Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.05.2011

Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. Verlag C.H. Beck (München) 2011. 782 Seiten. ISBN 978-3-406-61372-2. 29,95 EUR.
Umwelt ist Aufklärung
Die Umweltproblematik ist ein unendliches Thema, eine unendliche Geschichte. Bei dieser eher hilflosen Kennzeichnung einer Situation schwingt etwas mit, was der Mensch benutzt, wenn er von den Imponderabilien kapituliert, einfach ausgedrückt: sie nicht zu durchschauen, einzuschätzen, nicht mit ihnen umzugehen vermag. Es ist die „neue Unübersichtlichkeit“, die insbesondere die ökologische Kommunikation bestimmt. Denn immer, wenn „Bewegungen“ entstehen, entwickeln sich Stimmungen und Gewissheiten, die das menschliche Denken und Handeln präformieren oder umwälzen. Damit sind wir an einem entscheidenden Punkt menschlicher Kommunikation angelangt: Wirklichkeiten und Utopien auseinanderhalten und gleichzeitig sie so miteinander zu verbinden, dass sie nicht im Wust der scheinbaren und tatsächlichen „Sachzwänge“ untergehen. Im „Ozean der Literatur“, der sich auftut, angesichts der hausbackenen bis seriösen, der populären bis populistischen, der objektiven bis subjektiven Verlautbarungen und Analysen, ist es sowohl ein gewagtes Unternehmen, als auch ein löbliches Vorhaben, eine Geschichte der Ökologie zu verfassen.
Entstehungshintergrund und Autor
To be not an optimist, nor a pessimist, be Possibilist, diese Einschätzung traf Jacob von Uexküll anlässlich der Verleihung des Alternativen Nobelpreises 1988 an den brasilianischen Umweltaktivisten José Lutzenberger (vgl, dazu auch: José Lutzenberger, Wir können die Natur nicht verbessern, Edition Siegfried Pater, Nr. 2, Bonn 1996,76 S.). Der Historiker an der Universität Bielefeld und Autor von bemerkenswerter Literatur u. a. über Atomwirtschaft und eine Weltgeschichte der Umwelt (Natur und Macht, 2000), Joachim Radkau, legt eine umfangreiche „Geschichte zur ökologischen Geistesgegenwart“ vor. Dabei unternimmt er zwar auch Ausflüge in die Ursprünge der Geschichte der Umweltbewegung im 18. und 19. Jahrhundert, konzentriert sich dabei aber in wesentlichen auf das letzte halbe Jahrhundert. „Eine andere Welt ist möglich“, dieser aus der internationalen Umweltbewegung erwachsene Optimismus prägt auch die Master-Geschichte des Autors.
Aufbau und Inhalt
Radkau spricht von einer „historischen Denkblockade“ und von einem „Mangel an Geschichtsbewusstsein in der Umweltbewegung“; denn es sei überhaupt nicht ausgemacht, was die einzelnen Protagonisten, Umweltschützer und –politiker unter „Natur“ verstünden, und ob nicht jeder eigentlich nur „meine Natur“ meine und dabei nur den eigenen Nutzen im Sinn habe. Der Autor gliedert das Buch in vier große Kapitel: Im ersten geht es um die „Spurensuche im Öko-Dschungel“ und die Aufforderung, Umwelt zu denken. Die Chance des historischen Zugangs bietet sich vor allem darin, „die einzelnen Umweltbewegungen in Kontexte der Zeit zu stellen, sie nicht isoliert zu sehen und auch nicht ausschließlich ihre umweltpolitischen Ziele zu beachten“. Der herausfordernde Slogan „Lokal denken – global handeln“ ist zwar eingängig, doch eher zu verbalisieren als zu realisieren. Weil die lokale, ebenso wie die globale Umwelt-, eine eminent bedeutsame Gesundheits-, sprich Hygienefrage darstellt, lässt sich sagen, dass der ursprüngliche „Heimatschutz“ sich zu einem „Weltschutz“ entwickeln muss, wenn Umwelt- zu einem „Weltbewusstsein“ werden soll. Die Erkenntnis, dass es die Elemente sind, die menschliche Existenz auf der Erde human ermöglichen oder behindern, allem voran die Luft und der Boden, hat den Öko-Diskurs mit Dust Bowl in den USA, in Australien und zögerlich auch in Russland, befördert, und die mit der „Blut- und Boden-Ideologie“ der Nationalsozialisten eine perverse Form angenommen und sich in der Nachkriegszeit durch die vielfältigen internationalen Initiativen von UNO, UNESCO und anderen offiziellen und privaten Aktivitäten zu einem Höhepunkt entwickelt, der sich in Abrüstungskampagnen, Atomskepsis, Walrettungsprogrammen, Waldschutzvereinbarungen u. a. ausdrückte und mit den globalen Umweltkonferenzen, den Weltberichten und dem UN-Umweltprogramm die Aufmerksamkeit geweckt, dass sich die Menschheit darauf besinnen müsse, „Friends of the Earth“ zu werden und sich bewusst zu machen, dass es eines globalen Perspektivenwechsels bedürfe, um den „Ökozid“ abzuwehren. In dieser Zeit entstand auch der Pathos von der „Einen Welt“, der sich durch die Raumfahrtaufnahmen vom „blauen Planeten“ ins Bild setzte. Die Menschheit hat nur diesen einen Lebensraum, den es zu bewahren gälte. Mit dem Weltbericht an den Club of Rome „Grenzen des Wachstums“ verbanden sich die Ideen der Ökologie mit denen der Ökonomie. Interessant die Einschätzung des Autors, die Entstehung der Öko-Ära sei weit mehr vom Intellekt als von der Emotion bestimmt worden. Jedoch: Kaum eine Bewegung, die sich im Spannungsfeld menschlicher Wünschbarkeiten und Wirklichkeiten vollzieht, chargiert so extrem zwischen Anspruch und Wirklichkeit der individuellen, gesellschaftlichen, nationalen und globalen Erwartungen und Bedürfnissen an die Umwelt wie die ökologische. Bei der Sichtweise – „Umwelt ist alles“ – geraten Umweltschützer, Experten und Konsumenten nur all zu leicht in das Dilemma mit dem Alles ein Nichts zu erreichen.
Die Setzung von Prioritäten könnte dazu verhelfen, die Ohnmächte ökologischen Denkens und Handelns abzumildern. Aus dem globalen Diskurs haben sich Leitmotive als Ordnungsmerkmale herausgebildet, die die Konvergenzen, Kontroversen und Kongenialitäten bestimmen: Wasser-(-nutzung, -verbrauch, -verschmutzung, –kraft und -projekte) und Atomenergie. Am Beispiel der Kernenergiekontroverse lässt sich verdeutlichen, dass die üblichen Schubladen, wie sie sich im gesellschaftlichen Diskurs etabliert zu haben scheinen, nicht stimmen: Hier die jungen, dynamischen Befürworter des scheinbaren und unabdingbaren Fortschritts, dort die alten Ewiggestrigen, die das „Wie war es doch früher gut“ zelebrieren? Denn „um 1970 wandelte sich die Szenerie in dramatischer Weise. Mit dem amerikanischen Earth Day und der Erfindung der Umweltpolitik in den USA, dem Stockholmer Umweltgipfel von 1972, dem Europäischen Naturschutzjahr und weltweit vielen anderen Gleichzeitigkeiten bekamen Natur- und Umweltschutz einen internationalen, „progressiven“ Anstrich“. Mit der Hab-Acht-Stellung, die in der deutschen Diskussion um das „Waldsterben“ entstand, war der logische Schritt hin zur Rettung der Regenwälder nicht weit. Mit der kritischen, wiederum kontroversen Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der Gentechnologie und die „Chemiesierung“ der Lebensgüter entstand die bis heute gültige Nachfrage: Darf der Mensch alles machen, was er kann?
Es sind vor allem die Warner, Visionäre und Propheten, die über die nationalen und kulturellen Grenzen hinweg charismatisch sich gegen die Trends des Fortschrittsglaubens stellen und mit apokalyptischen, messianischen oder realexistierenden Rufen die Menschen zur Umkehr zu bewegen suchen. Es ist das Jonas’sche Prinzip der Verantwortungsethik, das anti-utopische Element Max Webers, das ais dem Buddhismus hergeleitete Denken „Small is Beautiful“, das von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie beeinflusste Kämpfertum eines Chico Mendes, der (vergebliche?) Kampf des nigerianischen Umweltaktivisten Ken Saro-Wiwa gegen die Ölmultis, nicht zu vergessen das Gründungsmitglied der Grünen, Petra Kelly und weiterer Feministinnen, die der Öko-Bewegung einen neuen, „weiblichen“ Anstrich gaben. Die Wirkungen, Einflussnahmen und politisch wie gesellschaftlich etablierten Selbstunternehmungen, wie sie von spontanen und institutionalisierten Zusammenschlüssen und Interessengruppen, den Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) ausgehen, wie z. B. von Greenpeace, Friends of the Earth, die britische Animal-Liberation-Bewegung, die „Gorleber“ und andere, bewirken ohne Zweifel einen Mentalitätswandel bei den Menschen; wenn sich auch der Wechsel vom „homo oeconomicus“ zum „homo oecologicus“ schwergängig ist. Immerhin: Mit den Leitbild „sustainable development“, wie dies im Brundtlandbericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1987 formuliert und mit dem Denkmerkmal „Our Common Future“ in die Welt gesetzt wurde, hat mittlerweile „Nachhaltigkeit“ eine global-anzeigende Wirkung erreicht ( vgl. dazu auch: Ulrich Groeber, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2010, in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/9284.php; Matthias Horx, Das Buch des Wandels. Wie Menschen Zukunft gestalten, München 2009, www.socialnet.de/rezensionen/9735.php; Jacob A. Goedhart, Über-Leben, Halle/Saale 2006, www.socialnet.de/rezensionen/10087.php).
Wie weit ist es mit unserer Fähigkeit, Risiken in unserer „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck) zu erkennen und existentiell zu bewerten? Stolpern wir, die allzu Vergesslichkeitsbesessenen und –verlassenen und egoistisch Denkenden von einer Katastrophe, die uns unser „Immer-weiter-immer-schneller-immer-höher-immer-mehr“-Denken beschert, , in die nächste? Sitzen wir die Ahnungen aus, dass auf Tschernobyl scheinbar zwangsläufig Fukushima folgt? Die Suche nach der „ökologischen Gerechtigkeit“ ist, das ist immer noch zu wenig in unserem Bewusstsein, eine Insistenz auf lokale und globale soziale Gerechtigkeit. Die mit Hoffnungen, Prophezeiungen, Visionen und Enttäuschungen gepflasterten Straßen des „Environmentalism“ lassen sich in den alljährlichen Berichten des New Yorker Worldwatch Institute „Zur Lage der Welt“ erkennen: Im Bericht 2009 wird davor gewarnt, dass der „Planet vor der Überhitzung“ stehe ( Worldwatch Institute (Hrsg.): Zur Lage der Welt 2009, www.socialnet.de/rezensionen/7730.php), und 2010 wird darauf hingewiesen, dass, „wenn das System falsch programmiert ist, ( ) der gute Wille des Einzelnen an Grenzen (stößt)“ ( Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2010. Einfach besser leben. Nachhaltigkeit als neuer Lebensstil, München 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10494.php). Die eingängige und eigentlich allgemeinverständliche Formel „Think globally – act locally“ unterliegt freilich, wie jeder verändernde Prozess, der „Dialektik der Aufklärung“: „Die Natur der neuen Ökologie… enthält daher an den Menschen die doppelte Aufforderung, sie zu schonen, jedoch auch, sie zu schützen, aktiv zu werden mit aller Kraft, da es um das Überleben der Erde (und der Menschheit, J.S.) geht“.
Fazit
Die umfassende Analyse, die Joachim Radkau in seinem Buch “Die Ära der Ökologie“ vornimmt, akribisch und ausholend in die Gründe des historischen, philosophischen, kulturellen und politischen Denkens der Welt, könnte ein Wegweiser sein im Gerümpel der unterschiedlichen, hegemonialen, lokalen und globalen Interessen und Überzeugtheiten, wie sie sich derzeit in der ökologischen Kommunikation darstellen. Es ist ein Fingerzeig für alle diejenigen, die mit dem derzeitigen Entwicklungsstand in der sich immer interdependenter, entgrenzender und sich kulturell öffnender (Einen?) Welt unzufrieden sind, aber auch für jene, die der Meinung sind,: „Es wird sich schon richten!“, ob aus Phlegmatismus, Fatalismus oder ideologischem Denken bestimmt. Es ist ein Vor- und Nachschlagewerk für den notwendigen, existentiellen Diskurs, wohin die Menschheit sich entwickeln solle – hin zu Egoismus und dem Recht des Stärkeren, oder zu einer Menschlichkeit in der Vielfalt der menschlichen Gesellschaften und Kulturen ( vgl. dazu: Jörn Rüsen / Henner Laass, Hrsg., Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, www.socialnet.de/rezensionen/8537.php), in dem es darum geht, „nach dem Menschsein des Menschen zu fragen“ ( Jörn Rüsen, Hrsg., Perspektiven der Humanität. Menschsein im Diskurs der Disziplinen, Bielefeld 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10385.php). Das Bild, das der Autor, gewissermaßen als Replik auf die Chaostheorie zum Schluss seines Buches benutzt – „Jede kleine gute Tat ein Kieselsteinchen ins wunderbare Mosaik des Lebens“ – will ja deutlich machen, dass es, trotz der scheinbar unbewältigbaren Imponderabilien, Zwänge und Notwendigkeiten, auf den Einzelnen, also auf dich und mich ankommt, wie die Welt sich human verändern kann. Adrian Kreye textet in seinem Beitrag „Ökologie ist Notwehr“ in der SZ vom 9./10. 4. 2011, dass es die kleinen Schritte im Alltag sind, die in der Masse den gesellschaftlichen Druck ausüben, der die Welt verändert. Und der Umweltaktivist und ehemalige Schweizer Manager Hans A. Pestalozzi drückt dies in seinem bereits 1979 erschienenem Buch „Nach uns die Zukunft. Von der positiven Subversion“, in der von Kurt Marti entliehenem Aufforderung aus: Wo kämen wir hin / wenn alle sagten / wo kämen wir hin / und niemand ginge / um einmal zu schauen / wohin man käme / wenn man ginge“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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