Hilal Sezgin (Hrsg.): Manifest der Vielen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 05.04.2011
Hilal Sezgin (Hrsg.): Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu.
Blumenbar Verlag GmbH & Co. KG
(Berlin) 2011.
240 Seiten.
ISBN 978-3-936738-74-2.
D: 14,90 EUR,
A: 15,40 EUR,
CH: 23,50 sFr.
Mitautoren: Hatice Akyün, Naika Foroutan, Ilija Trojanow und Feridun Zaigmoglu.
Nicht lamentieren und agitieren, sondern argumentieren – „Zusammensetzen ist besser als Auseinandersetzen“
Als 60 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Oktober 1993 auf die „mangelhafte politische Gestaltung der Migration und ihrer Folgen in Deutschland mit dem „Manifest der 60“ reagierten (Klaus J. Bade, Hrsg., Das Manifest der 60. Deutschland und die Einwanderung, Verlag C. H. Beck, München 1994, 231 S., ISBN 3 406 37429 8) und darauf hinwiesen, dass „Deutschlands Zukunft ( ) auch von einer Migrations- und Integrationspolitik mit Vernunft und Augenmaß (abhängt)“, da schien eine positive Bewegung in den eher festgefahrenen, ethnozentrierten gesellschaftlichen Diskurs zu kommen. Für diejenigen, die meinen, weitsichtiger zu denken und das Einwanderungsland Deutschland als die Lösung aus der demografischen Falle propagieren, gibt das Manifest zu bedenken: „Einwanderer sind keine beliebig verfügbare Reserve… Zuwanderung kann ein Beitrag innerer Probleme ohnehin nur dann sein, wenn einheimische Mehrheit und zugewanderte Minderheit neben- und miteinander leben können“. Die Frage nach dem Deutschsein ist eine nach dem Grad der humanitären, gesellschaftlichen Aufklärung (Zafer Şenocak, Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift, edition Körber Stiftung, Berlin 2011,in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/10870.php) und sie erfordert eine Auseinandersetzung mit den gemachten, gewachsenen und manipulierten Werten, die unser gesellschaftliches Denken und Handeln bestimmen (Eberhard Straub, Zur Tyrannei der Werte, Stuttgart 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10807.php).
Entstehungshintergrund und Herausgeberin
Angesichts der aktuellen Debatten, wie sie von Sarrazin und anderen, die sich als konservative Sprachrohre und populistische Rufer verstehen, losgetreten wurden, und die den Anspruch erheben, sich gewissermaßen aus der „Mitte der Gesellschaft“ zu artikulieren, braucht es Stimmen von Menschen, die genau in dieser Mitte leben und unterscheiden können zwischen den Assimilationserwartungen der scheinbaren Mehrheit und interkulturellen Identitäten. Die 1970 in Frankfurt/M. geborene Hilal Sezgin, Tochter der Islamwissenschaftler Ursula und Fuat Sezgin, besitzt die deutsche und die türkische Staatsbürgerschaft. Sie studierte Philosophie und arbeitet als Journalistin und Schriftstellerin. Von der paneuropäischen Organisation CEDAR wurde sie 2010 zu eine der zehn European Muslim Women of Influence ernannt. Sie hat 30 Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund zusammen gebracht, die mit ihrer jeweiligen individuellen Befindlichkeit und Wahrnehmung ihre Empathien und Kritiken für das Land ausdrücken, in dem sie leben und zu der Gesellschaft, zu der sie gehören (wollen), nicht als Außenseiter oder Exoten, sondern als Individuen in der vielfältigen Gemeinschaft. Was verbindet sie? Es ist der muslimisch-kulturelle Hintergrund, den sie mehr oder weniger engagiert vertreten und leben.
Aufbau und Inhalt
Die „editorische Notiz“ kündet von ihrer „muslimischen Identität“ und stellt für diejenigen, die sehen wollen und sensibel sind für Anzeichen, ein Merkzeichen dar: Die alphabetische Anordnung der 30 Texte, beginnend mit den Nachnamen der Autorinnen und Autoren, wird alphabetisch, von Z bis A, gegliedert: Feridun Zaimoglu, Deniz Utlu, Ilija Trojanow, Riem Spielhaus, Ali Sirin, Hilal Sezgin, Ekrem Senol, Aylin Selcuk, Jasmin Ramadan, Christoph Peters (mit dem Geleitwort), Aiman Mazyek, Fereshta Ludin, Ali Kizilkaya, Mely Kiyak, Navid Kermani, Yasemin Karakasoglu, Lamya Kaddor, Miyesser Ildem, Christian Abdul Hadi Hoffmann, Kübra Gümusay, Ferdos Forudastan, Naika Foroutan, Pegah Ferydoni, Sineb El Masrar, Neco Celik, Gabriele Boos-Niazy, Imran Ayata, Katajun Amirpur, Bekir Alboga und Hatice Aykün. Gegen die kruden, menschenverachtenden und rassistischen Parolen von der „Abschaffung Deutschlands“ wird das herausfordernde, gesellschaftsverbindende und integrative „Deutschland erfindet sich neu“ als Bekenntnisse, Argumente und Fanfarenstöße entgegen gestellt. Es sind Ausrufe, Aufrufe, Schreie und gedämpftes Flüstern, die auf Verletzungen reagieren, Beleidigungen zurück weisen und vor allem von Selbstbewusstsein künden: „Wir sind Verschiedene“, weil die Vielfalt es ist, die „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“, wie dies in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt; und weil Zukunftsgestaltung und die humane gesellschaftliche Entwicklung von jedem Einzelnen abhängt, von seiner Fähigkeit zur Empathie, zur kritischen Aufklärung und zur Kompetenz für Menschlichkeit.
Fazit
Auf das „Manifest“ haben wir gewartet, angesichts der Pamphlete und des ethno- und germanozentrierten Leitkultur-Gestammeles. Es sind empathische Texte, die es verdienen, in den gesellschaftlichen Diskurs zu gelangen. Eine schöne Komprimierung findet das „Manifest der Vielen“ dadurch, dass aus jedem Text ein Satz gefiltert wird, der als Ausrufezeichen dient. Man könnte sich gut vorstellen, dass in der schulischen und in der Erwachsenenbildung, in Studienseminaren und Argumentationsforen die Texte des Manifestes diskutiert und als Grundlagen benutzt werden, um gelingende Integration zu dokumentieren.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 05.04.2011 zu:
Hilal Sezgin (Hrsg.): Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu. Blumenbar Verlag GmbH & Co. KG
(Berlin) 2011.
ISBN 978-3-936738-74-2.
Mitautoren: Hatice Akyün, Naika Foroutan, Ilija Trojanow und Feridun Zaigmoglu.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11392.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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