Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Bernadette Müller: Empirische Identitätsforschung

Rezensiert von Dr. Juliane Noack Napoles, 18.10.2011

Cover Bernadette Müller: Empirische Identitätsforschung ISBN 978-3-531-17615-4

Bernadette Müller: Empirische Identitätsforschung. Personale, soziale und kulturelle Dimensionen der Selbstverortung. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2011. 414 Seiten. ISBN 978-3-531-17615-4. 39,95 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

Die vorliegende Arbeit widmet sich der Komplexität des Identitätsbegriffes und zeigt einige seiner Anwendungsfelder auf.

Autorin und Entstehungshintergrund

Das Buch „Empirische Identitätsforschung“ stellt die überarbeitete Fassung der Dissertation von Bernadette Müller dar, die 2009 an der Karl-Franzens-Universität Graz abgeschlossen wurde. Hier ist die Autorin auch heute noch als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie tätig.

Aufbau und Inhalt

Die Arbeit besteht aus elf Kapiteln, deren Inhalt im Folgenden jeweils kurz dargestellt wird:

1. Einleitende Bemerkungen zur Identitätsforschung (S.13-17) Neben einführenden Feststellungen zur Thematik stellt die Autorin kurz die folgenden Kapitel inhaltlich vor.

2. Historische Entwicklungslinien des Identitätsbegriffes (S.19-72) Dieses Kapitel zielt auf die Nachzeichnung der historischen Entwicklung des Identitätsbegriffes, wobei es zunächst um die Beantwortung der Frage geht, warum dieser Begriff in den Sozialwissenschaften so rasch an Popularität gewann. Sodann werden die wichtigsten historischen Entwicklungslinien der Identitätstheorien aufgezeigt, die sich nach Ansicht der Autorin grob in eine Linie des symbolischen Interaktionismus und in eine der psychoanalytischen Theorie unterteilen lassen.

3. Begriffsklärungen und Operationalisierbarkeit (S.73-90) Basierend auf der Nachzeichnung der begriffsgeschichtlichen Entwicklung des Identitätskonzepts und der Aufarbeitung klassischer Literatur, wird in diesem Kapitel das Konzept der Identität analytisch in seine unterschiedlichen Komponenten (personale Identität, soziale Identität und Ich-Identität) zerlegt. Die personale Identität meine jene persönlichen Merkmale (biopsychosozialen Merkmale, Körper, Fähigkeiten, Interessen, Persönlichkeitsmerkmale, Biographie), deren Kombination ein Individuum als einzigartig erscheinen lassen. Hingegen spiegele die soziale Identität die Position, die man im sozialen Beziehungsgefüge einnimmt, sowie die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen wider. Die Ich-Identität fungiere als vermittelnde Instanz zwischen personaler und sozialer Identität und „stellt ein Referenz- und Ordnungsschema dar, welches einerseits eine Lösung intrapsychischer Divergenzen und Konflikte zwischen sozialer und personaler Identität anstrebt und andererseits Orientierung bezüglich Einstellungen und Handlungen gibt.“ (S.362)

4. Identitätstheorie im Sinne einer soziologischen Handlungstheorie (S.91-121) In diesem Kapitel möchte die Autorin prüfen, über welches Erklärungspotential das Konzept der Identität verfügt. Dazu werden ökonomische (Wert-Erwartungstheorie), soziologische (Modell des Identitätsbehaupters, interaktionistisch-reflexives Handlungsmodell) und psychologische (Symbolische Selbstergänzungstheorie) Handlungstheorien, die das Konzept der Identität zur Erklärung von Verhaltensweisen heranziehen, dahingehend inspiziert, ob sie in der Lage sind mit dem Konzept der Identität Handlungen zu erklären. Die Autorin geht hierbei von der Annahme aus, dass eine Identitätstheorie im Sinne einer soziologischen Handlungstheorie einen bemerkenswerten Erklärungsbeitrag für Verhaltens- und Denkweisen liefern könne.

5. Personale Herstellung und Darstellung von Identität (S.123-156) Die in den Kapiteln 3 und 4 aus der Theorie abgeleiteten Komponenten der Identität und Hypothesen werden in diesem Kapitel einer empirischen Überprüfung unterzogen. Dazu analysiert die Autorin die Ergebnisse einer von ihr durchgeführten kurzen Befragung mit wenigen offenen Fragen und einer Stichprobe von 173 Menschen im Alter von 14 bis 82 Jahren. Sie eruiert, was die Befragten unter dem Wort Identität verstehen, in welchem Ausmaß ihnen ihre eigene Identität bewusst ist und mit welchen Merkmalen sie ihre eigene Person beschreiben bzw. sich selbst verorten. Als besonders bemerkenswert hält sie beispielsweise fest, dass die vorgefundenen Antworten die Heterogenität des wissenschaftlichen Diskurses zum Ausdruck bringen oder dass etwa ein Drittel der Befragten angab, sich noch nie mit der klassischen Identitätsfrage „Wer bin ich?“ auseinandergesetzt zu haben.

6. Identitätsentwicklung im Laufe der Biographie (S.157-232) Der Fokus dieses Kapitels richtet sich auf die Identitätsentwicklung im Laufe der Biographie, d.h. es werden die wichtigsten Lebensstationen und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Identität thematisiert. Ausgangspunkt sind 38 qualitative Interviews, in denen die Interviewten zu ihrem Lebenslauf, ihrer aktuellen Lebenssituation und zu ihren Zukunftsvorstellungen befragt wurden. Diese werden entlang der Frage „welche Faktoren aus der Vergangenheit und der Gegenwart zu einer gelungenen Identitätsentwicklung führen“ (S.157) aufgearbeitet. In diesem Zusammenhang ist von besonderem Interesse, „wie die Befragten Brüche, Diskontinuitäten und kritische Lebensereignisse reflektieren, wie mit diesen umgegangen wird sowie welche Auswirkungen diese auf ihre Selbstwahrnehmung haben und inwiefern sie in der Lage sind, Kohärenz herzustellen.“ (S.16) Zur Bewertung der Identitätsentwicklung zieht die Autorin „die drei zentralen Aspekte der Identität bei Erikson (…) – Werksinn, Intimität und Zeitperspektive – heran“ und orientiert sich „teilweise an der Operationalisierung des Erikson?schen Identitätskonzepts von Marcia et al.“ (S.157). Ausgehend von der Annahme, dass trotz brüchig werdender Normalbiographien biologische Grundlagen und soziale Institutionen ihre Bedeutung im Lebenslauf nicht gänzlich eingebüßt haben, wird die Identitätsentwicklung in einem altersspezifischen Kontext betrachtet.

7. Sinn und Identität (S.233-252) Der Sinn des Lebens als weitere zentrale Dimension der Identität stellt das Thema des siebenten Kapitels dar und knüpft damit unmittelbar an das vorhergehende an. In Anschluss an die Analyse der 38 Interviews formuliert die Autorin die Bedeutung von Sinn für die Identität folgendermaßen: „Das Selbst ist zur Sinninstanz geworden und wählt aus gesellschaftlich vorgegebenen Sinnangeboten diejenigen aus, die aufgrund der jeweiligen Relevanz- und Wertestruktur vom Individuen präferiert werden.“ (S.367)

8. Soziale Identitäten und ihre Organisationsmuster (S.253-296) In den Kapiteln 8 und 9 geht es vorwiegend um die soziale Identität, welche mit quantitativen Methoden untersucht wird. In Kapitel 8 wird die subjektive Bedeutung von zehn Teil-Identitäten (familiäre, berufliche, nationale, ethnische, politische, regionale, religiöse, schichtspezifische, geschlechtsspezifische und altersspezifische) erkundet. Im Speziellen wird der Frage nachgegangen,: „welche Faktoren den vom Individuum beigemessenen Wert einer sozialen Teil-Identität beeinflussen.“ (S.17) Die Daten stammen aus der repräsentativen österreichischen ISSP-Erhebung 2003/2004 (n=1.006) zum Thema „Nationale Identität und Staatsbürgerschaft“. Die Befragten sollten jene Merkmale angeben, die sie zu ihrer Selbstbeschreibung an erster Stelle, an zweiter und an dritter Stelle verwenden würden. Zunächst behandelt die Autorin die Frage, wie sich die Befragten selbst in sozialer Hinsicht verorten, wie die hierarchische Organisation sozialer Teil-Identitäten beschaffen ist, und aufgrund welcher soziodemographischer bzw. persönlicher Merkmale diese Reihung zustande kommt. Zudem wird die Frage untersucht, welchen Einfluss diese hierarchische Organisation auf Einstellungen und Verhaltensweisen ausübt (S.253f). Als Ergebnis dessen hält die Autorin fest, dass „die Herausbildung der Identität kein rein individuelles Projekt ist, sondern in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet ist“ (S.367)

9. Soziale Identitäten im internationalen Vergleich (S.297-334) In diesem Kapitel wird eine international vergleichende Perspektive auf die Erklärung der sozialen Identität angewandt, indem kulturelle Unterschiede in der Gewichtung der oben genannten zehn Teil-Identitäten aufgezeigt werden und versucht wird diese in einer Mehrebenenanalyse zu erklären. Die leitende Hauptfrage dieses Kapitels lautet wie folgt: „Welche gesellschaftlichen Faktoren führen zu internationalen Unterschieden in der subjektiven Bedeutsamkeit sozialer Teil-Identitäten?“ (S.298) Ganz konkret soll anhand von Daten des International Social Survey Programmes aus 33 Länder (N=42.280) geprüft werden, ob Differenzen in der Sozialstruktur zwischen verschiedenen Nationen Unterschiede in der Struktur der Identität der Menschen bedingen. Als Ergebnis dieser Analyse fasst die Autorin zusammen, dass sich deutlich zeigte, „dass der länderspezifische Kontext die subjektive Bewertung einer sozialen Teil-Identität maßgeblich beeinflusst.“ (S.368)

10. Identität und Merkmale der Persönlichkeit als erklärende Variablen in empirischen Studien (S.335-360) Die verfolgte Absicht dieses Kapitels ist es, ausgewählte Instrumente zur Erfassung der Persönlichkeit und Identität vorzustellen, sie zu diskutieren und darzulegen, welchen Erklärungsbeitrag diese für soziale Einstellungen besitzen. Im Speziellen geht es um die Klärung der Forschungsfrage, welchen Beitrag Aspekte der Persönlichkeit und Identität bei der Erklärung von Lebenszufriedenheit, als einer spezifischen Einstellung liefern. Dazu wird die Beziehung zwischen dieser Einstellung und Aspekten der sozialen und personalen Identität sowie der Ich-Identität empirisch überprüft.

11. Resümee (S.361-373) Abschließend werden die wichtigsten Ergebnisse nochmals zusammenfassend dargestellt und die Bedeutung des Konzepts der Identität für die Sozialwissenschaften und deren Funktionen thematisiert.

Diskussion

Der Anspruch dieser Arbeit ist es, die Komplexität des Identitätsbegriffes und einige seiner vielfältigen Anwendungsfelder darzustellen sowie eine empirische Bestimmung und Analyse des Konzepts zu geben. Damit soll dem Unbehagen über die empirische Unbestimmtheit des Begriffes abgeholfen und konkrete Operationalisierungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Ausgehend von der analytischen Zerlegung des Identitätsbegriffes in eine personale und soziale Identität und eine Ich-Identität, wird sich in einem ersten Schritt zunächst der personalen Identität unter Anwendung qualitativer Methoden und in einem zweiten Schritt der sozialen Identität mit Hilfe quantitativer Methoden gewidmet. Die detaillierte Darstellung der einzelnen Kapitel in dieser Rezension diente dazu aufzuzeigen, wie vielfältig die Fragestellungen sind und wie umfangreich das empirische Datenmaterial ist, das zu deren Beantwortung analysiert wird.

Die Folge dieses umfangreichen Unternehmens ist jedoch, dass die Analyse hinter dem zurückbleibt, was die Daten hinsichtlich identitätsrelevanter Aspekte hergegeben hätten. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass die Verwendung der unterschiedlichen Methoden nicht systematisch methodologisch hergeleitet wird – so bleibt unklar, warum die personale Identität mit qualitativen und die soziale Identität mit quantitativen Methoden erforscht wird. Zum Anderen werden die Ergebnisse nicht systematisch in Bezug gesetzt, was allerdings neben der kumulativen Validierung von Forschungsergebnissen eines der Ziele einer Triangulation ist. Erst die Komplementarität der Ergebnisse führt zu einem vollständigeren Bild des Phänomens, was ja das explizite Anliegen dieser Arbeit hinsichtlich des Phänomens der Identität ist. Außerdem ist die theoretische Basis der Interpretation der Ergebnisse oft nicht unmittelbar einsichtig.

Dieser letzte Punkt soll abschließend anhand eines Beispiels, das sich auf den Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und Bedeutung des Berufs für die eigene Beschreibung bezieht, illustriert werden. Ausgangspunkt ist die These, dass mit ansteigendem individuellen Bildungsniveau die Befragten der meisten Länder den Beruf für die Beschreibung der eigenen Person als bedeutender einstufen. Hier die Erklärung dafür: „Diesen Zusammenhang kann man auf folgende Faktoren zurückführen, welche mit ansteigendem Bildungsniveau im Berufsleben wahrscheinlicher werden: Sinnstiftende Tätigkeit, hohes Berufsprestige, Abwesenheit von negativem Stress, freie Zeiteinteilung, zufriedenstellendes Einkommen, gute berufliche Position, gutes Betriebsklima.“ (S.319) An dieser Stelle fragt sich, ob sich diese Faktoren auf empirische oder theoretische Arbeiten beziehen oder ob es sich hierbei um ad-hoc Interpretationen handelt.

Fazit

Das Buch „Empirische Identitätsforschung“ spiegelt die verworrene Lage im Bereich der Identitätsforschung wider – vielfältige Verwendungsweisen des Identitätsbegriffes mit den dadurch verbundenen Unklarheiten (S.124). Auf fast 400 Seiten wird eine große Anzahl an Forschungsfragen mit Hilfe empirischer Studien zu beantworten versucht, deren fundierte Darstellung für sich genommen schon diese Seitenzahl beansprucht hätte. Leider wird die Unbestimmtheit des Identitätsbegriffes auf diese Weise nicht verringert, sondern lässt im Gegenteil viele Fragen unbeantwortet. Theoretische Fragen: Welches Phänomen wird nun genau als Identität bezeichnet? Ist Identität ein Gattungsbegriff für soziale, personale und Ich-Identität bzw. in welchem Verhältnis stehen diese zum Identitätsbegriff? Methodologische und methodische Fragen: Wie wird der Identitätsbegriff operationalisiert? Warum und mit welchem Ziel werden welche Methoden trianguliert? Wo ergänzen sie sich hinsichtlich der Identitätsthematik?

Rezension von
Dr. Juliane Noack Napoles
Institut für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne der Universität zu Köln
Mailformular

Es gibt 12 Rezensionen von Juliane Noack Napoles.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245