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Susanne Elsen (Hrsg.): Ökosoziale Transformation

Rezensiert von Prof. Dr. Volker Brinkmann, 27.07.2011

Cover Susanne Elsen (Hrsg.): Ökosoziale Transformation ISBN 978-3-940865-19-9

Susanne Elsen (Hrsg.): Ökosoziale Transformation. Solidarische Ökonomie und die Gestaltung des Gemeinwesens. Perspektiven und Ansätze von unten. AG SPAK Bücher (Neu Ulm) 2011. 450 Seiten. ISBN 978-3-940865-19-9. 32,00 EUR.

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Thema

Solidarökonomie ist, so Susanne Elsen, „eingebettet in die sogenannte lebensdienliche Ökonomie und Transformation des Gemeinwesens, sie zielt auf eine relative Unabhängigkeit in der Versorgung von Nahrungsmitteln, der Bodenbewirtschaftung, der sozialen und gesundheitlichen Dienstleistungen, der Daseinvorsorge insbesondere Wasser und Energieversorgung, der Kontrolle über Geld sowie der Sicherung und Schaffung von lokalen Erwerbsarbeitsplätzen“.

Der vorliegende Sammelband befasst sich über die Kritik am herrschenden Wirtschaftssystem hinausweisend mit der Analyse, Erfahrungen, Wissen, Theoriekonzepten und der Methodologie kollektiven Lernens in solidar- und gemeinwesenökonomischen Formen des Wirtschaftens. Diese brauchen die Unterstützung durch ordnungs- und sozialpolitische Entscheidungen, um einerseits Ermöglichungsstrukturen im lokalen Nahraum aufzubauen und um anderseits Erkenntnisse und Wirkungen für eine zukünftige Strategie der ökosozial handelnden Weltgesellschaft zu erzielen. Die globalen Entwicklungsziele sind den Rio Prinzipien aus dem Jahr 1992 entlehnt - „make poverty history, make conflicts and wars history, make environment distruction history, make human abuse history“! Konzeptionell basierend auf einem Wirtschaftsverständnis, das Solidarökonomie, Demokratie, soziale Teilhabe und ökosoziale Entwicklung zusammen denkt und in einer Politik der Möglichkeiten, welche die Zukunft nachhaltiger Entwicklungsstrategien in den Organisationsprinzipien von Assoziationen zusammenbringt.

Herausgeberin

Die Herausgeberin des Sammelbandes ist Dr. Susanne Elsen, sie ist Sozialwissenschaftlerin und Professorin an der Freien Universität Bozen. Sie vertritt seit vielen Jahren in Lehre, Forschung und Entwicklung den Bereich der Ökonomie des Gemeinwesens und der ökosozialen Entwicklung städtischer und ländlicher Räume und ist im europäischen und außereuropäischen Raum tätig. Neben der wissenschaftlichen Leitung des europäischen Masterstudiengangs „Community Development and Local Economy“ und des Zertifikatskurses „Nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume“, ist sie aktiv beteiligt an verschiedenen innovativen Projekten in Südtirol. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen in den genannten Themenfeldern.

Inhaltsübersicht

  • Susanne Elsen - Die Zukunft hat begonnen - eine Einführung
  • Susanne Elsen/Jane Addams - Demokratie, soziale Teilhabe und ökosoziale Entwicklung, Ökosoziale Transformation und die Gestaltung des Sozialen
  • Adelheid Biesecker - Ökosoziales Wirtschaften und gesellschaftliche Entwicklung
  • Geseko v. Lüpke - Wirtschaftskrise - Menschheitschance? Projekte der Hoffnung als Modelle für eine neue Welt
  • Susanne Elsen - Solidarische Ökonomie, die Wiederentdeckung der Commons und die ökosoziale Entwicklung des Gemeinwesens
  • Christa Müller - Urbane Agrarkultur und neue Substistenz
  • Hans-H. Münkner - Solidarökonomie und Entwicklungszusammenarbeit
  • Bernd Hamm - Das Hoffen lernen - Zukünfte partizipativ gestalten
  • Cordula Kropp - Erkennen und Gestalten - Lassen sich durch Szenariobildung die Grenzen bisheriger Problemlösungsprozesse für eine zukunftsfähige Gestaltung der Energienutzung im Bau- und Wohnbereich überwinden?
  • Romain Biever - Die Solidarwirtschaft als Raum für gesellschaftliche Experimente
  • Markus Litz - Kulturarbeit als soziale Skulptur - Kreativität, Solidarökonomie und Verantwortung Ansätze zukunftsfähiger Entwicklung des Gemeinwesens
  • Tilo Klöck - Sozialkulturelle Bildung, Empowerment und kooperative Existenzgründungen in benachteiligten Gebieten
  • Günter Rausch - Wohnen ist Menschenrecht - der Kampf um die Erhaltung öffentlicher Wohnungen in Freiburg
  • Iris Beuerle - Mitgliederförderung in Wohnungsgenossenschaften als Beitrag zur ökosozialen Entwicklung des Gemeinwesens
  • Rosane Yara Rodrigues Guerra - Der gesellschaftliche Beitrag von Produktivgenossenschaften im Dritten Sektor
  • Burghard Flieger - Energiegenossenschaften - Eine klimaverantwortliche, bürgernahe Energiewirtschaft ist möglich
  • Urban Nothdurfter - Sozialgenossenschaften und ihre wachsende Bedeutung für die Organisation des Sozialwesens in Südtirol
  • Marianne Kaiser - Was heißt schon „schwer vermittelbar“: Bürgerarbeit und solidarökonomische Handlungsfelder, Perspektiven für Frauenprojekte?
  • Reinhard Gunsch - “„Cultura Socialis“ - ein Lernpfad für das Land Südtirol
  • Brandstetter, Manuela/Immervoll, Karl - Erkenntnisse und Ausblicke einer sozialräumlichen Bedarfsanalyse Gesundheitsfördernde Hilfen für Familien in Heidenreichstein
  • Franz Galler/Norbert Rost - Solidarökonomischer Aufbruch der Region Berchtesgadener Land
  • Fabian Thiel - Bodenpolitik und ökosoziale Entwicklung am Beispiel Cambodia.

Aufbau

Das Buch umfasst insgesamt zweiundzwanzig Beiträge. S. Elsen führt in das Buch ein. Der Titel der Einführung lautet vielversprechend die „Zukunft hat begonnen“. In einem zweiten Artikel unter der Überschrift Rückblick erweitert S. Elsen mit historischem Scharfblick auf die Settlement Bewegung und Jane Addams die Rolle der Sozialarbeit als treibender Kraft in der ökosozialen Transformation und der Entwicklung der Gemeingüter (Commons). Im umfangreichen zweiten Teil (Ausblicke) mit insgesamt neun Artikeln werden neben der Kritik am bestehenden System und dem Wissen vom Ende der postfossilen Ära zukunftsfähige Konzepte vorgestellt und die Gestaltungen durch ökosoziale Transformationsprozesse erörtert. Der dritte Teil (Ansätze) befasst sich in insgesamt elf Beiträgen mit Anwendungsbeispielen solidarökonomischer Entwicklung im Gemeinwesen. Die Artikel der Teile Ausblicke und Ansätze ergänzen sich diesbezüglich gut.

Ich beschränke mich aufgrund der Vielzahl der Beiträge auf eine Auswahl, die stellvertretend für die skizzierten Szenarien auf den Weg zu einem anderem Geschäfts- und Gesellschaftsmodell in schon jetzt realisierten Formen der Solidarökonomie stehen.

Einführung und Rückblick

Elsen Susanne: Die Zukunft hat begonnen - Ein Einführung. Ausgehend vom Wissen um das Ende unseres Zivilisationsmodells, dessen Wachstumsgrenzen scheinbar überschritten sind und aufgrund knapper werdenden Rohstoffe und darum stattfindender Verteilungskämpfe und Kriege ist die Zukunft des postfossilen Zeitalters für Susanne Elsen nicht offen, sondern erfordert nichts weniger, als die nachhaltige Entwicklung und die ökosoziale Gestaltung der Weltgesellschaft. Dies setzt die Schaffung lokaler solidarökonomischer (Lern) Strukturen und bedarfswirtschaftlicher Gemeinwesenökonomien voraus (Unternehmen der Gemeinwesenökonomie z.B. Genossenschaftsformen)! Demnach eine demokratische Organisationsweise, deren Ziel die Förderung der Artikulationsfähigkeit der Machtlosen und Prekären zum Gegenstand hat, um deren demokratische und wirtschaftliche Teilhabe erhöhen. So dass die Asymmetrie der bestehenden Machtverhältnisse beeinflusst und verändert werden. Dies bedingt, so Elsen, Bildungs- und Lernstrategien wie sie in den Gründerzeiten der Sozialarbeit von Jane Addams in Hull House oder in der Chicagoer Schule für Bürgerkunde durch die Arbeiterbildung gewerkschaftlich und zugleich forschungsbasiert organisiert wurde. Sozialarbeit im Hull House unterstützte die Organisationsfähigkeit der Arbeiter, u.a. durch forschungsbasierte Dokumentation und politische motivierte Skandalisierung, um daraus die Inpflichtnahme der Politik herbeizuführen. Gleichzeitig trägt die Initiative von solidarökonomischen und bedarfswirtschaftlichen Gemeinwesenökonomien zur Überwindung entwürdigender karitativer Hilfe bei und geht damit über die aktuellen Diskurse des Bürgerengagements hinaus, welche die Asymmetrie des Reichtums und der Macht beibehalten. Elsen sieht in diesem sozialhistorisch geprägten Beispiel der Lernerfahrungen der Arbeiterklasse an der Schwelle des 19. zum 20. Jahrhundert die Matrize zur Entwicklung aktueller Modelle der Solidar- und der Gemeingüterentwicklung (Commons)!

Ausblicke

Geseko v. Lüpke: Wirtschaftskrise - Menschheitschance? Projekte der Hoffnung als Modelle für eine neue Welt. Geseko von Lüpke formuliert die Leitmaximen des ökosozialen Umbaus. Es braucht demnach neuer Konzepte der Wohlstandmessung die „die Idiotie des Bruttosozialprodukts ablöst“ und wirtschaftlichen Erfolg dem Konzept der Lebensqualität unterordnet. Dazu gehören für ihn die dienende Funktion der Ökonomie für den Menschen, die Entwicklung für den Menschen und die Ablösung des gegenwärtigen Wachstumsbegriffs durch den produktiven Begriff der nachhaltigen Entwicklung (vgl. zum Entwicklungsbegriff genauer Bieseker S. 49-66). Daraus folgt die Erkenntnis, dass Ökonomie ein Subsystem der Ökologie ist, bzw. dass in einem begrenzten Ressourcensystem kein unbegrenztes Wachstum möglich ist. Als oberste Maxime darf kein ökonomisches System wichtiger sein als die Lebens(qualität) der Menschen selbst. Als transformatorischer Prozess der über die kapitalistische Marktwirtschaft hinausweisend ist, gelten für Lüpke deshalb dezentrale Ansätze der lokalen Netzwerkbildung. Beispiele hierfür sind regional und überregional wirksame Entwicklungsansätze, die vor Ort ganz praktisch von den Menschen selbst erdacht und durchgeführt werden. Und somit nach und nach von unten nach oben das gesamte System umformen. Im internationalen Kontext verweist Lüpke u.a. auf die erfolgreichen Projekte KSSP zivilgesellschaftliche Bildungsprojekte in Indien oder auf afrikanische Initiativen wie „Naams“ mit 200.000 Farmern oder die ägyptische „Sekem Farm“ als kooperative Gemeinschaften. Voraussetzung für den Aufbau dieser Formen der Gemeinschaftsbildung und Produktionsweisen ist die Schaffung kulturell verankerter Identitäten der Solidarökonomie bzw. „wenn diese ganz verschiedenen Identitäten es lernen, mit- und untereinander eine Synergie zu schaffen“.

Romain Biever: Die Solidarwirtschaft als Raum für gesellschaftliche Experimente. Romain Biever stellt den Charakter der Solidarwirtschaft unter den Vorbehalt eines moralisch legitimierten Wirtschaftssystems und fordert dazu die Einbeziehung des ganzen Menschen. Die Kritik an der vorherrschenden Produktionsweise erfordert die Solidaritätsgestaltung über bürgerschaftliches Engagement und die Möglichkeiten der daraus entstehenden Einflussnahme auf politische Programme z.B. in der Beschäftigungspolitik. Zur Gestaltung der Räume für gesellschaftliche Experimente bedarf es zunächst der theoretischen Begründung eines moralisch gerechtfertigten Wirtschaftssystems. In Anlehnung am Habermas´schen Demokratieideal lebensweltlicher Beteiligung ist demzufolge der gegenwärtig utilitaristischen Sozialpolitik entgegenzutreten. Mit Verweis auf unterschiedliche Denker wie Dewey und Tönnies begründet Biever im demokratisch inspirierten Gemeinschaftsgedanken die Quelle und das Korrektiv einer moralisch zu begründenden Solidarökonomie. Vor dem genannten theoretischen Hintergrund soll eine demokratische Evolution stattfinden, die letztlich in ein solidarwirtschaftliches System mündet. Biever nennt als Praxisbeispiel das POE Netzwerk zur Beschäftigungsförderung in Luxemburg, das die Schaffung von Arbeitsplätzen durch das Zusammenwirken differenter Institutionspotenziale von aktiver Beschäftigungspolitik, der Umweltpolitik, der Gesundheitspolitik und der Sozialversicherung bewirkt. Alle beteiligten Institutionen, die an der Lösung des sozialpolitischen Problems beteiligt sind, investieren darüber hinaus in das POE Netzwerk in Form einer Mischfinanzierung. Die Verwendung der Mittel wird überprüft, aber die Durchführung, Art und Weise der Maßnahmen durch das Netzwerk ist autonom gestaltbar.

Cordula Kropp: Erkennen und Gestalten - Scenarioprozesse für die ökosoziale Transformation. Die Autorin beschreibt anschaulich den Nutzen von Scenarioprozessen und deren Instrumente für die Solidarökonomie. Unter einem Scenario werden plausibel nachvollziehbare Argumente verstanden, die die Entwicklung der Zukunft nicht allein aus der Vergangenheit bestimmt, sondern aus der Bewertung alternativer Entwicklungswege und deren Relevanz für die Zukunft. Die Scenarioentwicklung dient der politischen Gestaltung und Verständigung von Alternativen und Optionen bezüglich einer zivilgesellschaftlichen gestaltbaren Zukunft. Die Autorin versteht es die Funktion und Steuerung unsicherer und heterogener Informationen durch Scenarioprozesse welche disziplin- und sektorenübergreifend hergestellt werdem kurz und anschaulich darzustellen. Diesbezüglich wird die cross impact analyse als relevante Methode der Scenarioanalyse und beteiligungsorientierten Szenariobildung ausgeführt. Diese werden durch die Einbeziehung von Experten u.a. als Input in Innovationsworkshop vorbereitet und in einer sektoren- und professionsübergreifenden Risikoprofilbewertung und Nutzenanalyse zusammengefasst. Hierfür benennt Cordula Kropp Beispiele aus dem Produktionsbereich für energieeffizientes Wohnen und nachhaltiges Bauen.

Christa Müller: Urbane Agrarkultur und neue Subsistenz. „Wenn türkisch alteingesessene Berlin Kreuzberger wie auch junge Großstadtbewohner Gemüse in Bäckerkisten am Kreuzberger Moritzplatz anbauen und in der Bewirtschaftung von Brachflächen und Parks dort Gemüsebeete in Eigenregie betreiben und Selbsterntegärten boomen oder Gemeinschaftsdachgärten angelegt und via Web 2.o vermarktet werden“ dann entstehen, so Christa Müller, eine neue Zugehörigkeit, neue Erfahrungen von Heimat, Wertschätzung und neuer Wahlverwandtschaften und Freundschaften. So existieren allein in New York über 700 Community Garden. Je knapper das Öl und je größer das Reichtumsgefälle desto wichtiger wird die Brachflächenkultivierung, die Anlage von Gemeinschaftsgärten und oder Bürgerparks. Der Wunsch ist der nach der Wiedereroberung von Land für die (Land)Besitzlosen. Ziel ist die urbane Eigenproduktion mit der Stadtentwicklung und kommunalen Engagementformen zu verknüpfen und darüber hinaus dem Konsumismus eine selbst gestaltete Alternative gegenüber zustellen.

Ansätze zukunftsfähiger Entwicklung im Gemeinwesen

Rosane Yara Rodrigues Guerra: Der gesellschaftliche Beitrag von Produktivgenossenschaften im Dritten Sektor. Die Autorin hat sich das Verdienst erworben einen prägnanten Überblick über die Merkmale und Prinzipien der Genossenschaften gegeben zu haben. Insbesondere hinsichtlich der grundsätzlichen Unterscheidung von den mitgliedszentrierten Produktivgenossenschaften zu den herstellungsorientierten Produktionsgenossenschaften. Des Weiteren stellt sie noch einmal die zentralen Arbeitsprinzipien von Genossenschaften im Allgemeinen vor: das Demokratieprinzip, das Gleichheitsprinzip, Einstimmenprinzip und deren Verfassung als Personenvereinigung heraus. Ausgehend von den solidarökonomischen Selbsthilfeinitiativen bis hin zu den genossenschaftlich begründeten Sozialunternehmen. Des Weiteren gibt die Autorin eine detaillierte Übersicht über verschiedene Genossenschaftstypen. Von den Förderungsgenossenschaften, Produktivgenossenschaften zu dem neuren Typ der Sozialgenossenschaften, der insbesondere in Italien eine gesetzliche Grundlage aufweist. Im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus Schwedens erfahren die Genossenschaften momentan eine enorme Aufwertung. Dort entwickelt sich zwischen Staat und Dritten Sektororganisationen eine neue Dynamik der Genossenschaftsbewegung. Aufgrund staatlicher Kürzungen wachsen dort den Produktivgenossenschaften staatliche Aufgaben der Dienstleistungserbringung zu. Ganz im Gegensatz zu Deutschland, dort wurden Genossenschaften bis 2006 rechtlich dem erwerbswirtschaftlichen Sektor zu geschlagen. Erst durch das neue Genossenschaftsgesetz, welche die Einengung der Genossenschaften als rein erwerbwirtschaftliche Vereinigung aufhob, wurde ein gesetzlich relevanter Rahmen für Menschen zwecks wirtschaftlicher Selbsthilfe hierzulande geschaffen. Nunmehr gilt es neben der wirtschaftlichen Perspektive den sozialen und ökologischen Focus zu stärken und im Kontext der Dritten Sektor Produktion anschlussfähig zu machen. Rosane Yara Rodrigues Guerra verweist auf den dort dafür bedeutsamen analytischen Begriff der wohlfahrtstaatlichen Entwicklung der sogenannten „Kooperativierung des Wohlfahrtstaats“ (cooperatization) durch assoziative Gemeinschaften.

Burghard Flieger: Energiegenossenschaften - Eine klimaverantwortliche bürgernahe Energiewirtschaft ist möglich. Wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der Energiegenossenschaften ist die Liberalisierung des Energiemarkts und die Maßgabe, dass alternative Energien ins Netz der Netzbetreiber eingespeist werden dürfen und entsprechend vergütet werden. Nach dem Gesetz aus dem Jahre 2006 und der darin getroffenen Feststellung, dass Genossenschaften wirtschaftliche Selbsthilfe für Gemeinschaftsaufgaben sein können, schließt Burghardt Flieger, dass Genossenschaften sich sehr gut für den Betrieb und die Unternehmensorganisation der nachhaltigen und regionalen Energiewirtschaft eignen. Die Kombination aus Bürgerbeteiligung, Energieverbrauchergenossenschaften, Beschaffungs- und Dienstleistungsgenossenschaften erhöhen den umweltfreundlichen Energiemix und tragen zugleich zur Identifikation als Kapitaleigentümer und Nutzer z.B. für Photovoltaik, als Netzkauf eG oder zur Gründung von Bürgersolargenossenschaften bei. Auch die erhöhte Bereitschaft sich mit der eigenen Energieversorgung dauerhaft auseinanderzusetzen fördert die Identifikation und Kundenbindung. So können kalkulatorische Risiken gerade in der Gründungsphase besser als in anderen Unternehmensformen aufgefangen werden. Aus der Vielzahl von Gründungen und Gründungsverfahren und an den daraus resultierenden Erfahrungen partizipieren mittlerweile viele Interessierte, die aus der Atomstrom- und Kohleverstromung aussteigen wollen.

Urban Nothdurfter: Sozialgenossenschaften im Südtiroler Gemeinwesen. Nach Urban Nothdurfter handeln Sozialgenossenschaften anders als die herkömmlichen Genossenschaften. Nicht die Förderung der eigenen Mitglieder steht im Vordergrund sondern die Förderung des Gemeinwesens. Sozialgenossenschaften stehen z.B. für die soziale und gesundheitliche Dienstleistungserbringung für bedürftige Dritte. Der Autor beschreibt den Wandel der bislang öffentlichen Trägerdominanz in diesem Bereich hin zur Ausweitung privater organisierter sozialer Dienstleistungsangebote. Sozialgenossenschaften werden im Landessozialplan Südtirols ausdrücklich als Leistungserbringer genannt und aufgefordert öffentliche Dienste im Sozial- und Gesundheitsbereich zu übernehmen. Ihnen wird darüber hinaus der subsidiäre Vorrang in der Leistungserstellung eingeräumt. Dieser sozialpolitische Wandel hat seine Begründung in zweierlei Hinsicht, erstens im gesellschaftlich anerkannten Stellenwert der Genossenschaften und zweitens im Kontext der Ausschreibungsverfahren der öffentlichen Kostenträger. Sozialgenossenschaften haben in Italien eine linke und christliche Tradition und sind in der Gesetzgebung seit langem fest verankert. Urban Nothdurfter beschreibt vor diesem Hintergrund die aktuelle Entwicklung und die Akzeptanz der Genossenschaften als ein innovatives Instrument gesellschaftlicher und sozialer Problemlösungen. Sozialgenossenschaften sind somit einerseits Teil des Leistungssystems, aber darüber hinaus mit eigenständiger sozialpolitischer Zielformulierung befasst. Der Verfasser gibt einen prägnanten Überblick über die genossenschaftlichen Verbandsstrukturen als Träger sozialer Dienste, die sich eben nicht auf die Leistungserbringung reduzieren lassen wollen, da sonst ihr Spezifikum d.h. ihre eigensinnige demokratische und soziale Herstellungs- und Handlungslogik verloren gehen würde. So dass die Verbände sehr darauf achten, dass ihre autonome Handlungsfähigkeit im Kontext der sozialen und gesundheitlichen Dienstleistungserstellung erhalten bleibt.

Diskussion

Erfreulich an diesem Sammelband ist, dass es im Gegensatz zu anderen Herausgaben gelingt, sich ergänzende Beiträge anzubieten. Insbesondere hinsichtlich der Bedeutung der Gemeingüter (Commons) und der Genossenschaften als den zentralen Elementen der Solidarökonomie.

Dieses Buch tritt dem aktuellen Modell des Wettbewerbskapitalismus gegenüber, welcher fortlaufend neue Verlierer produzieren muss, um als System überleben zu können. Ebenso tritt die Solidarökonomie den Spaltungstendenzen einer Gewinnmaximierungsgesellschaft entgegen und zwar mit dem Weg des selber Machens in Verbindung der Gestaltung praktischer gemeinschaftlicher und solidarischer Entwürfe im Gemeinwesen. Also dort zu beginnen und anzufassen und nicht auf große Gesellschaftsentwürfe und Debatten von oben oder sonst woher zu warten. Zugleich mit der Erkenntnis, dass die solidarökonomischen Beiträge in der gegenwärtigen anlaufenden ökosozialen Transformation der Gesellschaft diesmal auf großen Widerhall und auf die gestiegene Veränderungsbereitschaft der Menschen hierzulande treffen. Die Debatten zum Atomausstieg oder Stuttgart 21 sind nur Indizien hierfür. Die Gegner werden versuchen, diesen solidarökonomischen Ansätzen, wie so oft, antimoderne und posttraditionale Züge und Strategien unterstellen: „dass sie (Solidarökonomie A.d.V.) nicht in der Lage ist, Antworten auf die komplexen Herausforderungen dieser Zeit zu geben“. Aber diese solidarökonomischen Protagonisten kümmern sich anscheinend nicht darum und machen es einfach. Die Zeit, so der einhellige Tenor der Autoren, ist reif für handfeste und (er)lebbare Zukunftsentwürfe. In Verbindung mit einem offenen Diskurs, welchem Gesellschaftstypus die Erdenbürger sich zukünftig verpflichtet bzw. zugehörig fühlen wollen. Politisch ausgedrückt, die Menschen können und wollen ihre Zukunft selbst (mit)bestimmen.

Ergänzend hätte ich mir eine genauere Darstellung der theoretischen Grundlagen des intermediären Zusammenspiels von Markt, Staat, Familie und Selbstorganisationen gewünscht. Insbesondere die genauere Schnittstellenbeschreibung zwischen öffentlicher rechtlicher Daseinsvorsorge, marktwirtschaftlicher Dienstleistungserbringung und wirtschaftlichem Handeln in Selbstorganisation. Ebenso die systematische Einbindung der Kooperativen in eine Strategie und theoretische Fundierung der Synergieeffekte des Genossenschaftswesens. Die intermediäre Funktionsbestimmung derselben im Zusammenhang mit neuen Ansätzen der Leistungsverwaltung als bürgerzentrierte und staatliche Versorgung steht allerdings hierzulande noch grundsätzlich aus.

Fazit

Dieser Sammelband ist eine eindeutige Kaufempfehlung für alle, die die aktuell anstehenden okösozialen Modernisierungsprozesse verstehen und begleiten wollen. Fundiert verknüpft werden Modelle und Beispiele, welche die dafür erforderliche theoretische Ausgestaltung einer ökosozialen Ordungspolitik mit der praktischen Essenz der Solidarökonomie und seiner Reflexion lokaler und globaler Herstellungsbedingungen verbindet. Ein Buch das hilft, den solidarökonomischen Transformations- und Entwicklungsbegriff anzuwenden. Und ein Werk, das die sozialpolitische Initiative mit den (Lern-) Raumerfahrungen der Selbstorganisation durch Genossenschaftsbildung und der Gemeingüterentwicklung (Commons) verknüpft.

Rezension von
Prof. Dr. Volker Brinkmann
Diplom-Sozialwirt, Diplom-Sozialarbeiter/ Sozialpädagoge lehrt und forscht an der Diploma Hochschule, Fachbereich Soziale Arbeit (Sozialwirtschaft/Sozialmanagement, (https://www.diploma.de/forschungsstelle-soziale-arbeit); CM-Ausbilder (DGCC), Supervisor (DGSv), Wirtschaftsmediator. Redakteur bei socialnet für den Bereich International/Länderportraits
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ISSN 2190-9245