Pascal Boyer: Und Mensch schuf Gott
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 20.12.2011

Pascal Boyer: Und Mensch schuf Gott. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2011. 3. Auflage. 428 Seiten. ISBN 978-3-608-94262-0. 24,95 EUR. CH: 40,50 sFr.
Thema
Religion als Forschungsgegenstand und oft zugleich auch als Reibungspunkt ist ein Phänomen der Moderne, die zeitgleich mit der Aufklärung und dem Machtverlust des Klerus in Mitteleuropa ihren Anfang nahm. Im 18. und 19. Jahrhundert waren es vorrangig die Philosophen, die Glaube und Religion in Frage stellten. Später gesellten sich auch noch sozialpolitische Denker und Sozialrevolutionäre hinzu. „Gott ist tot!“ (Nietzsche) und „Religion ist Opium fürs Volk!“ (Lenin) sind allbekannte Thesen dieser Zeit. In neuerer Zeit haben sich auch Biologen dieser Themenstellung gestellt, wie zum Beispiel Dawkins mit seinem Buch „Der Gotteswahn“. Das vorliegende Buch kann dieser Kategorie der Entzauberung der Welt mittels des gegenwärtigen Wissensstandes über biologische Erkenntnisse zugeordnet werden.
Autor
Pascal Boyer hat in Paris und Cambridge Anthropologie, Religionswissenschaften und Linguistik studiert. Er unterrichtete in England und den USA und forschte am Institut für Kognitive Wissenschaft in Lyon. Gegenwärtig lehrt er an der Washington Universität in St. Louis in den USA.
Aufbau und Inhalt
Der Autor stellt sich in seinen Ausführungen der Aufgabe, Religion mit dem bestehenden Erkenntnisstand der Wissenschaften, vor allem der Neurowissenschaften, in ihrer Funktion und Entwicklung deuten zu wollen. Er bedient sich dabei unterschiedlicher Zugangswege:
- Psychologische Aspekte wie u. a. Bedürfnisse nach Sicherheit und Überschaubarkeit, Emotionalität, Selbstvergewisserung über das Dasein und das Jenseits
- Hirnphysiologie und Hirnentwicklung einschließlich der entsprechenden Kognitionsleistungen und der Moralentwicklung
- Soziobiologie, Evolutions- und Sozialpsychologie
- Ethnologische Feldstudien
- Religionswissenschaftliche Studien
- Der Ansatz des kulturevolutionären Konstruktes der so genannten \„Meme\“ (Dawkins)
Mittels dieser Fülle an wissenschaftlichen Zugangswegen versucht der Autor für die verschiedenen Aspekte des religiösen Alltags in Stammeskulturen und in modernen Gesellschaften ein theoretisches Deutungsgefüge zu entfalten, wobei ein bestimmtes Erklärungsmuster vorherrscht. Es handelt sich hierbei um den Anspruch, jedwedes geistige und materielle Phänomen mit dem aktuellen Erkenntnisstand der Naturwissenschaften erklären zu können:
- So deutet er zum Beispiel Bestattungsrituale in verschiedenen Kulturen sowohl unter dem Aspekt der Hygiene – Vermeidung der Kontamination mit toxischen Zersetzungsprozessen – als auch unter dem Aspekt einer kollektiv-psychischen Verarbeitung des Todes in Gestalt des Ahnenkultes mit seinen sozialen Wirkkräften und Tabus.
- Die Vielgötterei mit hierarchischen Strukturen wie zum Beispiel bei den Hindus wird mit kognitiven Verarbeitungsmodalitäten erklärt, denn der Mensch kann nach Boyer nicht allein mit abstrakten Begrifflichkeiten eines Göttlichen emotional ausreichend befriedigt werden, er benötigt anschauliche und sinnliche Vergegenständlichungen wie eine Götzenstatue, ein Heiligenbild oder einen Fetisch.
Das Vorgehen des Autors bei der Argumentation ist von einem ständigen Changieren gekennzeichnet. So wechselt er abrupt und unvermittelt die Erklärungsweisen, zum Beispiel folgt auf die Erläuterung ethnologischer Phänomene der Verweis auf entwicklungspsychologisches Wissen oder hirnphysiologische Sachverhalte.
Diskussion
Ein gewaltiges Thema, Religion erklären zu wollen! Es stößt an die Grenzen menschlicher Erfassungsmöglichkeit, mittels menschlicher Wissensstände und Kategorien ein komplexes Phänomen deuten zu wollen, das für viele Menschen mit Furcht, aber auch Ehrfurcht und innigster emotionaler Verbundenheit verknüpft ist und ebenso auch erlebt wird. Denn bei der Religion handelt es sich um ein Phänomen, das universell ist im Sinne einer Konstante der Spezies Homo sapiens, genauso wie der aufrechte Gang und die artspezifischen Sinnesorgane. Religion ist somit allgemein, aber zugleich in jeder Kultur in ihren Gestaltungsformen wiederum einzigartig und spezifisch. Eigentümlichkeiten wie das Nebeneinander von Hochreligion und Volksglauben und die Verflechtungen mit Aberglauben und Esoterik weisen auf ein unermessliches Spektrum an religiösem Leben hin. Die entscheidenden Kategorien hierbei sind letztlich Glaube und Transzendenz, die sich gegenseitig bedingen. In präkognitiven Erfahrungen wie Ahnungen und Eingebungen haben viele Menschen bereits die Begrenztheit ihres Sinnesapparates erfahren und damit zugleich die Begrenztheit ihrer artspezifischen Welterfassungsfähigkeit erlebt. Dieses Erleben, das von den Menschen oft als Facetten des Schicksals oder der Fügung gedeutet wird, konstituiert ebenfalls Religion als eine Seinsweise des Alltags. Wird nun Religion in einer derart komplexen Seinsmächtigkeit erfasst, dann verblassen und verkümmern die gegebenen Erfassungs- und Erkenntnisinstrumentarien, die vom Autor angeführt werden.
Der Autor muss sich des Weiteren den Vorwurf gefallen lassen, die Thematik nicht angemessen erfasst zu haben. Die willkürliche Beschränkung in der Bearbeitung bestimmter Gegebenheiten wie zum Beispiel die verschiedenen religiösen Handlungsweisen, Rituale und Vergegenständlichungen stellt die Inhärenz des Sujets in Frage. Bloße Vereinfachung ist hier kein Erkenntnisschritt, sondern eine Barriere hinsichtlich eines möglichen Zugangs zum Gegenstand.
Es fehlt dem Autor auch das Verständnis oder das Wissen bezüglich der Validität seiner Erfassungsmodalitäten. Soziobiologie, Evolutionspsychologie und Hirnforschung sind gegenwärtig noch mit vielen Attributen des Spekulativen und Inkonsistenten behaftet, sie haben noch nicht die Dignität des Naturgesetzlichen erreicht. Und wenn dann noch abstruse Konstrukte wie die so genannten „Meme“ ins Feld geführt werden, dann ist der Vorwurf eines platten Eklektizismus nicht mehr fern.
Fazit
Der Anspruch und das Ansinnen, Religion wissenschaftlich erklären zu wollen, werden vom Autor nicht eingelöst. Der Leser wird mit einer großen Menge von Detailfakten konfrontiert, die sich jedoch nicht zu einem in sich stimmigen Konzept zusammenfügen lassen. Diese Abhandlung kann keinen Weg zum Verständnis der Religion aufzeigen.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 20.12.2011 zu:
Pascal Boyer: Und Mensch schuf Gott. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2011. 3. Auflage.
ISBN 978-3-608-94262-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11445.php, Datum des Zugriffs 28.11.2023.
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