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Falk Bretschneider (Hrsg.): Personal und Insassen von "Totalen Institutionen" [...]

Rezensiert von Prof. Dr. Richard Utz, 20.02.2012

Cover Falk Bretschneider (Hrsg.): Personal und Insassen von "Totalen Institutionen" [...] ISBN 978-3-86583-503-1

Falk Bretschneider (Hrsg.): Personal und Insassen von "Totalen Institutionen" - zwischen Konfrontation und Verflechtung. Leipziger Universitätsverlag (Leipzig) 2011. 398 Seiten. ISBN 978-3-86583-503-1.
Reihe: Geschlossene Häuser - Band 3.

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Thema

Mein Zimmerkollege erzählte mir neulich von seinem Projekt, das er seit einem halben Jahr an einer Strafvollzugsanstalt durchführt. Die Studenten und er kümmern sich aus sozialpädagogischer Perspektive um Strafgefangene, die über sechzig Jahre alt sind und keine Aussicht mehr darauf haben, noch lebend aus dem Vollzug entlassen zu werden. Im Kontext der geplanten Weihnachtsfeier für diese Menschen kam es zu einem Mailwechsel mit einem der Sozialarbeiter JVA. Dieser hatte gerade ein Jahr zuvor bei meinem Kollegen eine Abschlussarbeit geschrieben, die sich kritisch mit dem System von „Überwachen und Strafe“ befasst hatte. Der Kollege schätzte den Absolventen unserer Fakultät nicht nur wegen dieser guten Arbeit, sondern auch wegen seiner Fähigkeit zur Reflexion, die er in den Diskussionen des Unterrichts immer wieder bewiesen habe.

Von diesem Sozialarbeiter erhielt der Kollege nun eine Mail, die sich auf die genannte Weihnachtsfeier bezog. Sinngemäß schrieb jener, dass er Bedenken wegen des sozialpädagogischen Werts des geplanten Kaffees und Kuchens habe. Denn, so belehrte er meinen Kollegen, die Insassen kämen doch primär wegen des guten Kaffees und der selbst gebackenen Plätzchen von draußen und nicht wegen des professionellen Anliegens des Projekts, ihre aussichtslose Lebenslage sozialpädagogisch abzumildern und wenigstens das hoffnungslose Grau dieser existentiellen Grauzone etwas aufzuhellen.

Wie ging es zu, fragte mich mein Kollege, dass ein doch kritischer Student so rasch zu einem angepassten Mitglied des sozialen Gebildes geworden war, das Erving Goffman als Stab oder Personal einer „total institutions“ bezeichnet und ihren Insassen gegenüber gestellt hatte? Vermutlich wollte er seinem einstigen Professor sagen, dass dieser „naiv“ sei, wenn er an irgendeine positive Wirkung der zwar gutgemeinten, aber doch hoffnungslos – ja, was denn? – „idealistischen“ Zielsetzungen des Projektes glaubte, das den Insassen letztlich etwas von ihrer Würde und einem Selbstwertgefühl zurückgeben wollte, das der Knastalltag doch schon lange in ihnen abgetötet habe? Diese implizite Botschaft, in diesen Strafgefangenen realistischerweise nicht mehr „den“ Menschen, sondern nur noch den Insassen zu sehen, bestätigt eine grundsätzliche Unterscheidung, die Goffman als konstitutiv für diesen Typus der „total institution“ angenommen hatte: Dass Personal und Insassen jeweils Repräsentanten zweier fundamental getrennter Sozialwelten seien, die sich durch spezifische Identitäten, soziale Wahrnehmungen und Praktiken auszeichneten, die zwischen diesen beiden geschlossenen Sozialbeziehungen eine letztlich unüberwindbare und unaufhebbare Barriere errichteten.

Autorinnen und Autoren

Eine kritische Überprüfung dieses Aspektes des Goffman'schen Idealtypus legt jetzt ein Band mit Aufsätzen vor, der in einer Reihe unter dem Titel „Geschlossene Häuser. Historische Studien zu Institutionen und Orten der Separierung, Verwahrung und Bestrafung“ als Band 3 erschienen ist. Von den vierzehn Autoren haben acht einen geschichtswissenschaftlichen Hintergrund, zwei einen sozialwissenschaftlichen, eine ist Romanistin und bei drei Autoren ist die akademische Ausbildung aus dem Mitarbeiterverzeichnis am Ende nicht erkennbar. Keiner der Autoren hat irgendwelche konkrete Felderfahrungen in dem Bereich, über den er schreibt, die denen Goffmans vergleichbar wären. Das sei nur bemerkt, weil sich darin die Autoren des Bandes ebenso von Erving Goffman unterscheiden wie Elias oder auch Foucault, die zu ihren Konzepten ebenfalls über historische Forschungen und nicht aus der Perspektive der teilnehmenden Beobachtung gekommen waren. Und das sei bemerkt, weil Goffman eine „dichte Beschreibung“ in systematischer Absicht eines sozialen Feldes liefert, das aus Beobachtungen erster Hand und ihrer Deutung, aus Berichten von Betroffenen und der Auswertung von Literatur besteht, die der noch umfassend belesene Autor mit dem illustrativ verbindet, was für den als „total institution“ bezeichneten Typus sozialer Organisation sinnvoll und erhellend ist.

Inhalt

In der instruktiven Einleitung benennen die Herausgeber aus ihrer Perspektive das Desiderat einer Anstaltsforschung, die mit dem Goffman'schen Idealtypus arbeitet, der „Personal und Insassen als Pole einer geteilten sozialen Praxis“(S.9) wahrnimmt. In kritischer Absetzung von Goffman und der von ihm behaupteten fundamentalen Trennung der Welt des Stabes oder des Personals auf der einen und der Welt der Insassen auf der anderen Seite fokussieren die Herausgeber des Bandes im Anschluss an Norbert Elias‘ Figurationssoziologie und an Michel Foucaults Mikrophysik der Macht auf Herrschaft als einer sozialen Praxis, „die in multipolare Handlungsverknüpfungen eingebettet ist“(S.10). Das impliziert weiter eine kritische Distanz zur Goffman'schen Idee eines durchgehenden und durchgehaltenen „tendenziell totalen Einfluss(es) institutioneller Rahmungen“(ebd.), und das impliziert im Gegensatz zu Goffman die Annahme einer „stärker(en) Pluralität des sozial Möglichen und die in ihr aufscheinenden Mechanismen einer sozialen Welt, die Akteure konstruiert, gleichzeitig aber auch von eben diesen Akteuren konstruiert wird.“(ebd.)

In den Blick kommen soll auf diese Weise mehr Realität von Institutionen, die mit der Formel von der „totalen institution“ und der als strikt unüberwindbar gedachten „Dichotomie“ zwischen Personal und Insassen nur suboptimal erfasst werden könne. So soll der Band danach fahnden „…welche sozialen Beziehungen hier zustande kamen und wie diese von den Akteuren in ihre tagtäglichen Handlungsoptionen einbezogen wurden.“(ebd.) Zusammengefasst soll es gehen um 1. Eine detaillierte Darstellung der Sozialstruktur der Menschen, die „in einer Anstalt lebten“(S. 11), der dadurch beeinflussten Selbst- und Fremd-Wahrnehmung und -Deutung und der Handlungen. 2. Geht es den Autoren um eine Überprüfung der Goffman‘schen Unterscheidung von Personal und Insassen, die vielleicht durch den Kontext „total institution“ selbst ihre unterscheidende Kraft verliert. 3. wird die von Goffman betonte Wirkung des Raumes auf das Sozialleben um die Sozialisierung des Raumes in den „total institutions“ ergänzt. Schließlich 4. soll das Bild „einer permanenten Konfrontation zwischen Insassen und Personal (auch im Hinblick auf die „Außenwelten“)“ (ebd.) auf seinen Realitätsgehalt befragt werden. Dabei sollen nach den „zahlreichen Verflechtungen, Abhängigkeiten und Interdependenzen“(ebd.) gesucht werden, die besser mit Elias‘ Figurationssoziologie und auch mit Foucaults umfassendem Machtkonzept als mit Goffmans idealtypischer Heuristik thematisch werden könnten, wenngleich kaum einer der Beiträge mit Hilfe dieser beiden Theorien systematisch arbeitet und Goffmans Unterscheidungen ernsthaft Konkurrenz machen könnte.

Unter dieser Akzentsetzung analysieren die verschiedenen Beiträge am Beispiel von vier Lokalitätstypen der Verwahrung: Klöster, Hospitäler, Zuchthäuser und Strafanstalten sowie Lager.

Was sind die Ergebnisse?

In den Aufsätzen von Günther Katzler und Martin Scheutz, Christine Schneider und Ute Ströbele, die sich je unterschiedlich auf die Überprüfung der einzelnen Strukturmerkmale der „total institutions“ einlassen und diese am Material abarbeiten, differenzieren und verfeinern sie dennoch eher die Goffman'sche Personal-Insassen-Dichotomie, als dass sie diese falsifizierten. So kommt Katzler bezüglich des Klosterkontextes zu dem Ergebnis, dass Goffmans soziologisches Modell „dem Vergleich mit der historischen Wirklichkeit standhält“(S.76), während Schneider indirekt die Goffman'sche Dichtomie-Hypothese in den „normativen Vorgaben klösterlichen Lebens“(S.99) wieder findet, aber wegen „nur spärlicher Hinweise“ (ebd.) über das tatsächliche Alltagsleben daselbst keine empirisch fundierte Aussage treffen kann, die die Goffman'schen Deutungen widerlegen könnten. Scheutz, einer der Herausgeber, zeichnet den spitalinternen Prozess der Ausdifferenzierung von Insassen und Personal nach, der ab dem 19ten Jahrhundert die Anstaltsrealität prägte, und Ströbele konzentriert sich mehr auf die Frage, wie stark und weitgehend die „total institution“, festgemacht an der „durchdringenden Ordnung“(S.116), das „affektive(), emotionale(), intellektuelle(), körperliche() und wirtschaftliche()“ (ebd) Leben determinieren konnte und stellt fest, dass diese Durchdringung nicht mehr in dem Maße „lebbar“ war wie noch im mittelalterlichen Kloster. Auch er widerlegt also auch nicht die Goffman'sche Dichotomie-Hypothese, sondern relativiert sie nur.

Im zweiten Abschnitt behandelt der zweite Herausgeber Falk Bretschneider und Gerhard Sälter „Zuchthäuser und Strafanstalten“. Bretschneiders Thema ist das Zuchthaus der frühen Neuzeit, das er in der Perspektive von Otto Brunners „Ganzes Haus“ und Goffmans „total institution“ analysiert, wobei der Autor Brunners Konzept des patriarchalisch geordneten Hausstandes zur Analyse den Vorzug vor Goffmans Anstaltsbegriff gibt. An beiden Konzepten kritisiert er die Vernachlässigung der „historisch wandelbare(n), gesamtgesellschaftliche(n) Zusammenhänge…“ und damit die zusammenhängende Tendenz der Goffman'schen Perspektive, „total institutions“ als soziale Gebilde zu begreifen, „die nach innen hin tendenziell allumfassend sind und nach außen hin abschotten, d.h. alle Kräfte auf sich selbst konzentrieren.“(S.159)

Diese Kritik macht ein Missverständnis deutlich, das m.E. den methodologischen Status der „total institution“ als idealtypisches und nicht realtypisches Konstrukt verkennt, was vielleicht auch mit negativen Assoziationen der Übersetzung von „total institution“ in „Totale Institution“ zusammenhängen mag, was aber auch im Amerikanischen nicht mit „totalitarian institution“ zu verwechseln ist, so dass hier übersetzerische Fantasie eine neutralere Formulierung künftig vorschlagen sollte.

So geht Goffmans Idealtyp doch nicht davon aus, dass „…das Leben in ’Totalen Institutionen‘ (…) allein durch die Institution bestimmt (werde). Das meint nicht nur die Geltung der offiziellen Regeln, sondern auch alle gegen diese Vorschriften gerichtete Praktiken…, die ebenfalls nur als Formen einer Reaktion auf den historischen Rahmen gedacht werden, nicht jedoch z.B. als Ergebnis von biographischen Prägungen der Außenwelt…Die Identität der Insassen verstand Goffman nicht als ein übersituativ…erworbenes komplexes Geflecht aus Selbstwahrnehmungen, Zuschreibungen und Erfahrungen, sondern allein als das Ergebnis von situativen Erlebnissen in der Institution.“(ebd.) So naiv ist Goffman nicht gewesen, das zeigt sein Werk insgesamt, z.B. „Stigma“ oder die vielfältigen Studien zum Verhalten in der Öffentlichkeit oder die Selbstpräsentation im Alltagsleben, dass ihm nicht bewusst wäre, dass Menschen soziale, kulturelle u.v.a.m. „Prägungen“ mit in den Kontext der „total institution“ mit brachten. Ihm ging es aber m.E. immer darum, Verhalten unter einem jeweils selektiven Aspekt, z.B. dem der Interaktion unter Anwesenden zu analysieren und zu sehen, wie viel dadurch zu deuten und zu erklären ist, nicht aber darum, ein Verhalten quasi erschöpfend auszudeuten.

Deshalb, und das ist doch das eigentliche, genuin soziologische Anliegen Goffmans, versuchen seine Studien in Asyles zu zeigen, welche Änderungen in den Identitäten und „Erfahrungen“, welche Änderungen in der „Selbstwahrnehmung“ und „Zuschreibung“ ausschließlich durch die Organisationsmerkmale der „total institution“ produziert oder doch durch sie hervorgerufen werden und regelmäßig, „nomologisch“ zu erwarten seien. Goffman hatte eine idealtypisch-selektive Perspektive in diesem Sinne, und von daher macht es Sinn nach überindividuellen Verhaltenseffekten zu suchen, die allein z.B. auf die Fusionierung der Lebensbereiche, der Trennung von Personal und Insassen, der räumlichen Separierung usf. zurückzuführen sind. Goffman ging es nicht um die Leugnung der Bedeutung prä-institutionell erworbener Verhaltensmuster, sondern vielmehr um die Prägekraft und Prägereichweite der Anstaltssituation, also um eine analytische Betrachtung der Verhaltenseffekte eines Ensembles anstaltsmäßiger Strukturelementen, genannt „total institution“, das in der modernen Sozialpsychologie seit Milgrams Experiment bis hin zu Zimbardos Gefängnisexperiment in seiner Wirksamkeit sehr gut belegt ist. Die „total institution“ sollte nicht als „totalitarian institution“ missverstanden werden, wenngleich es Formen gibt wie die Vernichtungslager des Nazizynismus oder die Sektengemeinschaft z.B. der „Temple People“ in Guyana, die aus einer „total“ eine „totalitarian“ situation gemacht haben.

Insofern geht diese Kritik an Goffman vorbei, die meint behaupten zu müssen, dass „die Anstalten vielmehr offene Interaktionszusammenhänge…darstellten“(S.186) und „subversive Überschreitung sozialer Grenzen“(ebd.) zwischen Personal und Insassen ermöglichten. Klar, ich kann jede Situation aus einer historisch-individualisierenden oder einer soziologisch-generalisierenden Analyseperspektive verstehen und erklären, wie Max Weber das im Roscher-und-Knies-Aufsatz seiner Wissenschaftslehre grundsätzlich thematisiert hat. Und Goffmans Analyse folgt der Forschungslogik der letzteren, sein Erkenntnisziel ist die Kreation nomologischen Wissens über das Verhalten in sozialen Situationen, die er als „total institutions“ typologisch charakterisiert hatte. Was fehlt, ist eine Systematik der „total institutions“, die die Strukturelemente als variable Größen behandelt und ihre je unterschiedlichen Verhaltenseffekte untersucht, zu denen auch die Größe und Weite individueller Handlungsspielräume gehören, die sich die Insassen und das Personal schaffen und somit gegen die „total institution“ Reservate des Selbst kreieren könnten.

In Sälters Aufsatz über die Verhältnisse zwischen Personal und Insassen im DDR-Gefängnis Bautzen II wird diese Perspektive von Bretschneider, die das individualisierend Modifizerende von Situationen betont, m.E. auf eine Weise relativiert, die die generalisierende Perspektive Goffmans zumindest für das moderne politische Gefängnis bekräftigt: „Die Frage einer Verflechtung von Personal und Insassen ist ohnehin nur abhängig vom Standpunkt des Betrachters und dessen Fragestellung zu beantworten.“(S.215) Und das trifft auch auf die methodologische Perspektive zu, die vom individualisierenden Standpunkt aus zu einer „Widerlegung“, von einer generalisierenden eher zu einer „Bestätigung“ Goffmans kommt. Dennoch spricht aus der Empirie des modernen Gefängnisses, anders als dies aus der Empirie des frühneuzeitlichen vor der sozialen Ausdifferenzierung funktional spezifischer Rollensysteme auch im Gefängnis ableitbar sein mag, einiges für die Goffman'sche Dichotomie, denn generell gilt doch hier: „Es sollte hierbei jedoch nicht vergessen werden, was das Personal von den Häftlingen unterscheidet. Es ist in der Regel freiwillig im Gefängnis und kann es abends verlassen.“(S.216)

Der dritte inhaltliche Abschnitt befasst sich mit dem Sonderthema der Anstaltsgeistlichen, in dem Weiß, Schauz, Heidegger und Ammerer inhaltlich reiche Detailstudien vorlegen, die die Goffman'sche Dichotomiethese spezifizieren und für je unterschiedliche Kontexte modifizieren können.

Der letzte Abschnitt behandelt die „Welt der Lager“. Nickel führt in der Goffman'schen Perspektive ein Internierungslager in Südfrankreich vor und erweist ihre Fruchtbarkeit. Patel schildert die Rolle der körperlichen Gewalt in den so genannten „Erziehungslagern“ des Naziregimes, die sich auf so genannte Mitglieder der deutschen „Volksgemeinschaft“ und die „Gemeinsame Arbeit am ‚Neuen Menschen‘“ konzentrierten. Dessen Relativierungen zu Goffman (vgl. S. 343f) können mich ebenso wenig überzeugen wie die Bretschneiders. Zumal an ihnen m.E. ein weiteres, unsoziologisches Verständnis Goffmans deutlich wird: Dass Goffman die „Trennung in Personal und Insassen“(S.346) gerade soziologisch als eine besondere Art des sinnhaften Aufeinanderbezogenseins begreift, mit anderen Worten als „soziale Beziehung“, die natürlich sowohl Distanzierungs- als auch Verflechtungsaspekte enthält, so wie es den Ambivalenzen menschlicher Soziabeziehungen konstitutiv zugehört. Koslow und Springmann betrachten das so genannte „Frauen“- Konzentrationslager Ravensbrück und die Rolle des so genannten „Lagersports“, eine euphemistische Bezeichnung des nazistischen Lagerterrors für militärischen Drill zum Zwecke der physischen Tortur.

Fazit

In der klassischen Lesart Max Webers sind Idealtypen wie die der „total institution“ Goffmans gedachte und in sich logisch konsistente Gedankenkonstrukte, die als diskursiver Maßstab für empirische Analysen dienen und von vorneherein modifikationsoffen angelegt sind. Modifikationsoffen deshalb, weil sie einerseits Strukturelemente „ideal“ dingfest zu machen versuchen, die in unterschiedlicher Kombination, Ausprägung und Vollständigkeit in der sozialen Wirklichkeit und ihren Situationen „real“ meist in Abweichungen vom gedachten Ideal und nur in Ausnahmefällen in nahezu vollständiger Übereinstimmung mit ihm zu finden sein mögen, weil es letztlich immer die einzelnen Akteure sind, die in ihrer empirischen und historischen Bedingtheit und Einzigartigkeit die Realität immer wieder aufs Neue als Gegenwart erzeugen. Dieses nichtdeterministisch gedachte methodologische Konzept Max Webers ist m.E. in eine mindestens ebenso dynamische Soziologie eingebettet wie Elias Figurationssoziologie, wenngleich mit seiner triadischen Dimensionalität von Handlung, Ordnung und Kultur ungleich komplexer, multipolarer und analytisch anspruchsvoller als die interdependenten Figurationsmodelle Elias‘. Überdies bleibt die Webersche Soziologie auf dem Boden der empirischen Tatsachen und trennt streng zwischen Tatsachenurteil und Wertung und verfällt nicht wie der Akten auswertende Philosoph Foucault in eine doch stark wertende Machtmetaphysik, die den Machtbegriff universalisiert und als ubiquitäre Penetrationskraft in allen Diskursen des Wissens am Werke sieht, so dass sprachgebundenes „Denken“ in einem ganz grundsätzlichen Sinne immer schon Manifestation der Macht irgendeines Diskurses sein muss. Eine solche Politisierung des Machtbegriffs durch Universalisierung ist angesichts des Aktenzynismus der Psychiatrie im Kontrast zum Leiden der betroffenen Menschen sehr verständlich. M.E. ist es aber analytisch ergiebiger, erstens „Macht“ zu spezifizieren, zweitens weniger dramatisch „Macht“ als einen Strukturierungsaspekt neben anderen möglichen analytisch zu denken, der für soziale Beziehungen einmal stärker oder schwächer als andere Beziehungsaspekte wirken kann, und nicht von vorneherein, wie das Foucault nahe legt, als strukturdominant zu denken sei. Aber das ist in weites Feld und führt ab vom eigentlichen Thema.

Insofern löst der Band m.E. die eingangs gemachten Versprechungen, Goffman durch Elias und Foucault zu erweitern oder gar zu ersetzen dort nicht überzeugend ein, wo er es behauptet, was beileibe nicht alle Beiträge tun. Unabhängig davon präsentieren die Aufsätze eine beträchtliche Fülle wissenswerter und wertvoller Details, die ihrerseits Ansatzpunkte für systematische Arbeit am Begriff der „total institution“ bieten können. Die Kraft der Unterscheidung zwischen Personal und Insassen aber, das zeigen m.E. etliche historische Beiträge aus Beispielen der frühen Neuzeit, hat sich erst allmählich in den beschriebenen Institutionen im Zuge von Differenzierungsprozessen entwickelt, an dessen Anfang und vorläufigem Ende etwa diejenige déformationprofessionelle steht, die der eingangs zitierte Sozialarbeiter gegenüber meinem Kollegen vom Standpunkt des Personals gegen die Insassen behauptet.

Rezension von
Prof. Dr. Richard Utz
Hochschule Mannheim, Fakultät für Sozialwesen
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Es gibt 34 Rezensionen von Richard Utz.

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Zitiervorschlag
Richard Utz. Rezension vom 20.02.2012 zu: Falk Bretschneider (Hrsg.): Personal und Insassen von "Totalen Institutionen" - zwischen Konfrontation und Verflechtung. Leipziger Universitätsverlag (Leipzig) 2011. ISBN 978-3-86583-503-1. Reihe: Geschlossene Häuser - Band 3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11290.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.


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