Eckhard Klieme (Hrsg.): PISA 2009
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 26.04.2011

Eckhard Klieme (Hrsg.): PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2010. 309 Seiten. ISBN 978-3-8309-2450-0. 24,90 EUR.
Thema
Es geht hier um Bildung, genauer um die Kompetenzen 15Jähriger in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen. Insofern ist das Thema für Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit vorab relevant in den Aufgabengebieten und Tätigkeitsfeldern Außerschulische Bildungsarbeit, Jugendarbeit und Schulsozialarbeit. Es geht aber auch um Bildungsungerechtigkeit, die durch das derzeitige deutsche System vorschulischer Bildung keine nennenswerte Milderung erfährt (Heekerens, 2010a) und den bedeutsamsten Transmissionsriemen für Soziale Ungerechtigkeit über Generationen darstellt (Heekerens, 2010b). Man wusste schon aus früheren Studien, was sich auch bei PISA 2009 (wieder)zeigt, dass unser Bildungssystem Kinder/Jugendliche mit auch nur einem folgender drei Merkmale benachteiligt: aus sozial schwacher Familie, mit Migrationshintergrund, männlich. Die beiden ersten Benachteiligungen und deren Folgen kennt die Soziale Arbeit bestens, hinzu lernen muss sie, dass nicht nur Mädchen/Frauen, sondern auch Jungen/Männer das benachteiligte Geschlecht sein können.
Entstehungshintergrund
Im Jahre 2009 hat Deutschland nach 2000, 2003 und 2006 zum vierten Mal an PISA teilgenommen. Der Schwerpunkt lag 2003 bei Mathematik, 2006 bei den Naturwissenschaften und 2009 nach 2000 wieder bei der Lesekompetenz. Auf sie beziehen sich daher vertiefte Analysen sowie der Vergleich mit dem größten Zeitraum. Die deutschsprachige Zusammenfassung der jeweiligen PISA-Ergebnisse erfolgt durch das PISA-Konsortium Deutschland, ggf. ergänzt um weitere Herausgeber, die für eine zusammen fassende (für PISA 2009 vgl. Klieme et al., 2010) und eine detaillierte Darstellung, wie sie hier für PISA 2009 besprochen wird, sorgen.
Herausgeber und Autoren
Die Herausgeber sind die sieben Mitglieder des PISA-Konsortium Deutschland und Nina Jude, die das Projekt PISA 2009 am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) geleitet hat. Zum besseren Verständnis: Für die Durchführung von PISA 2009 war das Konsortium Deutschland verantwortlich, die Federführung lag beim DIPF und Eckhard Klieme vom DIPF ist der Sprecher des Konsortiums. Neben den Herausgebern finden sich unter den Autoren weitere Wissenschaftler, die mehrheitlich Mitarbeiter am DIPF oder am Leibnitz-Institut für Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, Kiel (Leitung: Olaf Köller) sind.
Aufbau
Das Sammelwerk enthält am Anfang nach dem Inhaltsverzeichnis eine kurze Darstellung der Organisationsstruktur von PISA 2009 in Deutschland und am Ende ein je gemeinsames Abbildungs- bzw. Tabellenverzeichnis sowie „Erläuterungen zur Ergebnisdarstellung“, von der all jene profitieren, deren Statistikausbildung schon länger zurück liegt (oder nie statt fand) und/oder die mit der PISA-Logik wenig(er) vertraut sind. Dazwischen liegen, jeder mit eigenem Literaturverzeichnis versehen, folgende zehn Einzelbeiträge:
- Kapitel 1: Das Programme for International Student Assessment (PISA) (Nina Jude und Eckhard Klieme)
- Kapitel 2: Lesekompetenz von PISA 2000 bis PISA 2009 (Johannes Naumann, Cordula Artelt, Wolfgang Schneider und Petra Stanat)
- Kapitel 3: Lesemotivation und Lernstrategien (Cordula Artelt, Johannes Naumann und Wolfgang Schneider)
- Kapitel 4: Schulische Rahmenbedingungen und Lerngelegenheiten im Deutschunterricht (Silke Hertel, Jan Hochweber, Brigitte Steinert und Eckhard Klieme)
- Kapitel 5: Mathematische Kompetenz von PISA 2003 bis PISA 2009 (Andreas Frey, Also Heinze, Dorothea Mildner, Jan Hochweber und Regine Asseburg)
- Kapitel 6: Naturwissenschaftliche Kompetenz von PISA 2006 bis PISA 2009 (Silke Rönnebeck, Katrin Schöps, Manfred Prenzel, Dorothea Mildner und Jan Hochweber)
- Kapitel 7: Soziokulturelle
Bedingungsfaktoren, Lebensverhältnisse und Lesekompetenz
- Kapitel 7.1: Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund (Petra Stanat, Dominique Rauch und Michael Segeritz)
- Kapitel 7.2: Soziale Herkunft und Kompetenzerwerb (Timo Ehmke und Nina Jude)
- Kapitel 7.3: Leseförderung im Elternhaus (Silke Hertel, Nina Jude und Johannes Naumann)
- Kapitel 8: PISA 2000-2009: Bilanz der Veränderungen im Schulsystem (Eckhard Klieme, Nina Jude, Jürgen Baumert und Manfred Prenzel)
Ausgewählte Inhalte
Die einzelnen (Unter-)Kapitelüberschriften geben eine hinreichend genaue Vorstellung davon, welcher Aspekt bei der Darstellung der für Deutschland relevanten Ergebnisse von PISA 2009 und deren Analyse über die Zeit und in verschiedenen Kontexten jeweils beleuchtet wird. Dass die drei Kompetenzfelder unterschiedlich lange Vergleichszeiträume haben, hängt damit zusammen, dass und wann sie zu unterschiedlichen PISA-Wellen als Schwerpunkt erfasst wurden. Da Lesen 2009 wie schon 2000 Schwerpunkt war, finden sich hier zwei zusätzliche Kapitel (3 und 4) sowie ein weiteres Unterkapitel (7.3). Das größte Interesse bei Disziplin und Profession dürften die Unterkapitel 7.1. und 7.2 hervor rufen, aber auch das 8. Kapitel ist nicht nur mittelbar relevant.
Der Bericht über PISA 2009 bringt zunächst einmal eine höchst erfreuliche Botschaft. Das zeigt ein erster (Über)Blick, der Deutschland im Vergleich zwischen 2000 und 2009 und in Relation zu den anderen 28 OECD-Staaten, die seit der ersten PISA-Studie mit dabei sind und für die Vergleichszahlen für 2000 und 2009 vorliegen, gilt. Danach hat sich Deutschland sich in Mathematik (2009: 513 PISA-Punkte) um 23 Punkte verbessert, im 28er-Feld um 11 Ränge nach vorne gearbeitet und ist vom unterdurchschnittlichen Bereich in den überdurchschnittlichen gewechselt. Für Naturwissenschaften (2009: 520) herrscht ein vergleichbares Bild: Verbesserung um 33 Punkte bzw. 18 Ränge und ebenfalls ein Wechsel vom unter- in den überdurchschnittlichen Bereich. Schlechter sieht es beim Lesen (2009: 497) aus: Verbesserung um 13 Punkte bzw. 8 Ränge und ein Wechsel von unter- zu durchschnittlich. Über alle drei Kompetenzbereiche und beide Vergleichsjahre hinweg erweisen sich zwei Länder als Spitzenreiter: Finnland und Südkorea.
Diese beiden Länder sind Spitzenreiter nicht nur im Mittelwert, sondern auch darin, dass in ihnen die „Risikogruppe“ am kleinsten ist. Für die Lesekompetenz in Deutschland gilt: Auf der Kompetenzstufe II (407.47 – 480.17 PISA-Punkte) und - ab hier beginnt die „Risikogruppe“ - der Kompetenzstufe Ia (334.75 – 407.46) hat sich wenig geändert. Wohl aber darunter: Dort sank der Prozentsatz von 9,9 im Jahre 2000 kontinuierlich über 2003 und 2006 auf 5,2 im Jahr 2009. Dennoch ist die „Risikogruppe“, d.h. die Gruppe derer, die unter Level 2 bzw. unter 407,47 PISA-Punkten sind, mit 18,5 Prozent nach wie vor hoch. „Das bleibt ein Armutszeugnis“ kommentierte das Manfred Prenzel (Klieme & Prenzel, 2010, S. 71). Es ist ein Armutszeugnis nicht zuletzt deshalb, weil das reiche Deutschland mit diesem Ergebnis zwar nahe beim OECD-Durchschnitt von 18,8 liegt, aber unter 34 OECD-Staaten nur auf Rang 22, unter den 29 OECD-Staaten, die schon 2000 mit dabei waren, auf Rang 20 und weit hinter Südkorea (5,8) und Finnland (8,1) rangiert.
Es ist ein Gesichtspunkt von „Egalität“, dass die Leistungsbreite, die Streuung nicht allzu groß ist und nicht zu sehr in die untersten Leistungsbereiche hinein ragt. So betrachtet ist Deutschland weniger egalitär als Finnland und Südkorea. Und weil diese beiden Länder zugleich Spitzenreiter in der Durchschnittsleistung sind, lässt sich sagen: Exzellenz und Egalität müssen nicht im Widerspruch stehen. Ein anderer Aspekt von „Egalität“ betrifft die Frage, wie stark sich der familiäre Hintergrund eines Schülers auswirkt auf dessen Leistung. In Deutschland ist der Einfluss des familiären Hintergrunds in den letzten Jahren geringer geworden. Für die Lesekompetenz im Vergleich von PISA 2000 und PISA 2009 zeigt sich: Im Vergleich zu 2000 ist die Lesekompetenz 2009 höher und der Einfluss des familiären Hintergrunds geringer. Dennoch ist er weiterhin (zu) hoch: Im Vergleich von 34 OECD-Staaten belegt Deutschland in diesem Punkt lediglich Rang 26. Was den zweiten Aspekt von „Egalität“ betrifft, der danach fragt, wie stark sich der familiäre Hintergrund eines Schülers auf dessen Leistung auswirkt, so ist Folgendes zu ergänzen: Nach Rängen beurteilt nimmt Finnland (neben Island) die Spitzenposition ein. Damit ist und bleibt Finnland weiterhin das Paradebeispiel dafür, dass Egalität und Exzellenz Hand in Hand gehen können.
Familiärer Hintergrund ist die eine Schülervariable, mit der Leistungsunterschiede einher gehen, Geschlecht die andere. Im Mittel der OECD-Ländern klärt Geschlecht rund ein Achtel (12,8 Prozent) der Varianz der Leseleistung auf; das ist immerhin halb so viel wie die Varianzaufklärung, die durch die familiäre Herkunft geleistet wird. Wie sieht die Bildungsbenachteiligung männlicher Jugendlicher in Deutschland denn konkret aus?Bei PISA 2009 zeigte sich bezüglich der Lesekompetenz bei einem Mittelwert von 497 PISA-Punkten eine 40-Punkte-Diskrepanz zwischen Mädchen (518) und Jungen (478), womit Deutschland über dem OECD-Durchschnitt (39 PISA-Punkte zugunsten der Mädchen) liegt. Das noch mehr Erschreckende ist: Während es bei den Mädchen nur ein Achtel (12,6 %) ist, das zur Risikogruppe (unter Level 2 bzw. unter 407,47 PISA-Punkten) gehört, ist es bei den Jungen mit 24 Prozent bald ein Viertel. Schlüsselt man die Lesefähigkeit nach Kompetenzstufen und Geschlecht auf, so zeigt sich ein spiegelbildliches Muster: In den 4 höheren Kompetenzstufen (III – VI) dominieren die Mädchen, in den niedrigeren (unter Ib – II) die Jungen. Wenig tröstlich ein letzter Befund: Die Schere schließt sich nicht, sondern geht noch weiter auf. Zwischen 2000 und 2009 haben sich auch die Jungen beim Lesen verbessert, aber nur um 10 Punkte, während es bei den Mädchen 15 sind (OECD, 2010b: 27, Abb. V.1.1)
Und was ist mit der „Migrations“-Frage? Den Ergebnissen von PISA 2009 ist zur Lesekompetenz Folgendes zu entnehmen: Es bestehen – trotz einer statistischen signifikanten Verbesserung um 26 PISA-Punkte seit 2000 - nach wie vor statistisch signifikante und praktische bedeutsame Unterschiede zwischen Schülern ohne (514 PISA-Punkte; 2000: 509) und mit Migrationshintergrund (470), selbst solchen der zweiten Generation Generation (457). Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen den beiden Migrantengruppen, die die höchsten Anteile an Schulpflichtigen stellen und in allen PISA-Untersuchungen den größten Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund stellten, nämlich denen mit türkischer Herkunft und jenen aus dem Gebiet der früheren UdSSR; die letzteren verbessern sich – in Kenntnis früherer Befunde wenig überraschend - stärker. Bevor man aber zu ethnischen und/oder kulturellen Erklärungen für die Kompetenzunterschiede zwischen beiden Migrantengruppen greift, sollte man zur Kenntnis nehmen, dass sich die beiden Gruppen hinsichtlich bekannter Prädiktoren für Bildungserfolg unterscheiden: Häuslicher Sprachgebrauch – darin also, ob zuhause hauptsächlich die Schulsprache verwendet wird oder nicht - und familiärer Hintergrund, wofür in der Analyse von möglichen Migrationseffekten bei PISA 2009 für Deutschland drei Indikatoren des familiären Hintergrunds benutzt wurden: Sozioökonomischer Status, kulturelle Ressourcen und Bildungsniveau der Eltern. In allen vier Indikatoren stehen die PISA-Jugendlichen aus der früheren UdSSR besser da als die türkischstämmigen; bei den zwei Indikatoren (häuslicher Sprachgebrauch und sozioökonomischer Status), die bereits 2000 erhoben worden waren, war das auch schon damals der Fall.
Diskussion
Die Frage der Bildungsgerechtigkeit steht heute hoch im Kurs; wieder, muss man sagen, denn ähnlich war es in den 1960ern, als der Rezensent zu Füßen Georg Pichts saß, der über die „Bildungskatastrophe“ aufklärte. Bei aller Gleichheit zwischen damals und heute hat sich bei der Frage nach der Bildungsgerechtigkeit aber ein deutlicher Wandel vollzogen: „Offenbar geht es gegenwärtig nicht mehr darum, dem „katholischen Arbeitermädchen vom Lande“ Zugang zu weiterführender Bildung zu ermöglichen, vielmehr soll der „männliche Hauptschüler mit Migrationshintergrund in städtischen Ballungsgebieten“ nicht vollends ins gesellschaftliche Abseits entlassen werden…" (Steiner 2009, S. 84).
Gender ist auf der Tagesordnung der PISA-Analyse, sowohl auf internationaler Ebene (vgl. das dritte Kapitel in OECD, 2010) wie auf nationaler (vgl. die Abschnitte 2.4 und 3.3.2 im vorliegenden Buch). Aber Gender wird nur ein Bruchteil der Aufmerksamkeit gewidmet, die sozialer Herkunft und Migrationshintergrund gelten. Damit wird im Halbdunkel gelassen, dass es (nicht nur) im Jugendlichenalter einen Risikofaktor darstellt, männlich zu sein; nicht nur für die Bildungs-, sondern auch für eine Kriminalitätskarriere. Die Soziale Arbeit kennt die hier angesprochene Problemgruppe, viele davon „jugendamtsbekannt“: Ohne (hinreichend guten) Schulabschluss, mit abgebrochener Lehre, aus sozial eher randständigen Familien, oft mit Migrationshintergrund, viele schon mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Man wünscht sich von der Bildungsforschung, dass sie der Gender-Thematik deutlich mehr Aufmerksamkeit widmet als bisher.
Fazit
Das vorliegende Buch ist für die nächsten zwei bis drei Jahre das Grund legende „letzte Wort“ in Sachen PISA. Als solches sollte es in der Bibliothek jeder (fach-)hochschulischen Ausbildungsstätte für Soziale Arbeit mindestens ein Mal vorhanden sein. Zusätzliche Exemplare gehören in die Handapparate, die der Jugendarbeit, der Schulsozialarbeit, der Jungenarbeit und der Arbeit mit Migranten gewidmet sind.
Ergänzende Literaturnachweise
- Heekerens, H.-P. (2010a). Die Auswirkung frühkindlicher Bildung auf Schulerfolg – eine methodenkritische Bestandsaufnahme. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 30, 311-325.
- Heekerens, H.-P. (2010b). Familiärer Hintergrund und schulischer Erfolg. Neue Praxis, 40, 422-439.
- Klieme, E., Artelt, C., Hartig, J., Jude, N., Köller, O., Prenzel, M., Schneider, W. & Stanat, P. (Hrsg.) (2010). PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt. Zusammenfassung (http://www.vbe-nrw.de/downloads/PDF%20Dokumente/PISA2009Zus.pdf; Download vom 8.12.2010).
- OECD (2010): PISA 2009 results: Learning to learn. Student engagement, strategies and practices. Volume III. Paris: OECD Publishing.
- Klieme, E. & Prenzel, M. (2010). ZEIT-Gespräch. DIE Zeit vom 9.12.2010, 71-72.
- Steiner, C. (2009). Mehr Chancengleichheit durch die Ganztagsschule? In: Stecher, L., Allemann-Ghionda, C., Helsper, W. & Klieme, E. (Hrsg.), Ganztägige Bildung und Betreuung. 54. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik (S. 81-105). Weinheim - Basel: Beltz.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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