Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit
Rezensiert von Prof. Dr. Jost W. Kramer, 12.12.2011

Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit. Verlag C.H. Beck (München) 2010. 493 Seiten. ISBN 978-3-406-60653-3. 29,95 EUR.
Thema
Gerechtigkeit ist eines der zentralen Probleme, mit denen sich neben der Jurisprudenz sowohl die Wirtschafts- als auch die Sozialwissenschaften und insbesondere die Philosophie seit vielen Jahrhunderten beschäftigen. Dabei steht, je nach wissenschaftlicher Fachdisziplin, mal mehr der Ideal-, mal mehr der Realcharakter der Problematik im Vordergrund. Die Diskussion der letzten Jahrzehnte ist dabei in erster Linie durch das Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls geprägt worden; ein Buch, das unter anderem auch den vorliegenden Band von Amartya Sen nachhaltig beeinflusst hat, dem er zugleich aber auch vorhält, sich zu stark auf eine Idealsituation zu konzentrieren. Demgegenüber ist sein eigener Ansatz geprägt, bei zwei nicht idealen Gerechtigkeitszuständen den besseren benennen und sukzessive auf eine Verbesserung hinarbeiten zu können.
Autor
Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Professor für Ökonomie an der Harvard Universität. 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie, wobei sein Werk sich durch die Verbindung philosophischer, sozialwissenschaftlicher und ökonomischer Elemente auszeichnet.
Aufbau
Inhaltlich zerfällt das Buch in vier Teile, wobei Sen zunächst Anforderungen in Zusammenhang mit Gerechtigkeit herausarbeitet, dann Formen des Argumentierens benennt, bevor er unter dem wenig geglückten Titel „Materialien der Gerechtigkeit“ Elemente vorstellt, die – wie Leben, Freiheiten, Befähigungen etc. – die Gerechtigkeit determinieren, bevor er abschließend auf die Verbindung zwischen Gerechtigkeit und Demokratie eingeht.
Inhalt
Ausgangspunkt von Amartya Sens Beschäftigung mit Gerechtigkeit ist genau jener Aspekt, den er der ansonsten von ihm hochgeschätzten „Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls vorhält: Dieser konzentriert sich nämlich auf die Regeln, die gesetzt werden müssen um eine gerechte Gesellschaft sicherzustellen. In gewisser Weise entsteht dadurch eine Idealversion von Gerechtigkeit, sichergestellt durch wohl definierte Regeln bzw. ein Vertragswerk, das diese imaginäre Gesellschaft von jeder tatsächlich existierenden erheblich unterscheidet.
Sen hingegen ist an dieser Stelle Pragmatiker: Ihn interessiert weniger, unter welchen Voraussetzungen in einer Gesellschaft Gerechtigkeit garantiert werden kann, sondern vielmehr, wie man in den real existierenden Gesellschaften Gerechtigkeit verwirklichen kann. Daher konstatiert er bereits ganz zu Anfang seines Buches: „Offensichtlich besteht ein radikaler Gegensatz zwischen einer auf Regeln konzentrierten Vorstellung von Gerechtigkeit und einem auf Verwirklichung ausgerichteten Verständnis des Begriffs: Dieses muss sich zum Beispiel mit dem tatsächlichen Verhalten von Menschen befassen und wird nicht voraussetzen, dass alle sich ideal verhalten und den entsprechenden Regeln unterwerfen.“ (S. 35)
Vor diesem Hintergrund entwickelt Sen auch ein deutlich anderes Bezugssystem als es Rawls getan hat: Ihm geht es explizit nicht um ein transzendentales Bezugssystem (S. 44), für das die Festlegung von vollkommen gerechten sozialen Regelungen erforderlich ist. Ihm geht es im Sinne eines praktischen Voranschreitens der Gerechtigkeit statt dessen um einen komparativen Ansatz, bei dem im Prinzip zwischen zwei (oder mehr) Alternativen dahingehend verglichen werden kann, welche den höheren Grad an Gerechtigkeit aufweist. Dabei ist ihm durchaus bewusst, dass auch diese vergleichende Vorgehensweise durchaus Probleme aufweist, aber diese nimmt er nicht nur billigend in Kauf, sondern entwickelt im Rahmen des Buches eine Handvoll Kriterien zu ihrer Beurteilung bzw. Abwägung.
In diesem Zusammenhang betont er die Notwendigkeit einer objektiven und vernünftigen Herangehensweise an die Problematik der Gerechtigkeit, bevor er sich detailliert mit dem Rawlsschen Ansatz der Gerechtigkeit als Fairness befasst. Unter Fairness ist dabei allgemein dargestellt eine Unparteilichkeit zu verstehen (S. 82), die Sen durchaus begrüßt. Kritisch steht er hingegen dem Gedankenspiel gegenüber, die Gerechtigkeit als Fairness aus einem fiktiven Urzustand mit Hilfe der Vertragstheorie abzuleiten. Als problematisch sieht er dabei speziell die von Rawls hervorgehobene Relevanz der Freiheit im Rahmen der Gerechtigkeitsgrundsätze; denn Freiheit erscheint Sen durchaus von großer Bedeutung, während er zugleich aber ihre absolute Vorrangstellung vor anderen Gerechtigkeitsaspekten, wie z.B. der ökonomischen oder sozialen Gleichheit, hinterfragt (S. 87). Noch bedeutsamer erscheint ihm aber, den Focus von den Grundgütern wie Freiheit, Gleichheit etc. wegzulenken und auf die Verteilung der Verwirklichungschancen zu richten. Das führt Sen dazu, für die sukzessive Entwicklung einer gerechteren Gesellschaft nicht nur die Relevanz von Institutionen zu betonen (worin er mit Rawls konform geht), sondern auch das tatsächliche menschliche Verhalten, insbesondere den Vorbildcharakter exemplarischen Handelns, zu berücksichtigen. Deshalb konstatiert Sen unter explizitem Verweis auf die Aussagen von John Kenneth Galbraith über Macht und das Erfordernis von Gegenmacht: „Jede Theorie der Gerechtigkeit muss der Rolle von Institutionen einen wichtigen Platz einräumen, so dass die Institutionenwahl zwangsläufig ein zentraler Bestandteil jeder plausiblen Darstellung von Gerechtigkeit ist. Allerdings müssen wir uns … um Institutionen bemühen, die Gerechtigkeit fördern, und wir sollten nicht Institutionen schon für sich genommen als Erscheinungsformen von Gerechtigkeit behandeln, denn das würde die Überzeugung widerspiegeln, dass ausschließlich Institutionen das Fundament der Gerechtigkeit sind.“ (S.110). Dazu bedarf es, gemäß der Theorie kollektiver Entscheidungen, eines Weges, um über Bildung, Aufklärung und öffentliche Diskussion den „öffentlichen Vernunftgebrauch“ voranzutreiben. „Die grundlegende Verbindung zwischen öffentlichem Vernunftgebrauch und den Ansprüchen auf Mitbestimmungsrecht ist entscheidend nicht nur für die praktische Aufgabe, Demokratie effektiver zu machen, sondern auch für das begriffliche Problem, eine angemessen formulierte Idee sozialer Gerechtigkeit auf der Basis von kollektiven Entscheidungen und Fairness zu entwickeln.“
Das Erfordernis der Objektivität setzt dabei voraus, dass man sowohl standpunktabhängige als auch standortunabhängige Erkenntnisse berücksichtigt. Keines der beiden Verfahren ist dabei per se dem anderen überlegen; beide sind mit miteinander zu kombinieren, um die beste Erkenntnisbasis zu erhalten. Erst dann können rationale, also wohlbegründete Wahlentscheidungen getroffen werden, die von Eigennutz geprägt sein können, aber keineswegs sein müssen. Insbesondere asymmetrisches Verhalten – ähnlich dem Schutz, den eine Mutter ihrem Kind angedeihen lässt, weil sie dazu eben in der Lage ist – liefert eine weitere Basis für vernünftiges Verhalten auf der Basis effektiver Macht (S. 235). Weitere Kriterien sind die Berücksichtigung der Folgen unseres Handelns einerseits und die Übernahme der Verantwortung für unser Handeln und seine Konsequenzen andererseits. Zu beachten ist dabei aber auch die Relevanz persönlicher Beziehungen: Für Menschen, die uns nahe stehen, denen wir emotional verbunden sind, werden wir in der Regel zu größerem Engagement bereit sein. Dieses Verhalten ist per se durchaus positiv zu werten; allerdings gibt es Situationen – z.B. bei der Vergabe von Aufträgen – wo ein derartiges Verhalten zu Nepotismus führen und so im Widerspruch zur Unabhängigkeit, zur Objektivität und damit letztlich zur Gerechtigkeit stehen kann.
Im dritten Teil seiner Argumentation geht Sen genauer auf die Voraussetzungen von Gerechtigkeit ein. Dazu zählt, ähnlich wie bei Rawls, die Freiheit als hoch relevantes Kriterium. Dabei geht es aber nicht nur um die Chance zur Verfolgung unserer Ziele, sondern auch um den Prozess, in dem dies geschieht (S. 256). In diesem Zusammenhang lässt sich der Begriff der Chance durchaus unterschiedlich interpretieren, nämlich in einem engeren, ausschließlich auf das Ergebnis bezogenem Verständnis, aber auch als breiter angelegtes Konzept, bei dem die Art und Weise mit in Betracht gezogen wird, wie die Person zu ihrer Entscheidung gelangt ist (z.B. unter Berücksichtigung von Wahlfreiheiten bzw. Zwang). Bedeutsam wird dies, wenn der Blick auf die unterschiedlichen Befähigungen von Menschen gerichtet wird. Daraus resultiert für Sen eine „gesellschaftliche und allgemein menschliche Verantwortung und Verpflichtung, Unterprivilegierten zu helfen“ (S. 266). Hier kommt der sog. Befähigungsansatz ins Spiel: „Er befasst sich mit der Fähigkeit von Menschen, das Leben zu führen, das sie mit gutem Grund wertschätzen, und untersucht deshalb zum Einen, was Personen wertschätzen …, und zum anderen fragt er, welche Einflüsse auf ihre Bewertungen einwirken“ (S. 272). Auf diese Weise schlägt Sen eine Brücke zum Thema der Armutsbekämpfung, wobei er Armut nicht als Mangel an Einkommen, sondern als Mangel an Chancen interpretiert. Dies hat sowohl Auswirkungen auf das persönliche Wohlergehen und Glück als auch auf die Kriterien der Freiheit und Gleichheit.
Im vierten und letzten Teil seines Buches arbeitet Sen zunächst Demokratie als Muster öffentlichen Vernunftgebrauchs heraus. Dabei räumt er auch mit dem Vorurteil auf, dass Demokratie allein eine europäisch-amerikanische Entwicklung sei, sondern betont deren globale Ursprünge (vgl. ausführlich S. 355ff.). Zugleich betont er die Notwendigkeit freier, unzensierter und „robuster“ (S. 361) Medien wegen ihres Beitrags zur Lebensqualität, ihrer Informationsfunktion, ihrer Schutzfunktion und ihres Beitrags zur Wertebildung. Daran anknüpfend wird anhand des Auftauchens bzw. der Abwesenheit von Hungersnöten die demokratische Praxis als Muster öffentlichen Vernunftgebrauchs erläutert. Hintergrund dieses Beispiels ist folgender Umstand: „Die Geschichte der Hungersnöte ist nachweislich besonders eng mit autoritären Regierungen verknüpft, zum Beispiel mit dem Kolonialismus (in Britisch Indien oder Irland), Einparteienstaaten (der Sowjetunion in den 1930ern oder später China und Kambodscha) und Militärdiktaturen (Äthiopien oder Somalia). Dass zur Zeit in Nordkorea Hunger herrscht, setzt die Reihe der Beispiele fort.“ (S. 369) In Demokratien werden hingegen nicht nur per se Anreize zur Hungerprävention geschaffen, sondern zusätzlich über Informationsbereitstellung zusätzliche Anreize geschaffen. Sen gelangt so zu dem Ergebnis, dass Demokratie selbst bereits Entwicklung und soziale Wohlfahrt fördert. Beispielhaft zeigt sich das insbesondere an der Rolle der Menschenrechte, die einerseits Freiheiten darstellen, andererseits Chancen verkörpern – gerade mittels der sozialen und wirtschaftlichen Rechte. Im letzten Kapitel seines Buches konkretisiert Sen seine Vorstellungen von Gerechtigkeit: Dazu gehören öffentlicher Vernunftgebrauch und die Empörung gegen Ungerechtigkeiten, die unparteiische Prüfung von Argumenten und die Möglichkeit, an Stelle einer umfassenden Lösung partielle Lösungen zu entwickeln und zu realisieren – und auf diese Weise Gerechtigkeit selbst sukzessive zu verwirklichen.
Fazit
Sen hat mit seinem Buch „Die Idee der Gerechtigkeit“ einen wertvollen Beitrag nicht nur für die philosophische Diskussion über Gerechtigkeit, deren Voraussetzungen und ihre Realisierung vorgelegt. Bedeutsamer noch ist das Buch für die sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Diskussion zumindest insoweit, als sich diese Disziplinen als Realwissenschaften verstehen: Also als Wissenschaften, die einen Beitrag zur Lösung realer Probleme liefern wollen und können. Hier liefert Sen Gründe und Argumentationsmuster, wie insbesondere die Politikwissenschaft, aber auch die Volkswirtschaft wieder näher an den Dienst an den Menschen herangeführt werden können.
Wichtig ist insbesondere die Herausarbeitung des komparativen Ansatzes, durch den zwei unterschiedliche Gesellschaften hinsichtlich der Realisierung von Gerechtigkeit miteinander verglichen werden können, ohne dass zuvor ein Universalmodell entwickelt worden sein muss. Aber auch die Betonung der Demokratie als Verkörperung öffentlichen Vernunftgebrauchs ist von höchster praktischer wie wissenschaftlicher Relevanz – gerade angesichts der jüngeren Entwicklungen im Zuge des „arabischen Frühlings“, aber auch der Vorhaltungen über „Kulturkolonialismus“, die von Seiten diverser Demokratiegegner immer wieder geäußert werden. Verdienstvoll ist daher insbesondere Sens Herausarbeitung der globalen Wurzeln von Demokratie, wenngleich dies gerade viele Europäer und Amerikaner nicht unbedingt mit Wohlwollen zur Kenntnis nehmen werden, verschwindet so doch in gewisser Weise ein „Alleinstellungsmerkmal“.
Darüber hinaus ist es faszinierend, das von Sen präsentierte Wissen über philosophische, juristische, soziale, politische und ökonomische Entwicklungen in verschiedenen Zeiten und Gegenden unserer Welt zu verfolgen, erhält man hier doch einen wahrhaft globalen Zugang zu den behandelten Aspekten und Voraussetzungen von Gerechtigkeit. Gleichzeitig macht allerdings dieser methodisch-literarische Ansatz die Lektüre dieses Buches auch zu einer „härteren Kost“ als inhaltlich erforderlich. Denn die Ausflüge in die reale oder literarische Vergangenheit, mit denen Sen die einzelnen Kapitel seines Buches üblicherweise einleitet, stellen einerseits interessante Ausflüge in – für moderne westliche Leser – vielfach unbekanntes Terrain dar, andererseits sind sie umfangreiche Unterbrechungen des zuvor entwickelten Gedankengangs. In der Konsequenz leidet unter dieser Technik die Erkennbarkeit des „roten Fadens“ und die Konzentration „auf das Wesentliche“ wird erschwert. Wünschenswert wäre vor diesem Hintergrund die gelegentliche Veröffentlichung einer Kurzfassung von Sens Gedankengängen, deren Einfluss auf die politische Diskussion ggf. größer ausfallen könnte als die Breitenwirkung dieses insgesamt ausgesprochen lesenswerten Buches.
Rezension von
Prof. Dr. Jost W. Kramer
Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre
Hochschule Wismar, Forschungsgruppe für Kooperation, Netzwerke und Unternehmenstheorie
Adjunct Professor für Sozialwirtschaft, insbesondere Genossenschaftswesen, Universität Kuopio (Finnland)
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Zitiervorschlag
Jost W. Kramer. Rezension vom 12.12.2011 zu:
Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit. Verlag C.H. Beck
(München) 2010.
ISBN 978-3-406-60653-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11383.php, Datum des Zugriffs 09.06.2023.
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