Fehmi Akalin: Die kulturellen Dimensionen des Sozialen
Rezensiert von Dr. phil. Oda Baldauf-Himmelmann, 24.01.2012
Fehmi Akalin: Die kulturellen Dimensionen des Sozialen. Ein Vergleich handlungstheoretischer und systemsoziologischer Kulturkonzepte.
Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2011.
334 Seiten.
ISBN 978-3-8300-5446-7.
78,00 EUR.
Schriftenreihe Schriften zur Kulturwissenschaft - Band 88.
Thema
Im Rahmen des so genannten „cultural turn(s)“ – der kulturellen Wende(n) gelangte der Kulturbegriff, im Gegensatz zu traditionellen Kulturkonzepten zu neuem Gehalt. Einhergehend mit der Entwicklung der Kulturwissenschaften im 20. Jh. und ihres zunehmenden Einflusses auf die Geistes- und Sozialwissenschaften, konnte der Kulturbegriff erweitert werden und bezog sich nunmehr nicht mehr auf Dinge und Gegenstände sowie wirtschaftliche und politische Fragen und eine Differenzierung zwischen Hochkultur (elitärer Art) und Massen- oder Popkultur, sondern nahm die scheinbar belanglosen Alltagserscheinungen in den Blick. Damit fokussierten Kulturwissenschaftler Handlungen und Prozesse, die nicht im Kulturellen allein zu verorten waren, sondern mit dem Sozialen eng verbunden sind. Das erlaubt natürlich die vom Autor aufgeworfene Frage nach den kulturellen Dimensionen des Sozialen und ihrem konkreten Ausdruck in den klassischen Theoriekonzepten im Vergleich zu neueren Ansätzen und auch die Frage danach, wie sich denn der Kulturbegriff in diesem Rahmen tatsächlich verändert hat. Die Diskussion darum begann mit dem frühen 20.Jh., angeschoben von britischen und US-amerikanischen Wissenschaftlern und hält bis heute an.
Autor
Fehmi Akalin ist promoviert und lehrt Soziologie in Frankfurt und Medienwissenschaft in Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kultursoziologie, Soziologische Theorie, Film- und Mediensoziologie, Soziologie der Intimität, Systemtheorie und Populärkultur.
Entstehungshintergrund
Hintergrund bildet für den Autor der Anspruch, nicht nur im Fahrwasser der proklamierten kulturellen Wende dahin schippern zu wollen und die inflationäre Entwicklung von „Kultur“ für sich mit in Beschlag zu nehmen, sondern zur Konturierung dieses Wandels mit „voraussetzungsvollen“ Begründungsleistungen beizutragen und eine „trennscharfe und konsistente Eingrenzung des Forschungsgegenstandes“ vorzunehmen.
Aufbau
Die Publikation untergliedert sich in ein Vorwort, eine Einleitung und eine Einführung in die Problemstellung sowie in zwei große Teile.
- Im ersten Teil werden klassische Schlüsselwerke kritisch analysiert und vergleichend gegenübergestellt.
- Im zweiten Teil unternimmt dann Fehmi Akalin den Versuch, die Systemsoziologie /-theorie Niklas Luhmanns als Kulturtheorie zu lesen und sie in ihren Leistungen, aber auch in ihren Grenzen für eine Beschreibung des gesellschaftlichen Ganzen zu erhellen und weitere Ansatzpunkte für den Ausbau des Kulturkonzeptes Luhmannscher Prägung zu markieren.
Im Rahmen eines Fazits bzw. Ausblickes am Ende werden die Erträge aus den Vergleichen zwischen den klassischen Schlüsselwerken und der Systemsoziologie sowie die Nutzungspotenziale des Luhmannschen Ansatzes noch einmal zusammenfassend dargestellt.
Zur Einleitung
In der Einleitung formuliert Akalin sein Anliegen und gibt dann einen Gesamtüberblick über die zu erwartenden Inhalte seiner vorliegenden Arbeit. Dabei problematisiert er bereits den von A. Reckwitz (Reckwitz: 2000: Die Transformation der Kulturtheorien) groß angelegten Versuch einer Rekonstruktion und Bilanzierung des Entwicklungsprozesses des cultural turns in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Kritisch und als unbedingt diskussionswürdig sieht dabei der Autor z.B. die von Reckwitz vorgenommene Klassifizierung von Kulturtheorien und die Einordnung der Systemsoziologie als Variante textualistischer Kulturtheorien. Akalin kündigt in Folge dessen an, den Systemansatz Luhmanns unter die Lupe nehmen zu wollen und jene Stellen zu markieren, an denen ein Ausbau des systemtheoretischen Kulturkonzeptes anzusetzen habe.
Zur Einführung in die Problemstellung
Die Problemstellung ergibt sich für Akalin aus der wechselvollen Geschichte des Kulturbegriffs, so dass in diesem Abschnitt die Kulturbegriffe klassischer kulturtheoretischer Konzepte gegenübergestellt und in ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung betrachtet werden. Er resümiert aber am Ende dieser Einführung, dass beide, aus der Entwicklung hervorgegangen Varianten (stratifikatorisch und funktionalistisch) des sektoralen Kulturbegriffs jegliche Kontingenz eingebüßt hätten, weil der Sachverhalt „Kultur“ zu sehr auf der Gegenstandsebene fixiert werde.
Zum ersten inhaltlichen Teil
Dieser Teil wird mit „Handlungstheoretische Kulturkonzepte “ überschrieben.
Zunächst wird der Versuch einer Klassifizierung durch Reckwitz, in Reaktion auf den „cultural turn“, kritisch betrachtet und seine Beharrung auf der intentionalistischen Konstitution des Handelns moniert. Dabei stünde Reckwitz seine eigene Ansicht, dass Handlungen sich nur dann erklären würden, wenn sie auf ihnen vorangehende Gründe oder Ursachen zurückgeführt werden können, im Weg.
Dann wendet sich der Autor direkt den von Reckwitz diskutierten Sozialtheorien zu und nimmt somit namentlich und vorrangig die Ansätze von Parsons, Schütz, Foucault und Bourdieu in den Blick. Dabei wird „Handeln“ in seiner vorerst kausalen Bestimmung, erst z.B. durch Deutungsmuster, verortet im Subjektiven, später durch z.B. normative Faktoren, verortet im Übersubjektiven verdeutlicht. Daraus entstanden zwei Strömungen von Sozialtheorien die individualistische und die holistische.
Insgesamt skizziert damit Akalin handlungstheoretischer Konzepte ausgehend vom klassischen Dualismus zweck- und normorientierter Ansätze, über wissensorientierte Ansätze und die Kulturanalyse als Mental-, Text- und Praxisanalyse, bevor er an diesen handlungstheoretischen Kulturtheorien fundierte Kritik übt. So werden seinem Verständnis nach praxeologische Kulturtheorien in ihrer Sach- und Zeitdimension kultureller Dynamik beraubt und bezüglich der Sozialdimension zu wenig sozialtheoretisch fundiert.
Bei einer erneuten Rückkehr und Betrachtung der von Reckwitz konsultierten Autoren; Parsons, Schütz Foucault und Bordieu diskutiert Akalin kritisch deren begrenzte Bewegung zwischen Konsens- und Konfliktparadigma, bei der es allesamt versäumen würden „eine tendenzfreie, realistische Sozialtheorie des Kulturellen zu formulieren, welche den konsensuellen bzw. konfliktären Verlauf sozialer Beziehungen nicht von vornherein fixiert, sondern diesen der Empirie“ (Akalin:2011:139) überlasse.
Damit schafft er den Übergang zur anstehenden Alternative, der Systemtheorie Luhmannscher Prägung und eröffnet das zweite große inhaltliche Kapitel.
Zum zweiten inhaltlichen Teil
Dieser Teil trägt den Titel „Auf dem Weg zu einer systemsoziologischen Kulturtheorie.“
Zunächst skizziert der Autor kulturtheoretische Implikationen der Systemtheorie, einer Theorie mit Universalitätsanspruch, die auch bis dato unterschiedliche Lesarten gefunden habe und somit in der kulturtheoretischen Auseinandersetzung drei Zugangsweisen aufzeige, jene, die unbeeindruckt von Luhmanns Kulturbegriffsskepsis, den von ihm behandelten kulturellen Phänomenen nach spüre. Eine zweiter Zugang der sich der Luhmannschen Einsicht; Kultur als Vergleichtechnik zu betrachten, dessen Forschungsperspektive anschließe. Und ein dritter Zugang liege in der Wahrnehmung der Luhmannschen Sozialtheorie, primär als Systemtheorie.
Nach dieser Verortung geht der Autor zur Erkundung des wissenschaftstheoretischen Status der Systemsoziologie über, getragen von der Auffassung, dass insbesondere hier die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dieser und den praxistheoretischen Kulturtheorien konturiert werden könnten. Dabei hebt er „Sinn“ als Grundbegriff Luhmannscher Soziologie hervor und beschreibt die Entwicklung, Bedeutung und Einbettung des Sinnkonzeptes entlang von vier Ansätzen, die sich im Laufe der Luhmannschen Theorieentwicklung herauskristallisierten. So nimmt er Bezug auf den komplexitätstheoretischen Ansatz, den operativen bzw. selbstreferentiellen Ansatz, den differenztheoretischen bzw. formenanalytischen Ansatz und den medientheoretischen Ansatz.
Erst dann geht Akalin auf Luhmannsche methodische, funktionale, kausale, strukturelle etc. Erklärungsmodelle ein, setzt sie in das Verhältnis zu den Erklärungsmodellen bisher im Fokus stehender Theorieansätze und stellt somit klassische Annahmen auf den Kopf, die Füße oder ganz anders auf, womit die Besonderheiten des Systemansatzes zunächst allgemein konturiert werden. Autopietische Systemtheorie in Sonderheit wird dann für die Betrachtung des Relationsverhältnisses von Kultur und Sozialem, und was sie dabei zu beobachten erlaubt, in den Mittelpunkt der weiterführenden Abschnitte gerückt.
Er nutzt hierfür die Betrachtung von drei Sinndimensionen, nämlich die Fundierung der Sozialdimension, geht der Frage nach, was die Sachdimension und die Zeitdimension von Sinn kennzeichnet und wie sie im Sinne Luhmannschen Denkens zu verorten sind.
Zur Fundierung der Sozialdimension von Sinn wendet sich der Autor der bedeutendsten und kleinsten Einheit des Sozialen, nämlich der Kommunikation, im Gegensatz zur Handlung zu und setzt sie in ihrer Bedeutung und Erklärung, dem bisher hochgehaltenen Handlungsansatz klassischer Konzepte entgegen. Hier wird Kommunikation in ihrer Rolle als entscheidendes, neutrales Moment sozialer Interaktion, mit Ausgangspunkt in einer sozialen Situation, ausführlich beschrieben und an die autopoietische Reproduktion sozialer Systeme gekoppelt.
Um die Sachdimension von Sinn zu erhellen, werden die zentralen, komplementären Begriffe; Beobachtung und Operation, bei der Unterscheidung von System und Umwelt erörtert und die dabei bisher kritisierte Einbuße der Wichtigkeit des Menschen bzw. des menschlichen Bewusstseins im Luhmannschen Ansatz, anhand von Beispielen entkräftet. Gleichwohl verweist der Autor darauf, dass „Personen“, Konstruktionen der Kommunikation, zum Zwecke der Kommunikation darstellen und sie ihre Einheit, der Autopoiesis des sozialen Systems der Gesellschaft, dessen Produkte sie sind, verdanken. Diese beschriebenen Relationen von Kommunikation und Bewusstsein, werden dann auch für die Beziehung zwischen den gesellschaftlichen Funktionssystemen aufgegriffen und hinsichtlich der These autopoietischer Geschlossenheit, bei gleichzeitiger operativer und struktureller Kopplung erläutert.
Die zuletzt vom Autor betrachtete Dimension von Sinn ist die Zeitdimension. Ähnlich wie im vorangegangenen Abschnitt geht der Autor zunächst auf individuelle und an das menschliche Gedächtnis gebundene Strukturformen -Erwartungen und Erinnerungen- ein, bevor er sich, mittels evolutionstheoretischer Überlegungen, den Fragen der Strukturveränderung im Rahmen der Gesellschaft zuwendet. Und während Erwartungen und Erinnerungen als Strukturformen eines sozialen Systems angesehen werden, wird Gedächtnis als Operator in der Gegenwart aufgefasst und beschrieben, woraus sich die Funktion des sozialen Gedächtnisses, zu Vergessen und Selbstblockierungen des Systems zu verhindern, ableite. Die Luhmannsche Auffassung von Evolutionstheorie, als theoretisches Schema für historische Untersuchungen, wird vom Autor dann auf dessen semantische Studien bezogen. Im Ergebnis erscheine dabei lediglich die Selektion der Semantik an die Gesellschaftsstruktur gekoppelt, nicht aber deren Genese bzw. Variation. Akalin bezieht diese Ansicht abschließend auf das Verhältnis von Inklusionssemantiken moderner Gesellschaften und entsprechender Gegenkonzepte, so genannter Begleitsemantiken.
Zum Rück- und Ausblick
Im abschließenden Teil verzichtet Akalin auf eine rückblickende Zusammenfassung und geht stattdessen auf die Innovationen der Systemtheorie für eine moderne Kulturtheorie ein. Gleichwohl macht er am Ende auch Einschränkungen für eine kulturtheoretische „Verwendung“, zumindest für einzelne Aspekte systemtheoretischer Überlegungen plausibel. Er resümiert dennoch eine grundlegende Zukunftsträchtigkeit der Systemtheorie gegenüber anderen alternativen Sozialtheorien.
Diskussion
Das Buch wendet sich an Dozierende und Studierende der Sozial- und Kulturwissenschaften mit den Schwerpunkten Kultursoziologie, Kommunikation und moderne Gesellschaft. Es bedarf einer hohen fach- und fremdsprachlichen Entschlüsselungs- und Verstehenskompetenz, damit man in den Genuss einer sehr guten Einführung in die Grundlagen handlungstheoretischer bzw. kulturtheoretischer Konzepte kommen kann. Unter dieser Voraussetzung erscheint die Intension des Autors, die Systemsoziologie als genuine Kulturtheorie zu lesen und damit zur trennscharfen Konturierung des Gegenstandes in der Debatte des Cultural Turns beizutragen, durchaus interessant. Wer sich allerdings von diesem Buch verspricht, pragmatische Anwendungsbezüge herstellen zu können, etwa für die Soziale Arbeit, die sich ja bereits auch auf den Luhmannschen Ansatz und einige klassische Vorläufer besinnt, der dürfte die Mühen der Erschließung theoretischer Höhen keineswegs scheuen und sollte obendrein Kreativität und theoretisches Interesse als Begleiter an der Seite haben. Für Fachwissenschaften mit anderen Zielen und Interessen, etwa Erklärungsmodelle für Zusammenhänge zwischen Sozialem und Kulturellen einer Gesellschaft zu erkunden oder die Entwicklung und sozialtheoretische Fundierung des Kulturbegriffs zu verfolgen, ist dieses Buch sicher zu empfehlen. Aufbau und Struktur sind klar und eindeutig und erleichtern zumindest in gewissem Maße das Erfassen hoch komplexer theoretischer und sprachlich komprimierter Konstruktionen.
Fazit
Mit diesem Buch liegt ein Vergleich klassischer soziologischer Schlüsselwerke der Debatte des Cultural Turns mit dem systemsoziologischen Konzept Luhmanns vor, der sich an Dozierende und Studierende der Sozial- und Kulturwissenschaften wendet.
Rezension von
Dr. phil. Oda Baldauf-Himmelmann
Ausgebildete systemische Therapeutin / Familientherapeutin, Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin und Kulturwissenschaftlerin. Arbeitet als Akademische MA an der Brandenburgisch-Technischen Universität Cottbus/Senftenberg (BTU CS)
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Zitiervorschlag
Oda Baldauf-Himmelmann. Rezension vom 24.01.2012 zu:
Fehmi Akalin: Die kulturellen Dimensionen des Sozialen. Ein Vergleich handlungstheoretischer und systemsoziologischer Kulturkonzepte. Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2011.
ISBN 978-3-8300-5446-7.
Schriftenreihe Schriften zur Kulturwissenschaft - Band 88.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11296.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.
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