Sabine Walper (Hrsg.): Hochkonflikthafte Trennungsfamilien
Rezensiert von Dipl. Soz.-Arb. Annegret Sirringhaus-Bünder, 28.02.2012

Sabine Walper (Hrsg.): Hochkonflikthafte Trennungsfamilien. Forschungsergebnisse, Praxiserfahrungen und Hilfen für Scheidungseltern und ihre Kinder.
Juventa Verlag
(Weinheim) 2011.
215 Seiten.
ISBN 978-3-7799-0720-6.
21,00 EUR.
CH: 36,90 sFr.
Reihe: Materialien.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-7799-2436-4 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Das Ziel des Buches ist, neuere Forschungsergebnisse über hochkonflikthafte Trennungsfamilien sowie Praxiserfahrungen und Hilfen für Scheidungseltern und ihre Kinder vorzustellen. Dabei ist der Anspruch, gleichermaßen Forscher/innen und Praktiker/innen zu Wort kommen zu lassen.
Herausgeberinnen und Herausgeber
Dipl.-Psych. Dr. phil. Sabine Walper ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Jugend- und Familienforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität in München; Sie forscht seit langem zu Scheidungsfolgen für Kinder und Jugendliche, zu Paarbeziehungen sowie zu Auswirkungen von Armut auf betroffenen Familien.
Dr. phil. Jörg Fichtner, Dipl-Psych., ist forensischer Sachverständiger im Familienrecht und stellvertretender Leiter der GWG-München, Abteilung Familienrecht. Darüber hinaus ist er als Berater für den Familienotruf München sowie als Fortbildner und Referent tätig. Er war Projektkoordinator des Forschungsprojektes „Kinderschutz bei hochstrittiger Elternschaft“ des BMFSJ beim Deutschen Jugendinstitut, München.
Dipl.-Soz.-Päd. Karin Normann leitet die Beratungsstelle Familiennotruf München und beschäftigt sich als systemische Therapeutin und Mediatorin seit Jahren mit Eltern und Kindern in Trennungs- und Scheidungsprozessen.
Aufbau
Einführung der Herausgeber mit einem Überblick über die Beiträge des Buches.
Drei Teile mit jeweils drei bzw. vier Beiträgen, einschl. Literaturangaben zu den Themen:
- Teil I: Hochkonfliktfamilien: Merkmale und Rahmenbedingungen
- Teil II: Die Situation der Kinder in Hochkonfliktfamilien
- Teil III: Interventionen für Hochkonfliktfamilien und ihre Kinder
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Inhalt
Unter der Überschrift „Hochkonflikthafte Trennungsfamilien als Herausforderung für Forschung und Praxis“ geben die Herausgeber/innen im ersten Kapitel des Buches eine Einführung in die Thematik und einen Überblick über die weiteren Beiträge. Sie stellen Fälle massiver Eskalation von Trennungskonflikten statistisch gesehen als Ausnahmen im Vergleich zu der Gesamtzahl der Ehe-Scheidungen dar, an denen Kinder beteiligt sind, die jedoch die Fachkräfte stark in Anspruch nehmen.
Seit der Neufassung des § 156 FamFG 2009 wird die Beratung dieser Familien vermehrt an die Beratungsstellen verwiesen. Daraus werden folgende Leitfragen für die weiteren Beiträge des Buches abgeleitet:
– Was kennzeichnet solche hochkonflikthaften Trennungsfamilien?
- Lassen sich Typen unterscheiden?
- Was sind Entstehungsbedingungen unversöhnlicher Konflikte und ggf. des Scheiterns von Beratungsbemühungen?
- Welchen Beratungsbedarf haben Eltern und Kinder, und wie kann angemessen darauf eingegangen werden?
- Was kann in gemeinsamer Anstrengung aller beteiligten Professionen getan werden, um die Folgen hochstrittiger Trennungen für die Kinder – aber auch die Eltern – möglichst wirkungsvoll zu reduzieren?
Dem folgt eine kurze inhaltliche Zusammenfassung jeden Beitrags.
In Teil I unternimmt Sonja Bröning im ersten Beitrag den Versuch, Charakteristika hochstrittiger Eltern empirisch nachzuweisen und die praktische Relevanz ihrer Untersuchungsergebnisse für die Diagnostik, präventive Arbeit und Interventionen jeglicher Art, d.h., wo Hilfen wirksam ansetzen können, aufzuzeigen. Die dargestellten Ergebnisse entstammen dem Forschungsprojekt „Kinder im Blick“ und sind Teil einer größeren Studie im Bereich der selektiven Prävention, in der die Wirksamkeit des Gruppenangebots „Kinder im Blick“ für Eltern aus hochkonfliktbelasteten Trennungsfamilien untersucht werden. Sie geht von der Annahme aus, dass es eine Vielzahl von Risikofaktoren gibt, die zu Hochstrittigkeit führen können. Sie stellt fest, dass sich Hochstrittige empirisch in einigen Punkten von weniger strittigen Eltern in Trennung unterscheiden, wie z.B. in ihren Streitmustern, ihrer Attritionen in Bezug auf den anderen Elternteil und ihrer Verbundenheit.
Im zweiten Beitrag setzen sich Jörg Fichtner, Maya Halatcheva und Eva Sander mit der Diagnostik von hochkonflikthaften Eltern und dem Erkennen und Einschätzen von eskalierten Trennungskonflikten auseinander. Sie unternehmen den Versuch, Kriterien zu beschreiben, an denen sich „Hochkonflikthaftigkeit“ messen lässt, verweisen dabei auf die heterogenen Definitionen des Begriffs und auf die erheblichen Schwierigkeiten, ein genaues Messinstrument für das elterliche Konfliktniveau zu entwickeln. Ihr Fazit: Es gibt sowohl für eine konventionelle Testdiagnostik als auch für eine qualitative Diagnostik und Anamnese hinreichend Gesichtspunkte, die zu Beginn von Interventionsbemühungen überprüft werden können und sollten. Verbunden mit der Berufserfahrung, die inzwischen bei vielen Berater/innen vorliegt, sollte es so möglich sein, Hochkonfliktkonstellationen möglichst rasch zu erkennen und entsprechende Angebote zu machen.
Im dritten Beitrag gibt Dirk Hornickel eine Übersicht über das neue familiengerichtliche Verfahren nach § 155 FamFG (Vorrang- und Beschleunigungsgebot) und § 156 FamFG (Hinwirken auf Einvernehmen), die Aufgaben und Rollen der Verfahrensbeteiligten, insbesondere des Jugendamtes. Sein Fazit: Das Verfahren in Kindschaftssachen verbindet die vorrangige und beschleunigte Bearbeitung mit dem stärker als bislang akzentuiertem gerichtlichem Hinwirken auf Einvernehmen. Dies stellt das Gericht und alle sonstigen an dem Verfahren beteiligten Berufsgruppen vor Herausforderungen. Als unerlässlich sieht er daher den Aufbau einer funktionierenden Kommunikationsstruktur zwischen den Verfahrensbeteiligen.
Im vierten Beitrag gibt Christine Gerber unter dem Thema: „Hochkonflikthafte Trennungen und Scheidungen aus der Sicht des Jugendamtes“ einen Überblick über die Aufgaben des Jugendamtes und die besonderen Herausforderungen durch die neuen gesetzlichen Regelungen des beschleunigten Verfahrens. Sie fokussiert auf zwei Aspekte: das familiengerichtliche Verfahren, gekennzeichnet durch die Grundsätze des „Hinwirkens auf Einvernehmen“ und des „beschleunigten Verfahrens“ sowie den Aspekt der Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 8a SGB VIII, der in Fällen von Hochkonflikthaftigkeit stärker in den Blick genommen werden sollte. Ihr Fazit: Aufgrund der neuen Regelungen des FamFG muss das Jugendamt seine Rolle und seinen Auftrag im familiengerichtlichen Verfahren reflektieren und an manchen Stellen vielleicht sogar neu ausrichten.
In Teil II stellen Sabine Walper und Förg Fichtner unterschiedliche Erklärungsmodelle für die Auswirkungen und Folgen von Hochkonflikthaftigkeit auf Kinder und Jugendliche gegenüber. Sie konstatieren eine breite Palette relevanter Einflussfaktoren, die neben persönlichen Bewältigungsressourcen zahlreiche Aspekte der jeweiligen Lebensbedingungen umfasst und in der gerade der Beziehung zwischen den Eltern eine Art Schlüsselfunktion zukommt. Sie beschreiben die Bedeutung von Konflikten bei Elterntrennungen und die besondere Rolle von Hochkonflikthaftigkeit für die Belastung der Kinder bei hochstrittigen Trennungen, sowie Erklärungsmodelle zur Wirkungsweise von Elterntrennungen und Konflikten auf Kinder. In ihren Schlussfolgerungen betonen sie die Wichtigkeit, der Beziehung zwischen den Eltern auch nach der Trennung bzw. Scheidung hinreichend Aufmerksamkeit zu schenken und für eine Entlastung der Kinder zu sorgen, indem sie z.B. aktiv in den Beratungsprozess einbezogen werden und spezifisch zugeschnittene Angebote erhalten.
Der sechste Beitrag stammt von Heinz Kindler. Er beschäftigt sich mit Partnerschaftsgewalt, Hochstrittigkeit und der Frage nach sinnvollen Interventionen: „Äpfel, Birnen oder Obst?“. Nach einem kurzem „Schwenk“ über die gesellschaftliche Entwicklung bzw. den gesellschaftlichen Lernprozess in Deutschland zum Umgang mit Trennung und Scheidung erörtert er, ob und in welchem Ausmaß Trennungsverläufe nach Partnerschaftsgewalt als Untergruppe hochstrittiger Trennungsverläufe angesehen werden sollen. Dazu stellt er Befunde zu Gewalt und Trennung, zu verschiedenen Untergruppen Gewalt ausübender Eltern und zu kindlichen Belastungsreaktionen nach Partnerschaftsgewalt im Überblick dar und diskutiert die Frage nach Unterschieden zu und Gemeinsamkeiten mit hochstrittigen Trennungsverläufen. Er beendet seinen Beitrag mit Hinweisen auf bisherige Studien, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Partnerschaftsgewalt und Hochstrittigkeit und darauf bezogenen Handlungsempfehlungen beschäftigen.
Im siebten Beitrag setzt sich Lutz Goldbeck mit den psychischen Folgen häuslicher Gewalt für Kinder auseinander. Er bezieht sich auf Studien zu Auswirkungen chronischer intrafamiliärer Konflikte auf die psychosoziale Entwicklung von Kindern und Epidemiologische Untersuchungen an Frauen, die infolge häuslicher Gewalt Frauenhäuser aufgesucht haben und benennt die kontextuellen Bedingungen häuslicher Gewalt. Er beschreibt die Folgen häuslicher Gewalt für Kinder, einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen, um dann Hinweise für Prävention und Therapie zu geben. Sein Fazit: Häusliche Gewalt ist ein Hochrisikofaktor für die Entwicklung von Kindern.
Im Teil III, im achten Beitrag, geben Astrid Schüler und Ulrike Löhr auf der Basis allgemeiner Hinweise bezüglich der Auswirkungen der Trennung und Scheidung der Eltern auf ihre Kinder einen Praxisbericht über die Arbeit mit Trennungs- und Scheidungskindergruppen im Rahmen des Projektes „Zusammenwirken im Familienkonflikt“. Dargestellt wird ein spezifisches Unterstützungsangebot für die Kinder samt intensiver Elternberatung auf der Grundlage eines systemischen Beratungs-Verständnisses.
Im neunten Beitrag schildern Katrin Normann und Stefan Mayer Struktur, angewandte Methodiken, die professionelle Haltung und den Kontext der Arbeit in der Beratungsstelle Familien-Notruf in München, in der seit der Kindschaftsrechtsreform im Jahr 1998, entsprechend dem allgemeinen Trend die Fälle, elterlicher Sorge- und Umgangskonflikte zunehmen. Vorgestellt wird das Phasenmodell der Beratungsstelle, die Elemente des beraterischen Vorgehens sowie die Rolle der Professionellen, jeweils belegt mit Beispielen aus der Praxis.
Im zehnten Beitrag setzen sich Joseph Salzgeber, Bettina Bergau und Jörg Fichtner mit den Möglichkeiten und Grenzen lösungsorientierter Begutachtung bei Hochkonfliktfamilien auseinander. Bezugnehmend auf das so genannte Cochemer Modell verweisen sie auf Traditionen interdisziplinärer Zusammenarbeit in vielen Städten. Infolge des §163 FamFG sind Sachverständige zunehmend damit beauftragt, nicht nur zu begutachten, sondern mit den Beteiligten einvernehmliche Lösungen zu erarbeiten. Auf diesem Hintergrund wird, an Beispielen belegt, ein Zwei-Phasen-Modell der lösungsorientierten Begutachtung beschrieben, das sowohl Diagnostik wie auch direkte Interventionen umfasst. Am Schluss des Beitrags werden Hinweise auf die Grenzen lösungsorientierter Begutachtung gegeben.
Im letzten und elften Beitrag skizzieren Sabine Walper und Mari Krey das Programm „Kinder im Blick“, Elternkurse zur Förderung der Trennungsbewältigung und Prävention von Hochkonflikthaftigkeit, die in Kooperation mit dem Familiennotruf München entwickelt wurden. Sie beziehen sich dabei auf einschlägige Untersuchungen in den USA bezüglich der Angebote für Eltern in Scheidungs- und Trennungsfamilien, in denen Aussagen zu den Rahmenbedingungen, den Adressaten, Inhalten und Zielen sowie Lehrstrategien und Evaluationen entsprechender Gruppen gemacht werden. Es handelt sich um ein klar durchkomponiertes Programm, in dem vielfältige Inhalte in vergleichsweise komprimierter Zeit vermittelt werden können. Dargestellt werden die Ziele, die theoretische Basis, die Rahmenbedingungen, die einzelnen Einheiten im Überblick und die Ergebnisse der Evaluation von fünf abgeschlossenen Kursdurchläufen. Dies mündet in die Empfehlung, solche strukturierten Kurse in das Beratungsangebot zu integrieren und mit anderen Angeboten, wie Einzel- oder Paarberatung sowie Mediation zu verknüpfen.
Diskussion
Der Herausgeberband gibt mit seinen 11 kurzen Artikeln von 14 – 20 Seiten einen Überblick über den derzeitigen Stand der Forschung zur Situation von hochkonflikthaften Trennungsfamilien und deren Beratung auf dem Hintergrund der seit 2009 geltenden gesetzlichen Regelung der §§ 156 und 163 FamFG. Es wird eine breite Palette von Themen angerissen, die aber vermutlich wegen der begrenzten Seitenzahl nicht vertieft behandelt werden können. Da jeder Artikel in sich geschlossen dargestellt wird, sind die einführenden Textabschnitte zum Teil redundant. Für Praktiker/innen ist die Zusammenstellung von Quellen, Tabellen und Zahlenkolonnen der einschlägigen Forschungen eher mühsam zu lesen und die Ergebnisse ernüchternd. Kurz zusammengefasst: Verlass dich auf deine Berufserfahrung und nutze die konventionelle Testdiagnostik sowie die üblichen Verfahren qualitativer Diagnostik und Anamnese! Erfahrene Praktiker lesen, jetzt wissenschaftlich bestätigt, was sie sowieso schon wussten. Anfänger/innen in der Beschäftigung mit diesem Thema erhalten einen ersten Überblick über den Stand der Forschung und ausgewählte Praxisprojekte im Spektrum von Begutachtung über Elternberatung, die Tätigkeit des Jugendamtes bis zur Kindergruppenarbeit.
Fazit
Für Interessierte am aktuellen Stand europäischer und amerikanischer Forschung gibt das Buch einen recht guten, gerafften Überblick. Wer sich neu mit der Thematik beschäftigt oder ein Praxisprojekt aufbauen möchte, kann sich über Rahmenbedingungen, Begründungen, Arbeitsformen, den rechtlichen Rahmen und zu erwartende Schwierigkeiten informieren. Wer sich neu mit der Konzeptionierung eines solchen Beratungsangebots oder Formen der Kooperation der Verfahrensbeteiligten beschäftigt, kann sich anregen lassen, praktische Ideen zu entwickeln. Bei der Planung eines differenzierten Beratungsangebots für hochkonflikthafte Trennungsfamilien kann das Buch z.B. auch als Quelle für die Argumentation / Begründungen in Finanzierungs-Anträgen genutzt werden.
Für diejenigen, die bereits differenziert, vor allem systemisch im Feld der Beratung hochkonflikthafter Trennungsfamilien arbeiten, werden in diesem Buch eher „Eulen nach Athen getragen“. Bestenfalls kann das, was man liest als Bestätigung dienen für das, was man sowieso schon weiß und tut.
Rezension von
Dipl. Soz.-Arb. Annegret Sirringhaus-Bünder
Dpl. Sozialarbeiterin, Supervisorin (DGSF), Lehrende für systemische Beratung und –Therapie (DGSF), MarteMeo-Licensed Supervisor, freie Praxis für Fort- und Weiterbildung, Supervision und Coaching, Einzel-, Paar-, und Familienberatung in Brühl /Rhld.
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