Bruce M. Hood: Übernatürlich? Natürlich!
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 30.09.2011

Bruce M. Hood: Übernatürlich? Natürlich! Warum wir an das Unglaubliche glauben.
Spektrum Verlag
(Heidelberg) 2010.
449 Seiten.
ISBN 978-3-8274-2543-0.
24,95 EUR.
CH: 36,50 sFr.
Reihe: Spektrum-Akademischer-Verlag-Sachbuch. Aus dem Engl. übers. von Stephan Matthiesen.
Thema
Glauben und Wissen bilden für die Menschen oft einen unerklärlichen Gegensatz, der zu Zweifel und Grübeleien führt. Realität und Transzendenz, wo sind da die Grenzen? Was können wir mit unseren fünf Sinnen erfassen und was bleibt uns unerfahrbar oder können wir vielleicht gegenwärtig noch nicht erfahren? Den sechsten Sinn, unbewusste Wahrnehmungen jenseits der fünf Sinne u. a. in Gestalt von Telepathie und Präkognition sind Biologen laut Wikipedia mittlerweile auf die Spur gekommen, indem sie u. a. das hirnphysiologische Korrelat im Stirnlappen mittels Magnetresonanztomographie lokalisiert haben. Doch wie steht es mit dem religiösen Glauben und dem Aberglauben mitsamt dem magischen Denken? Auch hier wurden bereits bestimmte Hirnareale gefunden. Doch wie sind diese Ergebnisse einzuschätzen? Die Gemeinschaft der Wissenschaftler ist in dieser Frage zutiefst und unüberbrückbar in zwei Lager gespalten - in die Gruppe der „Materialisten“, die jedwedes Phänomen jenseits der fünf Sinne als unwissenschaftlichen Humbug ablehnen und damit auch nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Und in die Gruppe der Wissenschaftler, die die Position vertreten, dass wir uns diese Phänomene zwar gegenwärtig nicht erklären können, sie jedoch als empirische Fakten zu würdigen haben. Der Autor der vorliegenden Abhandlung ist der Gruppe der „Materialisten“ zuzuordnen.
Autor
Bruce M. Hood ist Professor für Psychologie und Leiter des Bristol Cognitive Development Centre in der Abteilung für Experimentelle Psychologie der Universität Bristol. Er hat in Cambridge, London und am MIT geforscht und war Professor an der Harvard Universität. Für seine Forschungsergebnisse erhielt er viele akademische Auszeichnungen.
Aufbau und Inhalt
Die Arbeit ist in einen Prolog und zehn Kapiteln untergliedert.
Zu Beginn expliziert der Autor seine Vorstellungen von dem so genannten „Übersinn“. Darunter versteht er u. a. Phänomene wie Religion, paranormale Phänomene und Wunschdenken, die seiner Meinung nach „übernatürlich und unwissenschaftlich“ sind, da keine „zuverlässigen Belege als Bestätigung“ vorliegen. Als Beispiele für abergläubisches Denken führt er z. B. Tony Blair an, der in der Fragestunde des Parlaments immer dieselben Schuhe trägt. Und Barack Obama spielte an jedem Wahltag Basketball, um ins Weiße Haus zu gelangen. Die folgenden Ausführungen bestehen aus verschiedenen Ansätzen, diese Erfahrungen und Empfindungen durch psychologische Erklärungszusammenhänge zu erläutern, wobei er besonders auf das entwicklungspsychologische Konzept des magischen Denkens von Jean Piaget zurückgreift. Nach diesem Modell entwickeln Kinder im Vorschulalter die Vorstellung, dass das Weltgeschehen durch nichtwahrnehmbare Strukturprinzipien zu deuten sei. Diese Denkweise verliert im weiteren Verlauf der geistigen Entwicklung zwar als zentrales Erklärungsmuster der Umwelt an Bedeutung und wird durch rationale Denkschemata ersetzt, doch es bleiben Reste erhalten, die als Beleg für das Entstehen von Religion und Aberglauben angeführt werden. Hood erläutert, dass hierbei regelrecht von zwei phylogenetisch verschiedenen Denkstrukturen ausgegangen werden kann: natürliche, intuitive und automatische Erkenntnismodalitäten werden von rationalen und logischen Konzepten, den Exekutivfunktionen, überformt und auch ergänzt. Sie stehen quasi nebeneinander.
Diskussion
Die Abhandlung entspricht den Erwartungen an eine populärwissenschaftliche Publikation, denn sie ist allgemeinverständlich, leicht lesbar und mit vielen Beispielen aus dem Alltagsleben plastisch und anschaulich geschrieben. Aus wissenschaftlicher Sicht hingegen sind den Thesen und der Argumentationsweise schwerwiegende Mängel zu unterstellen. Folgende Aspekte sind hierbei besonders hervorzuheben:
- Die unzulässige Vermengung von Seinsbereichen wie Religion, Aberglaube und Erfahrungen des sechsten Sinnes. Die schwammigen Kategorien des Autors wie „Übersinn“ und „Supernaturalismus“ bieten keinen eindeutigen begrifflichen Rahmen einer angemessenen Gegenstandserfassung.
- Das unredliche Vorgehen, Fakten und Phänomene des sechsten Sinnes als bloßen Glauben oder als nicht überprüfbare Empfindungen abzutun. Der Autor ist nicht bereit, Erfahrungen, die nicht im Labor verifiziert werden konnten, als Faktizität der Lebenswelt anerkennen zu wollen. Diese enge und damit zugleich auch unwissenschaftliche Sichtweise der Empirie ist letztlich Ausdruck einer weltfernen Dogmatik.
Fazit
Es kann nicht sein, was nicht sein darf - das ist in diesen Ausführungen das Motto des Autors. Wissenschaftliches Denken zu Beginn des 21. Jahrhunderts sollte mittlerweile jedoch andere Qualitäten besitzen. Daher bleibt nur das Fazit zu ziehen, dass diese Abhandlung keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse enthält.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Es gibt 224 Rezensionen von Sven Lind.
Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 30.09.2011 zu:
Bruce M. Hood: Übernatürlich? Natürlich! Warum wir an das Unglaubliche glauben. Spektrum Verlag
(Heidelberg) 2010.
ISBN 978-3-8274-2543-0.
Reihe: Spektrum-Akademischer-Verlag-Sachbuch. Aus dem Engl. übers. von Stephan Matthiesen.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11338.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.
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