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Matthias Meitzler: Soziologie der Vergänglichkeit

Rezensiert von Prof. Dr. habil. Klaus R. Schroeter, 02.02.2012

Cover Matthias Meitzler: Soziologie der Vergänglichkeit ISBN 978-3-8300-5455-9

Matthias Meitzler: Soziologie der Vergänglichkeit. Zeit, Altern, Tod und Erinnern im gesellschaftlichen Kontext. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2011. 296 Seiten. ISBN 978-3-8300-5455-9. 78,00 EUR.
SOCIALIA - Studienreihe Soziologische Forschungsergebnisse - 112.

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Thema

Das Thema der Vergänglichkeit ist in modernen, dynamischen Gesellschaften und ihren Wissenschaften, die sich mit Veränderungen und sozialem Wandel befassen, stets virulent, wenngleich es nicht immer explizit unter diesem terminus technicus behandelt wird. Vergänglichkeit, Endlichkeit und Knappheit sind Herausforderungen für Mensch und Gesellschaft und werden entsprechend auch in den verschiedenen Wissenschaftsgattungen (Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften – und seit geraumer Zeit verstärkt unter dem Label der ‚Lebenswissenschaften‘) debattiert. Eine „Soziologie der Vergänglichkeit“ hat also Charme und greift tief in die Fantasie des denkenden Menschen. In dem hier zu besprechenden Buch wird jedoch dem im Titel mitschwingenden (bzw. dem beim Rezensenten evozierten) Holismusgedanken nicht weiter Rechnung getragen. Hier liegt der Fokus vor allem auf der individuellen Vergänglichkeit.

Autor und Entstehungshintergrund

Die Monographie selbst gibt keinerlei Hinweise auf den Autor und auf den Entstehungshintergrund des Buches. Das Werk wird eingeleitet mit einem Vorwort von Dr. Thorsten Benkel, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am FB 03 Gesellschaftswissenschaften – Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt a.M.

Aufbau und Inhalt

Das hier zu besprechende Werk von Matthias Meitzler setzt sich nach Bekunden des Autors „unter soziologischen Vorzeichen mit dem Phänomen der Vergänglichkeit auseinander“ und richtet seinen Blick insbesondere „auf das sozialtransportierte und manifestierte Wissen um die Endlichkeit des Seins und auf die diesbezüglichen Anschlusskommunikationen.“ (S. 15) Dabei soll vor allem der Frage nachgegangen werden, „welchen Beitrag die Soziologie bei einer wissenschaftlichen Annäherung an das, was als Vergänglichkeit bezeichnet wird, leisten kann.“ (S. 20)

Das Buch gliedert sich im Anschluss an das Vorwort von Thorsten Benkel (An den Rändern des Sozialen. Lebensweltaspekte zwischen Verdrängung und Alltagsrelevanz) in acht Kapitel:

Das erste Kapitel (‚Nichts ist, das ewig sei‘) ist als Einleitung verfasst, in dem die allgemeine Fragestellung vage umrissen wird (s.o.).

Im zweiten Kapitel (Im Strom der Zeit) greift der Autor auf klassische zeitsoziologische Abhandlungen (u. a. Elias, Levine, Klein, Nassehi, Rosa, Sommer) zurück, um Zeit als soziale Tatsache (Durkheim) zu thematisieren und – im Anschluss an Husserl – die Relation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herauszuarbeiten.

Im dritten Kapitel (Das Alter und das Älter-Werden) wird der irreversible Prozess der Alterung, das Älterwerden als „zeitliche Zunahme der Existenz“ (Lehr) und als „Hinschmelzen von Zukunft“ (Gadamer) in den Fokus gerückt. Hier wird auf die „soziale Konstruktion des Lebenslaufs“ (S. 63 ff.), auf die kulturell vermittelten Vorstellungen von den Lebensleitern und Lebenstreppen, auf die Statusübergänge und Passageriten im individuellen Lebensverlauf (S. 75 ff.) sowie auf die Funktionslosigkeit und auf den Rollenverlust im Alter (S. 90 ff.) hingewiesen.

Das vierte Kapitel (Tod und Endlichkeit) behandelt im Anschluss an Heidegger das Sein des Menschen als ein ‚Sein zum Tode‘, wenn die Vergänglichkeit als Voraussetzung zur Messung einer Dauer gesehen wird (S 108). Gleichwohl das Leben zum Tode bestimmt ist, richtet sich die „Auseinandersetzung mit der Endlichkeit … nicht nur auf die des gesamten Lebens.“ Und so flechtet Meitzler auch einen Beitrag über den Umgang mit dem „vergänglichen Lebensgut der Jugendlichkeit“ (S. 121) ein, in dem er zeigt, wie wir „jung blieben (müssen), um alt werden zu können.“ (S. 128) In dem hier ebenfalls eingelagerten Kapitel über die Imaginierte Postmortalität (S. 129 ff.) werden sowohl die religiös geleiteten Fantasien von einem unendlichen Fortbestehen im Jenseits als auch verschiedene „postmortale Anschlusskommunikationen“ (u.a. Wahrung des letzten Willens, Umgang mit dem Leichnam, Körperspenden, Plastination, biologische und soziale Reproduktion) behandelt.

Im fünften Kapitel (Über Techniken und Strategien des Erinnerns) wird – u. a. in Bezug auf Schütz, Halbwachs und Assmann – die Erinnerung als eine Art „kognitive Zeitreise“ und „Brücke zur Vergangenheit“ (S. 146) thematisiert und an den Beispielen des öffentlichen Totengedenkens (von den frühen Höhlenmalereien über Mumifizierungen, Totenmasken, Heroenstatuen, Kriegs- und Grabmäler, Gedenktafeln bis zu modernen Wachsfigurenkabinetten und massenmedialen Dokumentationen), der (im)materiellen Erinnerungsinstrumente (u. a. persönliche Utensilien, Bilder/Fotos, Tagebücher, Briefe, Schriften, Erzählungen, Rituale), der Erinnerungsorte (u. a. Gräber, Grabsteine, Unfallkreuze, frei gelassene Stühle bei Familienfesten, unberührte Zimmer der Verstorbenen, virtuelle Internetfriedhöfe/Trauerportale ) und Erinnerungstechniken (u. a. Todesanzeigen, Nachrufe) exemplifiziert.

Das sechste Kapitel steht ganz im Zeichen des besonderen Erinnerungsinstruments der Fotografie als Medium der „Konservierung entschwindender Vergangenheit“ (Barthes). Meitzler berichtet über die Motive des Fotografierens, wie z. B. das Festhalten des Außeralltäglichen und Singulären, das Wissen um die „zerstörerische Macht der Zeit“ (Bourdieu), sodass die Fotografie zugleich auch eine psychologische Funktion übernimmt und als „Schutz gegen die Zeit“ (Bourdieu) wirkt, wenn der Fotografierte zumindest auf dem Medium der Fotografie als unsterblich erscheint (S. 210).

Im siebenten Kapitel (Regisseure unserer Biografie) geht es um die Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte. Ausgangspunkt der Betrachtung ist die Wirkungsmächtigkeit des eigenen Bildes. Meitzler debattiert sowohl die in Szene gesetzten repräsentativen Posen auf den Fotografien als auch die bewusst ausgewählten und die vernichteten Bilder, Briefe, Dokumente oder andere persönliche Artefakte. Auf diese Weise werden durch Selektion der Erinnerungsinstrumente bewusste Manipulationen, Modifikationen bzw. Retuschen an der eigenen Biografie vorgenommen. Damit erweisen sich diese Instrumente „nicht nur als ein Mittel, um etwas festzuhalten, sondern auch um etwas auszublenden.“ (S. 245) Und auch das Verschweigen bestimmter Sachverhalte geschieht „im Dienst der Wahrung des eigenen Selbstbildes“ (S. 256). Zu Recht weist Meitzler im Anschluss an Fuchs-Heinritz darauf hin, dass Erinnerungen keine objektive Vergangenheit reaktivieren, sondern Vergegenwärtigungen der „Lebenslage, der Einstellungen, Gedanken, Sinnzuschreibungen und des Selbstverständnisses des Erzählers dar(stellen)“ (S. 258).

Das lakonisch knapp gehaltene achte Kapitel (‚Es wird gewesen sein‘) macht nicht nur deutlich, dass „Erinnerungen … genauso vergänglich (sind) wie derjenige, auf den sie sich beziehen“ und dass die „[s]oziale Lebendigkeit … mit dem Erlöschen des Andenkens (endet).“ (S. 273) Es resümiert auch noch einmal die vorherigen Ausführungen in der Erkenntnis, dass Vergänglichkeit die Seele des Seins darstellt und eine Unendlichkeit letztlich die kostbaren Augenblicke des Seins nur entwerten würde (S. 278f.).

Diskussion

Matthias Meitzlers Buch über die „Soziologie der Vergänglichkeit“ ist in erster Linie ein Buch über die individuelle Vergänglichkeit. Der gewählte Titel klingt gewaltig, und auch die im Untertitel spezifizierte Fokussierung auf „Zeit, Altern, Tod und Erinnern im gesellschaftlichen Kontext“ hätte es durchaus nahe gelegt, auch andere Aspekte der Vergänglichkeit (z.B. von ganzen Kulturen/Zivilisationen, von materiellen [Rohstoffe, Güter] oder anderen immateriellen Ressourcen [u. a. Wissen, Werten, Ideen, Einfluss, Macht, Sicherheit, sozialer Beziehungen pp.]) mit ins Visier zu nehmen, wie es beispielhaft Bálint Balla in seinem Werk über die „Soziologie der Knappheit“ (1978) getan hat. Meitzler beschränkt sich im Wesentlichen auf die individuelle Vergänglichkeit bzw. auf die existenzielle Knappheit (Balla). Das ist zwar durchaus legitim, doch die von ihm im Untertitel versprochene Betrachtung „im gesellschaftlichen Kontext“ lässt doch einige Frage offen. Zwar lässt sich hinlänglich darüber streiten, was unter dem (leeren) Signifikanten „gesellschaftlicher Kontext“ zu verstehen ist, doch wäre es in einem Buch, das diesen Terminus im (Unter-)Titel trägt, zumindest wünschenswert gewesen, das näher zu plausibilisieren, um dann auch im weiteren Verlauf entsprechend darauf einzugehen.

Um die eingangs gestellte Frage, „welchen Beitrag die Soziologie bei einer wissenschaftlichen Annäherung an das, was als Vergänglichkeit bezeichnet wird, leisten kann“ (S. 20), in den versprochenen „gesellschaftlichen Kontext“ zu stellen, wäre es gewiss nicht schadhaft gewesen, die Vergänglichkeit, bzw. den (individuellen und kollektiven) Umgang mit (individueller und kollektiver, materieller und immaterieller) Vergänglichkeit auch soziologisch noch stärker theoretisch (z.B. wissenssoziologisch, machttheoretisch …) zu rahmen und dabei auch die Perspektiven sozialer Ungleichheiten und kultureller Unterschiede nicht außer Acht zu lassen.

Fazit

Da es sich hier weder um eine eigene empirische Studie noch um einen eigenen Theorieentwurf des Autors handelt, erstreckt sich Meitzlers Leistung vor allem darauf, ausgewählte Aspekte einer – freilich nicht unter diesem Label firmierenden – Soziologie der Vergänglichkeit zusammengetragen und immer wieder mit erläuternden Beispielen dokumentiert zu haben. Neue Erkenntnisse bietet das Buch nicht, dafür ist es aber in einer schnörkellosen und unprätentiösen Sprache verfasst, so dass diejenigen, die sich erstmals mit dem Thema der individuellen Endlichkeit bzw. Vergänglichkeit befassen, mit dieser Kompilation einen ersten Überblick über das Thema erhalten.

Rezension von
Prof. Dr. habil. Klaus R. Schroeter
Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) Hochschule für Soziale Arbeit, Institut Integration und Partizipation Professur für Altern und Soziale Arbeit
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Es gibt 12 Rezensionen von Klaus R. Schroeter.

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Zitiervorschlag
Klaus R. Schroeter. Rezension vom 02.02.2012 zu: Matthias Meitzler: Soziologie der Vergänglichkeit. Zeit, Altern, Tod und Erinnern im gesellschaftlichen Kontext. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2011. ISBN 978-3-8300-5455-9. SOCIALIA - Studienreihe Soziologische Forschungsergebnisse - 112. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11475.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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