Wolf Rainer Wendt, Peter Löcherbach (Hrsg.): Case Management in der Entwicklung
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Klug, 21.09.2011

Wolf Rainer Wendt, Peter Löcherbach (Hrsg.): Case Management in der Entwicklung. Stand und Perspektiven in der Praxis.
medhochzwei Verlag GmbH
(Heidelberg) 2011.
2., überarbeitete Auflage.
293 Seiten.
ISBN 978-3-86216-048-8.
59,95 EUR.
Reihe: Case Management in der Praxis.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-86216-332-8 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
„Case Management wird zunehmend im Sozial- und Gesundheitswesen eingesetzt. Es soll die Abläufe verbessern, Beteiligte vernetzen, Kooperation fördern und Kosten senken helfen. Das Konzept ist bekannt; die Praxis reift erst nach und nach.
In diesem Werk berichten Experten aus Praxis und Wissenschaft über ihre Erfahrungen mit Case Management. Sie geben nützliche Handlungsanleitungen für die Umsetzung. Das Buch beleuchtet den fachlichen Stand, der im Case Management in seinen verschiedenen Anwendungen im Sozial- und Gesundheitswesen, in der Pflege, im Versicherungswesen und in der Beschäftigungsförderung im deutschsprachigen Raum erreicht ist.
Die vorliegende 2. Auflage berücksichtigt Veränderungen in den letzten Jahren, die sich u. a. mit der Novellierung von Gesetzen im deutschen Sozial- und Gesundheitswesen ergeben haben. So mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz und mit Anpassungen in den Rechtskreisen des SGB II und SGB III.“ (Klappentext)
Herausgeber
Die beiden Herausgeber, Prof. Dr. Wolf Rainer Wendt und Prof. Dr. Peter Löcherbach sind Vorsitzender bzw. stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management (DGCC).
Wolf Rainer Wendt leitete den Studienbereich Sozialwesen der Berufsakademie Stuttgart. Peter Löcherbach ist Professor für Sozialarbeitswissenschaft an der Katholischen Fachhochschule Mainz.
Anmerkung zur 2. Auflage
Das Buch ist die 2. Auflage des gleichlautenden Bandes von 2006. Da sich das Buch seit der 1. Auflage in großen Teilen nicht wesentlich verändert hat, kann in der Inhaltsangabe an mancher Stelle auf die vorliegende Rezension von Yvonne Hofstetter Rogger vom 17.03.2009 (in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/4199.php) verwiesen werden. Wo diese Rezension wörtlich zitiert wird, ist dies selbstverständlich vermerkt.
Inhalte
„Im
einleitenden Beitrag von Wolf Rainer Wendt wird auch deutlich
gemacht, dass Case Management nicht einfach auf eine Methode
reduziert werden kann, die im Einzelfall angewendet wird, sondern
dass Case Management als ein mehrdimensionaler Handlungsansatz zu
sehen ist, der sich auf mehreren Ebenen manifestiert und aus
verschiedenen Perspektiven zu betrachten ist. ‚Case Management ist
politisch gefordert, organisatorisch eingerichtet und methodisch
ausgeprägt‘ (S. 5). Case Management beinhaltet gleichzeitig eine
Steuerung der Versorgung im Gemeinwesen respektive im System der für
bestimmte Zielgruppen vorhandenen Dienste und eine Gestaltung der
fallbezogenen Kooperationsprozesse. Hier geht es um Kommunikation,
Beratung und Herbeiführung von Entscheiden, um Aufgaben und
Verantwortung abzustimmen und zu teilen, wobei die Zielsetzung
gleichzeitig auf das Empowerment der Klientinnen und Klienten wie
auch auf den ökonomischen Einsatz der Mittel gerichtet ist. Des
Weiteren wird [sic] Kompetenz und Kapazität der Case Manager
thematisiert.“ (Hofstetter Rogger 2009)
„Kann Case
Management als methodisches Konzept in den disziplinären
Zusammenhang der Sozialarbeitswissenschaft eingeordnet werden?“,
fragt in seinem Beitrag Manfred Neuffer, und er greift damit
die kritischen Fragen nach dem Verhältnis von Case Management und
Sozialer Arbeit auf. Dahinter steht die Überlegung, ob Case
Management „nicht immer schon Bestandteil der Sozialen Arbeit“
war (S. 42). Neuffer zeigt auf, dass Soziale Arbeit bereits
seit dem Beginn der Entwicklung des Berufes die Grundsätze verfolgt
hat, die jetzt unter dem Label „Case Management“ firmieren. Er
fordert eine Einbindung des Konzeptes in den disziplinären Rahmen
der Sozialarbeitswissenschaft und stellt die „Beziehungsarbeit“
in ihrer besonderen Bedeutung für die Soziale Arbeit heraus. Auch
die „Fallsteuerung“ sieht Neuffer als etwas, das immer
schon Bestandteil gemeinwesenorientierter Sozialer Arbeit war. Die
Konsequenz ist für Neuffer klar: „Case Management stellt
daher ein mögliches unter anderen Konzepten der Sozialen Arbeit dar
und sollte sich nicht aus dem Gesamtrahmen der Sozialen Arbeit
entfernen und eine eigene Verberuflichung anstreben.“ (S.
51)
„Auch der Beitrag von Michael Everts [der
korrekte Name ist Ewers; W.K.] zu Case Management in der Pflege
[wirft] berufspolitische Fragen auf […]. Er betont die Beiträge,
die die Pflege schon seit Jahrzehnten zur Entwicklung von Case
Management geleistet hat, und beschreibt, welche Voraussetzungen noch
zu schaffen sind, damit die Pflegewissenschaft und die Pflegepraxis
im Case Management die Rolle einnehmen kann, die ihnen gebührt.“
(Hofstetter Rogger 2009) Dieser Artikel behauptet somit das
genaue Gegenteil von dem, was Manfred Neuffer für die Soziale
Arbeit reklamiert hat. Ewers klarer Vorteil: Während Neuffer
weitgehend normativ und appellativ bleibt, kann Ewers auf
zahllose empirische Studien verweisen. Der eklatante Unterschied
zwischen beiden Artikeln zeigt sich am Literaturverzeichnis: Während
Neuffer außer seiner eigenen Publikationen kaum einschlägige
Literatur heranzieht, kann Ewers Belege auf mehreren Seiten
ausbreiten.
Siglinde Bohrke-Petrovic beschreibt das
„Fallmanagement in der Beschäftigungsförderung“. Im Zentrum
steht die direkte Arbeit mit den Klientinnen und Klienten. In sehr
informativer Weise wird der gesetzliche Auftrag beschrieben, es
folgen die Ausgangslage für das Fallmanagement, die strategischen
Ziele in den Arbeitsgemeinschaften und die berufsspezifische
Definition des „Beschäftigungsorientierten Fallmanagements“.
Breiten Raum nehmen die Prozessschritte ein, was sehr zum Verständnis
dieses Arbeitsfeldes beiträgt. Eine aktualisierte Literaturliste
wäre allerdings angesichts des rasanten Publikationsstroms gerade in
diesem Gebiet nicht schlecht gewesen.
Rainer Neubart
stellt die Struktur und Arbeitsweise des Geriatrischen Netzwerks
Brandenburg vor. Sein Artikel ist v. a. deshalb bemerkenswert,
weil er völlig ohne Case-Management-Inhalte auskommt.
Mona
Frommelt führt aus, wie „ärztlich induziertes Case
Management“ in der Praxis von HomeCare Nürnberg realisiert wird.
Dabei stellt sie sehr offen dar, was die Beweggründe für das Case
Management aus Sicht der Ärzte sind: „Die Sicherung der
freiberuflichen ärztlichen Tätigkeit und der Stärkung der
Marktposition eines Ärztenetzes in Zeiten einer zunehmenden
Kommerzialisierung, Bürokratisierung und Technisierung des
Gesundheitswesens mit wachsendem Konkurrenzdruck und
Verdrängungswettbewerb sind strategisch wichtige berufspolitische
Ziele zur Optimierung der Versorgungsqualität …“ (S. 109) Mit
HomeCare wird den Patienten ein auf ein Ärztenetzwerk gegründetes
Patientennetzwerk zur Verfügung gestellt.
Jürgen
Ribbert-Elias zeigt die Anforderungen an ein Case Management im
Krankenhaus auf, „das den Namen auch wirklich verdient“ (S. 124).
Die gründlich herausgearbeiteten Kriterien könnten sicher auch für
die Implementierung in anderen Organisationen gelten. Ein gelungener
Artikel!
„Die Bedeutung der interdisziplinären, strukturell
verankerten Vernetzung für eine bedürfnisgerechte pädiatrische
Nachsorge bei chronisch kranken Kindern und Jugendlichen und das dazu
entwickelte ‚Augsburger Modell‘ wird im Beitrag von Waltraud
Baur und Andreas Podeswik anschaulich dargestellt.“
(Hofstetter Rogger 2009)
Milena Roters und
Sören Roters-Möller zeigen Ansatzpunkte für Case Management
im Rahmen der individuellen Hilfeplanung zur Eingliederung
behinderter Menschen. Allerdings bleibt offen, weshalb man ein
bislang bewährtes Verfahren (Hilfeplanung/Teilhabeplanung) unbedingt
in Verbindung mit Case Management bringen muss. Es könnte doch auch
genug sein, einfach die Qualitätsmerkmale guter bisheriger Praxis
als solche zu beschreiben, statt „Flexibilität“ der
Case-Management-Konzepte zu fordern, damit die gängige Praxis
untergebracht werden kann. Ohne diese Absicht den Autoren
unterstellen zu wollen, läuft „Flexibilität“ häufig darauf
hinaus, die bisherige Praxis so zu belassen und sie Case Management
zu nennen.
„Hans Schmidt und Stefan Kessler
machen aus dem ‚Disability Management‘ ein ‚Ability
Management‘. Sie erläutern die Vorteile der Verankerung dieses
Ansatzes zur Vermeidung von Frührenten in Betrieben und was bei der
Einführung zu berücksichtigen ist. (Hofstetter Rogger
2009).“
Mit
konkreten Beispielen und einer sozioökonomischen Argumentation
belegt Stefan Lauer, dass Case Management zur
beruflichen Integration von Unfallpatienten beitragen kann.
Allerdings beschreibt er nur die Fallsteuerung, sodass offen bleibt,
weshalb Case Management besser helfen soll als ein klassischer
Rehaberater. Ob man dann noch „Aktuelle Geschäftsfelder“ der
rehacare GmbH inkl. deren Werbeslogan (S. 210) kennen muss, ist
angesichts des Charakters eines Fachbuches eher fraglich.
Dieter
Best wirft einen kritischen Blick auf Fehlversorgung von Kindern
und Jugendlichen mit Bedarf an psychotherapeutischer Unterstützung
und fordert qualitative Verbesserungen durch die Steuerung des
Behandlungsprozesses. In der ambulanten und stationären Altersarbeit
sind die Möglichkeiten von Case Management offensichtlich noch
längst nicht ausgeschöpft. Viel mehr erfährt man über den
Zusammenhang mit Case Management nicht, denn im Artikel spielt Case
Management eine Nebenrolle, in den sechs zitierten Quellen (allesamt
zwischen 2000 und 2004 erschienen) ist keine einzige dabei, die etwas
mit Case Management zu tun hätte.
Hugo Mennemann
zeigt Bewährtes und Neues aus dem Case Management in der Altenarbeit
auf. Dabei wird die Entwicklung der „Pflegestützpunkte“ kritisch
bewertet, gleichzeitig aber wird festgestellt, wie notwendig eine an
CM orientierte Pflegeberatung wäre. Der Artikel ist ein gutes
Beispiel, wie man mit klarer und begrifflicher Präzision zur
fachlichen Analyse eines Arbeitsfeldes beitragen kann. Einziger
Wermutstropfen: Bei einer Neuauflage sollten unbedingt die
Internetquellen ebenfalls aktualisiert werden.
Das Verhältnis
von Case Management und Jugendhilfe beleuchtet Ruth
Remmel-Faßbender und sie stellt die spannende Frage nach dem
wirklich „Neuen“ des Case Management angesichts der fortlaufenden
Weiterentwicklungen in diesem Bereich. Sie findet sehr viele
Gemeinsamkeiten zwischen Sozialraumorientierung und Case Management
(Empowerment, Infrastrukturgestaltung, interdisziplinäre
Betrachtungsweise), aber auch Unterschiede (Case Management bleibt
auch in der Systemsteuerung bei ihrer Fallgruppe, während Methoden
der Sozialraumorientierung fallunspezifisch „weiter in das Umfeld
reichen“, S. 252). Angereichert mit empirischen Ergebnissen
empfiehlt die Autorin der Jugendhilfe das Case Management, während
der Rezensent diesen Artikel empfiehlt.
„Martin Schmid
und Martina Schu vermitteln einen Einblick in die wenigen
bisher vorhandenen Forschungsergebnisse und werfen
forschungsmethodische Fragen auf. Welche Qualität Case Management
erfüllen soll, damit es seinen Namen verdient, und welche
Qualifikationen unterschiedliche Funktionen im Case Management
erfordern, wird von Peter Löcherbach skizziert.“
(Hofstetter Rogger 2009)
Diskussion
Bei der Lektüre dieses Bandes besticht zunächst, wie vielfältig Case Management mittlerweile verbreitet ist: ob in der Jugend- oder Altenhilfe, ob in der Pädiatrie oder der Versicherungswirtschaft. Das ist die gute Nachricht. Die weniger gute Nachricht: Nicht einmal in einem Buch über Case Management gelingt es, in allen Artikeln ein gemeinsames Verständnis dessen zu finden, über was alle (angeblich) schreiben. Damit sind nicht nur die Artikel gemeint, die entweder gar nicht oder in erkennbar anderer als fachlicher Absicht über ihre Praxis des Case Management berichten. Relativierend zu diesem vielleicht harten Urteil ist hier allerdings anzufügen, dass den meisten wissenschaftlichen Artikeln offensichtlich ein tragfähiger Konsens zugrunde liegt.
Zumindest die Disziplin scheint also einen Schritt weiter gekommen zu sein. Was uns zur spannend bleibenden Überlegung über die zukünftige „disziplinäre“ Heimat des Case Management bringt: Ist es gut aufgehoben bei der Sozialarbeitswissenschaft? Der Pflegewissenschaft? Der Medizin? Das Buch gibt keine eindeutige Antwort, vielmehr bleibt die Frage offen – und das ist einstweilen vielleicht auch gut so.
Was auf der „Professions-Seite“ deutlich wird: Die erfreuliche „Konjunktur“ von Case Management in der Praxis hat ihren Preis, den beispielsweise Ruth Remmel-Faßbender (bezugnehmend auch auf Erkenntnisse von Peter Löcherbach) in ihrem lesenswerten Artikel über Case Management in der Jugendhilfe darlegt. Von Case Management sprechen alle, verwirklicht ist es nur bei manchen, richtig gut verwirklicht nur bei wenigen. Das gilt in abgeschwächter Form auch für die Artikel dieses Buches: Viele sind brauchbar, wenige hervorragend, einige wirklich schlecht. Vielleicht wäre eine stärkere Einflussnahme der Herausgeber auf Auswahl und Gestaltung der Artikel sinnvoll gewesen. Denn nicht überall, wo Case Management draufsteht …
Fazit
Die Lektüre ist insbesondere all jenen empfohlen, die sich ein Bild über die Vielfalt von Case Management in Wissenschaft und Praxis machen wollen. Das Buch bietet in einigen Artikeln eine hervorragende Grundlage, die Verbindung von Theorie und Praxis im Case Management nachzuvollziehen. Und nimmt man die wenigen ärgerlichen Artikel heraus, bleiben doch so viele, dass sich die (übrigens nicht billige) Anschaffung lohnt und sehr empfohlen wird.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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