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Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit

Rezensiert von Prof. Dr. Gregor Husi, 10.04.2012

Cover Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit ISBN 978-3-497-02158-1

Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2011. 4., vollst. neu bearb. Auflage. 1800 Seiten. ISBN 978-3-497-02158-1. D: 79,90 EUR, A: 82,10 EUR, CH: 115,00 sFr.

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Thema

Das Handbuch Soziale Arbeit ist ohne Zweifel ein zeitgenössisches Standardwerk und fast schon ein Klassiker der Wissenschaft(en) der Sozialen Arbeit. Es erscheint nun in der vierten Auflage unter leicht verändertem Titel. Die Titeländerungen seit der ersten Auflage von 1984 dokumentieren, wie sich der Diskussionsstand weiterentwickelt hat. Wies das Handbuch in den früheren Auflagen im Haupttitel noch auf Sozialarbeit und Sozialpädagogik hin, so entschieden die Herausgeber bei der aktuellen Auflage, den Akzent zu verschieben. Das Begriffspaar ist nun auf den Platz im Untertitel verwiesen, der Haupttitel bekennt sich noch entschiedener als bisher zur Sozialen Arbeit als Leitbegriff. Dieser wird – wie schon vorher – verstanden «als integriertes Konzept von Sozialpädagogik und Sozialarbeit in der Stabilisierung und Fortschreibung ihrer Traditionen, Erfahrungen und Erkenntnisse, als sozialwissenschaftlich orientiert, gesellschafts- und sozialpolitisch engagiert und interdisziplinär offen», so die Herausgeber in ihrem Vorwort (S. V). Mit dem Handbuch soll «der gegenwärtige Stand der Entwicklung in der theoretischen Diskussion, der Forschung und der Praxis der Sozialen Arbeit präsentiert» (ebd.) werden. Unmissverständlich heisst es weiter: «Das Handbuch will den Eigensinn der Sozialen Arbeit stärken» (ebd.). Gegenüber früheren Auflagen mehr Gewicht erhält nach eigenem Bekunden die «vertiefte Strukturanalyse unserer gesellschaftlichen Verfasstheit» (ebd.) wie die «sozialethische Fundierung». Bedeutsamer geworden sei überdies insbesondere, Soziale Arbeit in Bezug auf Care und Bildung zu verorten, die Psychologie der Emotionen einzubeziehen sowie die organisatorischen und manageriellen Rahmenbedingungen zu beleuchten. Zum Handbuch haben rund zweihundert Autorinnen und Autoren Beiträge geliefert.

Herausgeber

  • Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Uwe Otto, Senior Research Professor an der Universität Bielefeld, Honorarprofessor an der School of Social Policy & Practice, University of Pennsylvania, Philadelphia, USA.
  • Prof. em. Dr. Dres. h.c. Hans Thiersch, lehrte Sozialpädagogik an der Universität Tübingen.

Aufbau

Die Beiträge des Handbuchs sind wie bei den früheren Auflagen alphabetisch geordnet. Das alphabetische Verzeichnis wird hilfreich durch ein systematisches Verzeichnis ergänzt, das die Beiträge unter siebzehn Überschriften thematisch ordnet. Sie lauten «Geschichte und Theorie», «Theorieansätze», «Methodologische Grundlagen», «Professionalität, Studium und Weiterbildung», «Gesellschaftstheorie und Gesellschaftspolitik», «Recht und Rechte», «Lebenslagen und Soziale Probleme», «Ethik, Werte, Normen», «Entwicklung und Sozialisation», «Lebensphasen», «Organisationen», «Planung und Management», «Grundfragen sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Handelns», «Handlungskompetenzen, Methoden», «Arbeits- und Handlungsfelder», «Kooperationen und Vernetzung» und «Soziale Arbeit international». Nach den einzelnen Handbuchartikeln finden sich am Ende ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren sowie ein 39-seitiges Sachregister.

Inhalt

Die 1774 Seiten Text setzen beim Thema «Abweichendes Verhalten» ein und schliessen mit Ausführungen zur «Zivilgesellschaft». Ihre Inhalte lassen sich selbstverständlich nicht referieren, die Themen geben aber den Blick frei auf das weite, sehr weite Feld Sozialer Arbeit. Wer sich viel Zeit nehmen kann, wird sich vom einen Beitrag zur Lektüre eines anderen anregen lassen, von Thema zu Thema hüpfen, sich da bestätigt sehen und sich dort über neue Einsichten wundern und das schwergewichtige Kompendium nicht so bald aus der Hand legen. Wer sich noch mehr Zeit nehmen kann, wird womöglich gar auf eine frühere Auflage zurückgreifen, vergleichen und darüber staunen, in welchem Ausmass sich Soziale Arbeit und ihre wissenschaftliche Reflexion im vergangenen Vierteljahrhundert seit der Erstauflage des Handbuchs gewandelt haben. Da das Handbuch immer schon den State of the Art wiedergegeben hat, eignet es sich nebenbei für einen wissenschaftshistorischen Vergleich vorzüglich. Und doch erhält man paradoxerweise den Eindruck – gerade auch, was den Stand der Disziplin betrifft –, man befinde sich noch mittendrin in einer Entwicklung, deren weitere Richtungen noch nicht eindeutig definiert sind. Der Spuren und Fährten werden im Handbuch freilich viele sichtbar.

Für das Handbuch wurde sogar ein eigenes Onlineportal eingerichtet: www.handbuch-soziale-arbeit.de. Zu ihm hat man Zugang, indem man sich mit einem Code, den man im eigenen Buchexemplar findet, auf der Website registriert. Auf diesem Weg ermöglicht der Verlag eine – an bestimmte technische Voraussetzungen gebundene – Volltextsuche, dessen Wert kaum zu überschätzen ist. Hier sind auch die einzelnen Artikel als E-Book erhältlich, allerdings gegen Entgelt, was wenig einleuchtet, da man ja bereits das Buch für teures Geld erworben hat. Die verlinkte Gesamtbibliografie ermöglicht einen interessanten Einblick darin, in welchen Artikeln welches Buch zitiert wird. Das reizt fast schon zu einer quantitativen Analyse. Nimmt man einen der Herausgeber, Thiersch, als Beispiel, so zeigt sich, dass er auf den über 1800 Seiten des Handbuchs als Autor, Co-Autor oder Herausgeber zwar mit rund vierzig unterschiedlichen Publikationen in den Quellennachweisen erscheint, die einzelne Publikation dabei aber meist nur ein- oder zweimal zitiert wird. Sein Buch «Lebensweltorientierte Soziale Arbeit», wen wundert's, wird freilich zehnmal erwähnt. Das Urteil, ob das bei insgesamt über 175 Beiträgen viel oder wenig ist, sei der Leserin und dem Leser überlassen. Interessant ist dieser Service nicht zuletzt auch für Autorinnen und Autoren selber, die somit nachschauen können, wie sie in diesem Handbuch rezipiert werden. Ein anderes Beispiel: Auf welchen Text von Pierre Bourdieu, den Vielzitierten, wird am meisten verwiesen? Auf «Das Elend der Welt», das immerhin ein Panorama der Adressatenschaft Sozialer Arbeit darbietet? Nein, es ist das kultursoziologische Werk «Die feinen Unterschiede», das aber erstaunlicherweise nur gerade viermal Erwähnung findet.

Diskussion

Einiges Potenzial birgt das systematische Verzeichnis, und dieses dürfte in späteren Auflagen wohl noch systematischer ausfallen. (Zu bedenken wäre zum Beispiel mit Blick auf die siebzehn aufgeführten thematischen Bereiche, ob Gesellschaftstheorien und Gesellschaftspolitik nicht besser getrennt würden.) Das Verzeichnis gibt denn eine gute Grundlage für einen kritischen Rückblick auf die Gesamtkonzeption ab, lässt Doppelspurigkeiten wie Lücken erkennen. Einige seien im Folgenden kurz erwähnt:

Im Detail stellen sich Fragen zu einigen Aufteilungen, beispielsweise: Warum werden «Behinderung» und «Behindertenpolitik, Behindertenarbeit» getrennt, warum «Drogen, Drogenkonsum und Drogenabhängigkeit» und «Sucht und Rausch»?

Im ethisch-moralischen Bereich finden sich zwar Artikel zu Moral und Tugend nebeneinander, nicht fündig wird man zu Ethik, Berufsethik oder Grundwerten, obschon das Ethische und das Moralische nicht in denselben Topf zu werfen sind. Unter den Werten schafft es seltsamerweise nur gerade Gerechtigkeit, eigens berücksichtigt zu werden. Die politische Dimension Sozialer Arbeit wird wenig ausgeleuchtet, das Thema der Anwaltschaftlichkeit findet kaum je Erwähnung, obgleich es, auch in Anbetracht der Geschichte der Professionalisierung, sogar einen eigenen Eintrag verdiente.

Das Handbuch enthält zwar den Beitrag «Handlungskompetenz», nicht aber einen zu Handeln, Handlungstheorie, Praxis oder Praxeologie. Gänzlich unterbelichtet ist Praxistransfer. Froh ist man dagegen über den Eintrag zu «Gesellschaftstheorien und Soziale Arbeit». Und wie steht es um die Theorien Sozialer Arbeit? Cornelia Füssenhäuser stellt einige Sichtweisen im Artikel «Theoriekonstruktion und Positionen der Sozialen Arbeit» dar. Nur gerade die Systemtheorie wartet dann allerdings, im Titel als Theorie etikettiert, mit einem eigenen Beitrag auf. In Füssenhäusers Artikel werden auch acht – in der Fachliteratur oft rezipierte – «Kristallisationspunkte» der Theoriebildung genannt, das Verhältnis zur sozialwissenschaftlichen Auffassung von Theorie als erklärenden Aussagesystemen bleibt dabei recht ungeklärt. Man wünschte sich in diesem Zusammenhang auch einen Beitrag zu Bezugswissenschaften oder Disziplin.

Das Erbe der Sozialpädagogik im engeren Sinne treten unter anderen offensichtlich die fünf separaten Beiträge zu Sozialisation, Bildung, Erziehung, Entwicklung und Lernen an. Wenn schon gleich fünf Artikel, so hätte man erwartet, dass deren innere Zusammenhänge deutlicher hervorträten. Überdies erstaunt, dass just Bildung und Erziehung, die oft als Sozialisation definierende Begriffe gemeinsam auftreten, im systematischen Verzeichnis nicht unter «Entwicklung und Sozialisation» aufgeführt sind.

Der internationale Überblick ist unvollständig, insbesondere vermisst man einen Eintrag zur US-amerikanischen, aber auch zur südamerikanischen Sozialen Arbeit. So wird denn zum Beispiel Paulo Freires Pädagogik der Unterdrückten nur mit Bezug auf Europa und Afrika behandelt. Auch Asien ist noch terra incognita. Entwicklungszusammenarbeit wird nur beiläufig im Artikel «Katastrophenhilfe und humanitäre Hilfe» erwähnt, dabei verdiente sie einen eigenen Text, in dem auch mögliche Aufgaben Sozialer Arbeit thematisiert würden.

Insgesamt ist dem Handbuch die disziplinäre Heimat der Herausgeber sehr anzumerken, und offensichtlich ist, dass es zum allergrössten Teil deutsche Soziale Arbeit beschreibt. Fachliteratur aus anderen deutschsprachigen Ländern ist kaum berücksichtigt. Bedauerlich ist, wenn dann der Fachartikel zur – gewiss kleinen – Schweiz beispielsweise sich viel zu sehr in historischen Betrachtungen verliert, im Gegensatz zu seiner Überschrift nur die deutsche Schweiz berücksichtigt und gar behauptet, dass es nur bis in die 1990er Jahre die typisch schweizerische Dreiteilung gegeben habe, die neben die Sozialarbeit und Sozialpädagogik noch die Soziokulturelle Animation platziert. Diese Dreiteilung ist heute noch an der Hälfte der Schweizer Fachhochschulen in Form eigener Studienrichtungen präsent. Aus dieser Sicht vermisst man im Handbuch denn einen eigenen Beitrag zu Soziokultur bzw. Soziokultureller Animation (wie übrigens auch zu Gemeinwesenarbeit oder Community Development; vorhanden und lesenswert sind aber die zwei Artikel «Sozialraum» und «Sozialraumbezogene Methoden»). Diese «lateinische» Tradition Sozialer Arbeit wird auch im Beitrag «Berufs- und Professionsgeschichte der Sozialen Arbeit» schlicht vergessen. Aufgabe Soziokultureller Animation ist es besonders, für gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sorgen, und auch zu diesem Stichwort – oder zu Sozialkapital, Integration u.ä. – fände man gerne einen Artikel. Hingegen wird ein anderer Bereich, in dem die Soziokulturelle Animation tätig ist, überraschenderweise gleich mit zwei Beiträgen berücksichtigt, nämlich mit «Jugendarbeit» zum einen und «Mobile Jugendarbeit» zum anderen.

Ist es Ausdruck einer Wissenschaft, die immer noch für einen eigenständigen Platz unter den Wissenschaften kämpft? Die Beiträge sind jedenfalls allzu oft in einem zähen, schlecht verständlichen, forciert akademischen Stil geschrieben, der das Lesen zur Mühsal verkommen lässt. Insbesondere Studierende Sozialer Arbeit werden vor manch einem Text zurückschrecken. Man wünscht sich da und dort mehr sprachliche Sorgfalt.

Trotz dieser – nicht systematisch zusammengestellten – Mängelliste, die als Anregungen verstanden werden wollen, bietet das Handbuch sehr gute Orientierung. Die Beiträge zeugen von der enormen Vielfalt der Themen, die von Sozialer Arbeit und ihrer Wissenschaft bearbeitet werden. Die Lektüre des Handbuchs, der geduldige Blick ins Schaufenster einer Disziplin, die immer noch im Werden begriffen ist, lohnt alleweil.

Fazit

Bei aller Kritik stellt das Handbuch von Otto & Thiersch weiterhin ein unverzichtbares Werkzeug der Reflexion und dessen Herausgabe eine sehr zu verdankende Leistung dar. Interessierte können gezielt bestimmte Themen nachschlagen und in der Regel mit sachlich fundierten, aktuellen Darstellungen rechnen, die von kompetenten Autorinnen und Autoren verantwortet werden. Oft macht die eine Lektüre gleich Lust auf eine nächste, verwandte. Das systematische Verzeichnis sowie die Onlineoptionen erleichtern das inhaltlich Auf- und Herumstöbern sehr. Und für eine nächste Auflage bleibt noch genug zu tun …

Rezension von
Prof. Dr. Gregor Husi
Professor an der Hochschule Luzern (Schweiz). Ko-Autor von „Der Geist des Demokratismus – Modernisierung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit“. Aktuelle Publikation (zusammen mit Simone Villiger): „Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziokulturelle Animation“ (http://interact.hslu.ch)
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ISSN 2190-9245