Peter Richter: Über das Trinken
Rezensiert von Prof. Dr. Gundula Barsch, 29.04.2011
Peter Richter: Über das Trinken. Goldmann Verlag / Verlagsgruppe Random House (München) 2011. 222 Seiten. ISBN 978-3-442-31202-3. D: 12,99 EUR, A: 13,40 EUR, CH: 22,90 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Der Autor, mit Leib und Seele Kunsthistoriker und Feuilletonist, ist ganz offensichtlich beeindruckt von den gesellschaftlichen Entwicklungen, die unter dem Motto „Nichtraucherschutz“ unsere Alltagskultur seit einigen Jahren gravierend verändern. Diese haben innerhalb kurzer Zeit zu einer geradezu aggressiven Brandmarkung des Rauchens und zur Verdrängung dieser jahrhundertealten Kulturtechnik aus der Öffentlichkeit geführt und werden damit wohl nicht enden. Beunruhigt von ähnlich gelagerten Impulsen in Bezug auf den gesellschaftlichen Umgang mit dem Alkohol wirft er die Frage auf, was wohl fehlen würde, wenn man zukünftig alkoholische Getränke nur noch in der Apotheke erhalten würde oder wenn man Alkohol ausschließlich in staatlichen Abgabestellen und unter Aufsicht von Ärzten trinken dürfte. Mit Charme und Witz argumentiert er dafür, die wichtigen sozialen Funktionen alkoholbedingter Rauschformen anzuerkennen, diese zu würdigen und ihnen weiterhin einen Stellenwert in unserer Alltagskultur zuzubilligen.
Aufbau und Inhalt
Um den Leser für sein Plädoyer zu gewinnen, sucht der Autor seine Argumente in sehr verschiedenen Themenfeldern – dabei immer auf der Jagd nach Fundstellen, in denen die Frage nach der Berechtigung von Rausch und seinen positiven sozialen Wirkungen überhaupt aufgeworfen wurde. Es spricht für den rauschfeindlichen calvinistischen Zug unserer Kultur, dass nur selten zugelassen wird, diese Fragen überhaupt zu stellen. Wohl auch deshalb erfolgt das Suchen mit großem Weitwinkel. So wird zunächst den Funktionen des Trinken nachgegangen und der unauflösliche Konflikt zwischen Nüchternheit und Trunkenheit nachgezeichnet, sodann werden aber auch gewagte Hypothesen von der Entwicklung der Zivilisation durch Alkoholkonsum entworfen und die positiven Effekte des Trinkens für die Macher von Politik und Kunst skizziert. Schließlich nimmt der Autor die deutsche Trinkkultur mit ihren Besonderheiten in Abgrenzung zu anderen Trinkkulturen in den Blick und zeichnet nach, dass eine Prohibition des Alkohols keineswegs das Bedürfnis der Menschen nach Veränderung ihrer Bewusstseinslage ausschalten wird.
Schon die Entwicklungen um die jugendliche Alkoholkultur und ein Blick auf die skandinavischen Länder mit ihrer strikten Alkoholpolitik führen vor Augen, dass sich mit Verknappung des Alkohols eher andere, weniger etablierte Rauschtechniken mit weniger gut steuerbaren psycho-aktiven Substanzen durchsetzen und die dabei entstehenden Problemlagen keineswegs simpler, einfacher und mit weniger Risiken besetzt sein werden. Bei all dem hat der Autor ganz offensichtlich seine Freude daran, mit einer rauschfreundlichen Betrachtung von Fragen in Zusammenhang mit dem Alkoholtrinken zu provozierend und über die moralische Doppelbödigkeit zu spotten, die sich mit dem Blick auf die Alltagspraxis der Menschen einerseits und auf die moralisierenden Statements des politischen/ wissenschaftlichen/therapeutischen Expertentums andererseits abzeichnen.
Gerade in der unverstellten, nicht moralisierenden Sichtweise auf den Rausch und in der Entwicklung von Argumenten für seine Befürwortung liegen auch die Stärken dieses Buches. Es ist damit entschieden gegen den Mainstream geschrieben und kann den gegenwärtig doch sehr festgefahrenen Gedanken um das „Problem Alkohol“ aus „Hamsterrädern“ verhelfen. Selbst- und ständiges Weiterdenken der Leser ist auch deshalb gefragt, weil die Texte in ihrer inhaltlichen Anlage eher den Charakter einer Kolumne haben, als das sie einer wissenschaftlichen Argumentation entsprechen. Lohnenswert erscheint es allerdings allemal, den Antworten auf die aufgeworfenen Fragen mit akribischer und mühsamer Arbeit zu mehr Überzeugungskraft zu verhelfen.
Fazit
Das Buch ist amüsant zu lesen und vermag an vielen Stellen zu provozieren und zu einem Neudenken anzuregen. Insofern gehört es in der Tat, wie vom Autor erhofft, zum Lesestoff, den man vielleicht zu einem guten Glas Wein genießen kann. In die Rubrik einer wissenschaftlich strukturierten Abhandlung mit dezidierten Ableitungen und aufgeworfenen kritischen Fragestellungen für die weitere Forschung gehört es nicht, war aber so auch sicher nicht gedacht.
Rezension von
Prof. Dr. Gundula Barsch
Hochschule Merseburg
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Zitiervorschlag
Gundula Barsch. Rezension vom 29.04.2011 zu:
Peter Richter: Über das Trinken. Goldmann Verlag / Verlagsgruppe Random House
(München) 2011.
ISBN 978-3-442-31202-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11407.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.
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