Worldwatch Institute (Hrsg.): Zur Lage der Welt 2011
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 22.03.2012

Worldwatch Institute (Hrsg.): Zur Lage der Welt 2011. Hunger im Überfluß : Neue Strategien im Kampf gegen Unterernährung und Armut.
oekom Verlag
(München) 2011.
302 Seiten.
ISBN 978-3-86581-241-4.
D: 19,95 EUR,
A: 20,55 EUR,
CH: 29,95 sFr.
In Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch.
„Ja, sie kann…“
… nämlich: Die Erde kann heute und in Zukunft alle Menschen ausreichend und gesund ernähren! Diese Aussage ist erst einmal zuversichtlich zu verstehen – nicht verbunden mit einem „aber“, sondern einem „wenn“. Wenn es gelingt, dass ein grundlegendes Umdenken nicht nur bei der landwirtschaftlichen (Nahrungs-)Produktion, sondern insgesamt sich als lokaler und globaler Perspektivenwechsel vollzieht. Die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ hat dies 1995 so formuliert: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Und doch: Hunderte von Millionen Menschen sind im Teufelskreis der Armut, des Hungers und der unzureichenden Ernährung gefangen – obwohl die Ernteerträge von landwirtschaftlichen Produkten in vielen Teilen der Erde in den letzten Jahrzehnten gesteigert werden konnten. Das Problem ist also nicht, dass nicht genug Nahrungsmittel in der Welt zur Verfügung stehen, sondern dass die Nutzung und Verteilung der Güter nicht funktioniert. Im Jahr 2000 haben die Vereinten Nationen in eindeutiger Weise das Recht auf Nahrung bestätigt, wie es bereits als Menschenrecht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) in Artikel 25 ausgewiesen wird: „Jedermann hat das Recht auf einen für die Gesundheit und das Wohlergehen von sich und seiner Familie angemessenen Lebensstandard, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung, Wohnung, ärztlicher Versorgung und notwendiger sozialer Leistungen…“.
Entstehungshintergrund und Herausgeber
Es sind mehrere Gründe, die es dringend und unaufschiebbar machen, endlich das Menschenrecht auf Nahrung gleichberechtigt durchzusetzen. In der Ernährungs- und Agrarpolitik sind es vor allem drei Ursachen, die als Herausforderung für die Menschheit anstehen: Da sind zum einen die zunehmenden Abhängigkeiten vom Weltmarkt, die insbesondere Menschen in den sogenannten Entwicklungsländern betreffen und damit die ungleichen Verteilungs- und Verbrauchsmodalitäten; zum zweiten ist es der Klimawandel, der ganze Landschaften zu unfruchtbaren Lebensräumen für die Menschen werden lässt; und es ist drittens die Notwendigkeit, agrarökologisches Denken und Handeln in das globale Bewusstsein zu bringen.
Das New Yorker Worldwatch Institute bringt alljährlich den Bericht zur Lage der Welt heraus (z. B. 2009: Der Planet Erde steht vor der Überhitzung; 2010: Nachhaltig leben, vgl. dazu die bisherigen Rezensionen in Socialnet) und formuliert jeweils einen Schwerpunkt, der es ermöglichen soll, auf dem Weg zu einer gerechten, sozialen und demokratischen (Einen) Welt voran zu kommen. Der Bericht 2011 befasst sich mit der Ernährungssituation. Der Titel „Hunger im Überfluss“ verdeutlicht dabei sowohl die prekäre Situation des Nahrungsmangels auf der einen und des Nahrungsüberflusses auf der anderen Seite, wie auch der ungerechten Verteilung der (an sich) ausreichend vorhandenen Güter auf der Erde.
Traditionell als Mitherausgeber fungieren die Berliner Heinrich-Böll-Stiftung, die sich der politischen Bildung im In- und Ausland verpflichtet sieht und die demokratische Willensbildung, das gesellschaftliche Engagement und Völkerverständigung fördert; sowie die Entwicklungs- und Umweltorganisation Germanwatch, die sich für globale Gerechtigkeit engagiert.
Aufbau und Inhalt
Der Bericht 2011 hat zum Schwerpunkt die Ernähungs- und landwirtschaftliche Produktionssituation in Afrika. Im Rahmen des Worldwatch-Institute-Projektes „Nourishing the Planet“ haben Mitarbeiter des Instituts 2009 und 2010 insgesamt 25 afrikanische Länder bereist, mit Kleinbauern gesprochen und ihre Produktionsmethoden kennen gelernt. Dabei ist ein aufregender Bericht zustande gekommen: Nicht, wie vielleicht erwartet, eine Katastrophendarstellung, sondern (auch) ein Nachweis von bemerkenswerten Innovationen bei den ärmsten Gemeinschaften im Kontinent, die „für die Menschen und den Planeten von größerer Bedeutung sein können als die Mehrzahl der Hightech-Erfindungen“- So zeigt sich, „dass neue Ansätze in der Landwirtschaft zur Lösung einiger dringlicher Probleme beitragen können: vom Schutz bedrohter Wasserreservoire über die Sanierung der Fischerei bis zur Verlangsamung des Klimawandels“, so Christopher Flavin, der Präsident des WWI. Im zweiten Einleitungsbeitrag setzen sich die Referentin für internationalen Agrarhandel der Heinrich-Böll-Stiftung, Christine Chemnitz und der Germanwatch-Referent für Welthandel und Ernährung, Tobias Reichert, kritisch mit der Situation in der ökologischen EU-Agrarpolitik auseinander: „Von Fleisch und Fairness“. Es geht darum, dass die EU von der handelspolitischen Strategie „Global Europe“ abrückt und sich hin entwickelt zu einer Landwirtschaftspolitik, die (lokale und globale) ökologische, soziale und ethische Anforderungen erfüllt. In 14 Kapiteln werden Praxisbeispiele dargestellt und daraus Forderungen für Agrarökologie entwickelt.
Im ersten Kapitel zeigen Brian Halweil und Danielle Nierenberg vom Worldwatch Institute neue Wege zur Abschaffung des Hungers auf. Das Expertenteam berichtet über eine Reihe von Modellen und Innovationen in mehreren afrikanischen Ländern, die dazu beitragen, dass kurz-, mittel- und längerfristig sich Entwicklungen vollziehen, die den Zusammenhang von landwirtschaftlicher Produktion und Umweltökologie wieder herstellen und so zur Beendigung des Hungerproblems auf der Erde beitragen. David J. Spielman und Rajub Pandya-Lorch vom International Food Policy Research Institute vermitteln in einem Pro und Contra „Maßstäbe für den Erfolg bei der landwirtschaftlichen Entwicklung“.
Im zweiten Kapitel signalisieren die Leiterin des Landscape Program bei EcoAgriculture Partners und Fakultätsmitglied der Cornell Univerity, Louise E. Buck und die Präsidentin und Hauptgeschäftsführerin von EcoAgriculture Partners, Sara J. Scherr in ihrem Beitrag „Öko wird Mainstream“ Systeme für ökologisch bewirtschaftete Landschaften. Sie zeigen an mehreren Beispielen Möglichkeiten und Notwendigkeiten auf, um differenzierte Anbau- und Vermarktungsmethoden zu initiieren. Xavier Rakotonjanahary vom Nationalen Zentrum für ländliche Entwicklung informiert über „Innovationen bei der Reiszüchtung in Madagaskar“.
Der Direktor des Regional Center for Africa vom World Vegetable Center (AVRDC) in Arusha/Tansania, Abdou Tenkouano, thematisiert im dritten Kapitel „Gemüse!“. Er plädiert für eine „Gemüse-Revolution“ und diskutiert, wie Aufklärung und Innovation zusammen wirken können, um die gravierenden Mangelerscheinungen, insbesondere bei Kindern, zu verhindern. Stephanie Hanson von der Organisation „One Acre Fund“ zeigt auf, wie Innovationen und Entwicklungen sich vollziehen können.
Sandra I. Postel, Direktorin des Global Water Policy Project informiert im vierten Kapitel mit „Tropfen für Tropfen mehr Ertrag“ über Methoden zur Wassergewinnung, -aufbereitung und Bewässerung, und sie stellt die Bedingungen heraus, wie das Lebensgut Wasser in den afrikanischen Anbaugebieten besser genutzt werden kann. Maimbo Malesu vom World Agroforestry Center in Nairobi gibt Beispiele zur Regenwassergewinnung.
Im fünften Kapitel verdeutlicht der Agrarwissenschaftler Roland Bunch (siehe auch sein Buch: Two Ears of Corn. A Guide to People-Centered Agricultural Improvement, 1985) den Zusammenhang von Boden-(nutzung) und Lebensraum: „Rettung für die Böden – Hilfe für die Menschen“, insbesondere in ariden Landschaften, wie der Sahel-Zone Afrikas. Catherine Njuguna vom International Institute of Tropical Agriculture berichtet über Züchtung, Einführung, Anbau und Ernte von neuen Manioksorten auf Sansibar.
Die Generalsekretärin der Stiftung biologische Vielfalt von Slow Food International, Serena Milano, zeigt im sechsten Kapitel auf, wie man die Vielfalt einheimischer Lebensmittel schützt und dazu beiträgt, dass Anbau, Verzehr, Vermarktung und Ökologie in ein Gleichgewicht kommen. Marie-Ange Binagwaho von Zawadi Enterprises berichtet über die Vorteile beim Einsatz von Solarkochern im Senegal.
Der Ernährungswissenschaftler von der US-amerikanischen Stanford University, David Lobell und Marshall Burke von der University of California in Berkeley plädieren im siebten Kapitel dafür, „Landwirtschaft gegen Klimawandel“ zu verstehen. Der Amsterdamer Experte für nachhaltiges Landmanagement, Chris Reij, zeigt auf, wie die fortschreitende Landdegradation, etwa in der Sahel-Zone, gestoppt werden könnte – nicht durch „Grüne Mauern“ vom Senegal durch die Sahara bis nach Dschibuti – sondern durch Maßnahmen der Wiederbegrünung durch agroforstwirtschaftliche Initiativen und Aufklärung der Bevölkerung über den gemeinwirtschaftlichen Nutzen. Anna Lappé vom Small Planet Fund (Autorin des Buches: Diet for a Hot Planet. The Climate Crisis at the End of Your Fork and What You Can Do About it, 2010) spricht von der „Klimakrise auf unseren Tellern“.
Der Historiker und Nahrungsmittelaktivist Tristam Stuart entwirft im achten Kapitel die Vision für „eine immergrüne Revolution für Afrika“ (Waste: Uncovering the Global Food Scandal, 2009), und Christi Zaleski vom Gambia-Senegal Sustainable Fisheries Project stellt die Ziele und Erfolge ihrer Organisation vor.
Im neunten Kapitel thematisieren die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen bei Urban Harvest in Nairobi/Kenia, Nancy Karanja und Mary Njengo, die Problematik „Hungernde Städte, satte Städte“. Dabei werden Projekte und Konzepte vorgestellt, wie die städtische Landwirtschaft effektiver entwickelt und die Bedeutung der Frauen herausgehoben werden kann. Molly Theobald vom Worldwatch Institute stellt dazu nachahmenswerte Beispiele vor.
Die Washingtoner Beraterin Dianne Forte, Royce Gloria Androa vom „Reach Your Destiny Consult“ und die Inhaberin der ugandischen Zawadi Enterprises, Marie-Ange Binagwaho, bringen im zehnten Kapitel Exempel, wie „Bäuerinnen in Afrika“ erfolgreich tätig sein können. Sithembile Ndema von Policy Analysis Network „Food, Agriculture and Natural Resources“ informiert über Theater-, als Informations- und Aufklärungsprojekte.im südlichen Afrika.
Der Manager und Autor des Buches „The Teeth May Smile but the Heart Does Not Forget. Murder and Memory in Uganda“ (2009), Andrew Rice, nimmt sich im elften Kapitel eines Themas an, das in immer stärkerem Maße in die Kritik an einer neoliberalen und neokolonialen Politik gerät: „Der Wert des Landes: Ausverkauf von Afrikas Feldern“. Am Beispiel der Entwicklung in Äthiopien legt er seine Finger in die immer größer werdende Wunde von globaler Dominanz und Abhängigkeit.
Der Journalist Samuel Fromartz setzt sich im zwölften Kapitel mit „Hunger bei Überschüssen – von Preisen und anderen Problemen“ auseinander. Dabei betrachtet er die immer wieder missverstandene und -interpretierte Frage nach der Wertschöpfungsgeschichte der Produktion, des Verbrauchs und der Vermarktung von Lebensmitteln. Der US-amerikanische Landwirt und Schriftsteller Fred Bahnson informiert über ganzheitliche Hilfsprojekte von christlichen Missionen in Afrika.
Mario Herrero und andere Expertinnen und Experten vom International Livestock Research Institute in Nairobi reflektieren im dreizehnten Kapitel darüber, wie Nutztiere – Rinder und Kleinvieh – gegen Hunger und Armut genutzt werden können. Jim DeVries von Heifer International und Danielle Nierenberg vom Worldwatch Institute verdeutlicht dies am Beispiel der kleinbäuerlichen Nutztierhaltung in Ruanda.
Im vierzehnten und letzten Kapitel schließlich wird ein zusammenfassender „Wegweiser zur Ernährung der Welt“ mit mehreren Beiträgen gebracht: Der Präsident des Millennium Institute in Virginia/USA, Hans R. Herren und MitarbeiterInnen des Instituts diskutieren mit dem Beitrag „Innovationen zum Verständnis komplexer Systeme“ Hintergründe und Funktionen zur Veränderung der landwirtschaftlichen Produktion. Charles Benbrook vom Organic Center in Colorado stellt die notwendigen Schritte zusammen, die zur Bewertung von Innovationen bei landwirtschaftlichen Entwicklungsprojekten notwendig sind. Marcia Ishiti-Eiteman vom Pesticide Action Network North-America formuliert Kriterien, die für „Innovationen in Institutionen für Mensch und Erde“ erforderlich sind. Die Geschäftsführerin des Oakland Institute in Kalifornien, Nnurdaha Mittal verweist darauf, dass „Innovationen für die Governance“ für die Durchsetzung des Menschenrechts auf Nahrung entwickelt werden müssen. Alexandra Spieldoch vom Agriculture &Natural Resource Management in Blacksburg/Virginia zeigt schließlich auf, wie sich „Innovationen bei den politischen Reformen“ gestalten können.
Fazit
Berichte, Analysen und Prognosen über den Zustand unserer (Einen) Welt gibt es mittlerweile viele – von den Berichten an den Club of Rome, über Global 2000, den Nord-Süd- und Süd-Süd-Berichten, den Ergebnissen der Weltkonferenzen und -kommissionen, bis hin zu den zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten. Die jährlich erscheinenden Berichte des New Yorker Worldwatch Instituts (die deutsche Ausgabe in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch) nehmen dabei einen Sonderstatus ein: Zum einen dadurch, dass mit jedem Bericht ein globaler Schwerpunkt thematisiert wird – im Bericht 2011: Hunger – zum anderen, dass im Mittelpunkt der Darstellungen und Analysen der optimistische, ganzheitliche Blick steht und die Brückenbauerfunktion dazu! „Die Ernährung der Menschen und die Nährkraft des Planeten sind heute unauflöslich miteinander verbunden und lebenswichtig für unsere Zukunft“.
Wie die bisherigen Berichte auch, gehört „Zur Lage der Welt 2011: Hunger im Überfluss. Neue Strategien gegen Unterernährung und Armut“ in die Studierstuben und Schul- und Hochschulbibliotheken genau so, wie auf die Schreib- und Messtische von Politikern und Praktikern, die sich darum bemühen, dass unsere Eine Welt humaner, gerechter und sozialer wird, jetzt!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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