internal compass that guides you successfully through life. It represents who you are as a human being at your deepest level. It is your orienting point – your fixed point in a spinning world – that helps you stay on track as a leader. Your True North is based on what is most important to you, your most cherished values, your passions and motivations, the sources of satisfaction in your life.” (George/Sims 2007, xxiii) Es würde nahe liegen, dem Klienten/der Klientin Achtsamkeit als besondere Haltung nahe zu bringen, schließlich könnte Achtsamkeit als eine wichtige Ressource für Präsenzwahrnehmung verstanden werden – als Wahrnehmung der eigenen Präsenz, der Präsenz der einen umgebenden Dinge und Ereignisse. Diese “authentische Führungsqualität” bzw. „authethische Führungspersönlichkeit“, die sich aus der persönlichen Orientierung am individuellen internen Kompass ergibt, beinhaltet nach William George und Peter Sims fünf Dimensionen – Absicht (pupose), Werte (values), Beziehungen (relationships), Diziplin (self-discipline) und Herz (heart) (vgl. George/Sims 2007, xxxii), kommt also ohne „Achtsamkeit“ als besonderem Zugang aus und ich bin geneigt zu sagen: „“You have a problem,“ Bud continued. “The people at work know it; your spouse knows it; your mother-in-law knows it. I bet even your neighbors know it.” He was smiling warmly. “The problem is that you don‘t know it.” (Arbinger Institute 2000,7)

Fazit – Ein stimmiges Bild

Achtsamkeit und deren Übung findet sich in dem Praxisbuch von Michael Huppertz überzeugend und ansprechend umgesetzt. Das Buch ist klar aufgebaut, und liefert genau das, was der Buchtitel verspricht – Achtsamkeitsübungen: 85 Anleitungen für die Praxis. Nur, das „andere Lebensgefühl“, von dem der Untertitel spricht, bleibt zumindest inhaltlich unbestimmt (nicht was die veränderte Selbst- und Fremdwahrnehmung betrifft, die sich durch die Achtsamkeitsschulung ergeben). Das Buch ist jedem empfohlen, der sich Zeit nehmen möchte – der Hinweis auf ein „um zu“, als einer Bedingung („Schule Deine Achtsamkeit, um Deine Kommunikation zu verbessern“), wäre der Achtsamkeit, wie sie Michael Huppertz mit diesem Buch anleitet, nicht angemessen. Und in diesem Sinne schließe ich mit einem Zitat, das bereits in der Einleitung Verwendung gefunden hat: Achtsamkeit ist in diesem Sinne nicht bloß eine Haltung, die Menschen einnehmen können, kein alleiniger Bewusstseinszustand, sondern eine Idee – eine Idee, ein Wert, der das Leben von Menschen gestalten kann. „Freilich leben Ideen nicht – es sei denn dadurch, dass Menschen ihnen in ihrem Leben einen hohen Stellenwert einräumen und sich nach ihnen richten.“ (Liebsch 2010, 42)

Literatur

  • The Arbinger-Institute (2000). Leadership and Self-Deception - Getting Out of the Box. San Francisco, CA (USA), Berrett-Koehler Publishers
  • Bauman, Z. (2008). “Does Ethics Have a Chance in a World of Consumers?” Cambridge, MA (USA) & London (UK), Harvard University Press
  • Descartes, R. (1993 [1641]). Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hamburg (GER), Felix Meiner Verlag
  • Fischer, E. (2011). "How to Practise Philosophy as Therapy: Philosophical Therapy and Therapeutic Philosophy." Metaphilosophy 42(1-2): 49-82
  • George, W. W. and P. Sims (2007). True North - Discover Your Authentic Leadership. San Francisco, CA (USA), John Wiley & Sons
  • Kant, I. (1982 [1798]). Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Immanuel Kant - Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. W. Weischedel. Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag: 395-690
  • Kratochvila, H. G. (2010a). "Der Mensch als Autodidakt? Über Sprache und das Schreiben darüber." (www.socialnet.de/rezensionen/9401.php)
  • Kratochvila, H. G. (2010b). "Gesundheit und das gute Leben – Eine Frage der Selbstachtung?" (www.socialnet.de/rezensionen/9708.php)
  • Liebsch, B. (2010). Renaissance des Menschen? Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart. Weilerswist (GER), Velbrück Wissenschaft
  • Riedelbauch, K. and L. Laux (2011). Persönlichkeitscoaching - Acht Schritte zur Führungsidentität. Weinheim (GER), Beltz Verlag
  • Sachsenmeier, I., Ed. (2009). Die Coaching-Praxis - Mit Methode zu neuen Perspektiven. Mit Kommunikation zum Erfolg. Weinheim (GER) & Basel (SUI), Beltz Verlag

Rezension von
Mag. Harald G. Kratochvila
Website
Mailformular

Es gibt 57 Rezensionen von Harald G. Kratochvila.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Harald G. Kratochvila. Rezension vom 31.03.2011 zu: Michael Huppertz: Achtsamkeitsübungen. Experimente mit einem anderen Lebensgefühl. Junfermann Verlag GmbH (Paderborn) 2011. ISBN 978-3-87387-785-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11260.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht