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Wilfried Hosemann, Brigitte Trippmacher (Hrsg.): Soziale Arbeit und soziale Gerechtigkeit

Rezensiert von Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller, 16.12.2003

Cover Wilfried Hosemann, Brigitte Trippmacher (Hrsg.): Soziale Arbeit und soziale Gerechtigkeit ISBN 978-3-89676-684-7

Wilfried Hosemann, Brigitte Trippmacher (Hrsg.): Soziale Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Schneider Verlag Hohengehren (Baltmannsweiler) 2003. 192 Seiten. ISBN 978-3-89676-684-7. 18,00 EUR.
Grundlagen der Sozialen Arbeit Band 8.

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Voraussetzungen

Seit geraumer Zeit wachsen auch in den fortgeschrittenen Industrieländern die Unterschiede in Einkommen, Vermögen und Verwirklichungschancen. Zugleich werden die staatlichen Ausgaben für soziale Leistungen und Dienste im selben Zug gekürzt wie die Steuern der Vermögenden. In dieser Situation gewinnt der Begriff sozialer Gerechtigkeit nicht nur als politischer Streitbegriff, sondern auch als ethisches Schlüsselproblem an Bedeutung. Nun ist Soziale Arbeit in erheblichem Ausmaß mit der Kompensation der aus Ungleichheit erwachsenen Probleme beschäftigt und von der, in großem Umfang gewollten, Einschränkung staatlicher Handlungsmöglichkeiten direkt betroffen. Deshalb ist eine Verständigung über die grundlegende Bedeutung und die problembezogene Konkretisierung des Begriffs sozialer Gerechtigkeit wesentlicher Bestandteil der Selbstreflexion Sozialer Arbeit. Darüber hinaus muss man eine "Revitalisierung der politischen Dimension der Sozialen Arbeit"(S.6) für nötig halten.

Inhalt und Aufbau

Der vorliegende Band, entstanden aus einer Tagung an der Universität Bamberg , "will dazu anregen, die Diskussion und (...) die Realisierung einer gerechten Gesellschaft weiterzutreiben und eigenständige Beiträge der Sozialen Arbeit sichtbar werden zu lassen."(S.V) Das Buch gliedert sich in drei Teile.

Der erste Teil umfasst drei Aufsätze, von denen sich die beiden ersten zunächst mit grundlegenden Begriffsbestimmungen befassen.Herlinde Pauer-Studer skizziert die Idee eines "freiheitsfunktionalen Liberalismus", in dem Gleichheit zur Freiheit in einem funktionalen Verhältnis steht. "Freiheit darf nicht eingeschränkt werden, um Gleichheit zu realisieren."(15) Angelika Krebs beschäftigt sich mit der Anerkennung verdeckter Arbeit, wobei sie v.a. familiäre "Kinderaufzucht und Altenpflege" ins Auge fasst. Ihr "institutioneller Arbeitsbegriff" wird konstituiert durch die Einbindung einer Tätigkeit in die gesellschaftliche "Aufgabenteilung" (Vgl. S. 27). Da jede Leistung anerkannt werden sollte und Anerkennung in unserer Gesellschaft "typischerweise" durch Entlohnung geschieht, sollte "Familienarbeit" im engeren Sinne bezahlt werden. Carola Kuhlmann schließlich beschäftigt sich mit Ungerechtigkeiten im Geschlechterverhältnis, wobei sie nach einer historischen Erinnerung an den Kampf um gleiche Rechte die Hauptfelder Sozialer Arbeit, auf denen frauenspezifische Gerechtigkeitsthemen eine Rolle spielen, thematisiert: sexuelle Gewalt, Schwangerschaft und Mütter mit geringem sozialem und materiellem Kapital. Sie schließt mit Reflexionen über die Profession als vergesellschafteter Mütterarbeit.

Der zweite Teil enthält Beiträge, die das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Gerechtigkeit thematisieren. Michael Helmbrecht konfrontiert die Gerechtigkeitsauffassungen von Rawls und Walzer unter den Stichworten von Universalismus und Kontextualtität. Es sei "die intensive Rezeption moralphilosophischer Begründungsprogramme erforderlich, um die argumentativen Möglichkeitsräume zu erkunden und darüber die Kompetenzen zur Beobachtung und Beurteilung der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Diskurse zu verfeinern," (S. 61 f.)Von Walzer verspricht sich der Autor eine Schärfung des Blicks für die Existenz unterschiedlicher Gerechtigkeitskulturen, von Rawls' Modell des Naturzustands Hilfe in den Rechtfertigungskontexten Sozialer Arbeit. Auch Wilfried Hosemann möchte aus der Beschäftigung mit zeitgenössischen Gerechtigkeitstheoretikern Perspektiven für die Soziale Arbeit gewinnen. Neben Rawls, der hier den Blick auf die institutionellen Grundstrukturen der Gesellschaft richten soll, werden Habermas, Margalit und Luhmann herangezogen. Hans Thiersch beginnt mit theoriegeschichtlichen Erinnerungen und macht sodann geltend, "dass die heute so vielfältig verhandelte Frage nach Gerechtigkeit Indiz der spezifisch gegenwärtigen Erfahrungen von Leid und Verunsicherung ist."(S.84) Für ihn ist der Sozialstaat "Repräsentant sozialer Gerechtigkeit" und die Soziale Arbeit ihr Exekutor, der "ein eigenes politisches Mandat" besitzt. (S. 90) Während "Leistungsgerechtigkeit" bei Thiersch gegen soziale Gerechtigkeit steht, wird deren "letzter und innerster Kern" bestimmt als "der Anspruch auf

unbedingte Anerkennung des Anderen in seinem So-Sein, auch jenseits von möglichen Verbesserungen und von Chancen zum produktiven Handeln."(S. 93)

Im dritten Teil werden einzelne Handlungsfelder der Sozialen Arbeit thematisiert, die mit der Gerechtigkeitsproblematik in Beziehung stehen: Armut ( Gudrun Cyprian, Heinz A. Ries; Maria Lüttringhaus) Erwerbsarbeit (Brigitte Trippmacher), Familie (Wilfried Hosemann, Ralph Grevel und Saskia Weiß) sowie Migration (Marissa Pablo/Dürr/W.Hosemann; Sabine Handschuck/Hubertus Schröer). Im Allgemeinen wird deutlich, dass Soziale Arbeit unter dem Aspekt sozialer Gerechtigkeit angemessen nur erörtert werden kann, wenn sie im gesamtgesellschaftlichen Kontext gesehen wird. In ihm stellt sich nicht nur die Frage, welchen Beitrag Soziale Arbeit zur Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit in den einzelnen Bereichen leisten kann, sondern auch die Aufgabe, in den öffentlichen Diskurs über Gerechtigkeit einzugreifen. Deren Notwendigkeit macht insbesondere der Aufsatz zu Folgen, Paradigmen, Vorannahmen und Trends der Armutsberichterstattung deutlich. Der Beitrag zur Krise der Erwerbsarbeit lässt erkennen, dass auch die Reflexion über nicht erwünschte Folgen sozialarbeiterischer Intervention - hier die Förderung eines Niedriglohnsektors - zur Berücksichtigung des gesamtgesellschaftlichen Kontextes gehört. Die gesellschaftlichen Prozesse sind auch der Dreh- und Angelpunkt für Betrachtung der Beziehung von Sozialer Arbeit und Gerechtigkeit in den Handlungsfeldern Familie und Migration.

Adressaten

Alle mit Sozialer Arbeit Beschäftigten, insbesondere solche, die sich für Sozialethik, Sozialpolitik und eines der behandelten Arbeitsfelder interessieren.

Beurteilung und Fazit

Die inhaltliche Beurteilung eines Sammelbandes im Ganzen ist meist unmöglich. Hier sei nur bemerkt, dass die Vermittlung zwischen philosophisch-normativer Grundlegung und Sozialer Arbeit unterschiedlich gut gelungen ist und die Gefahr besteht, dass die Beziehungen im Allgemeinen und Vagen bleiben. Zur Abhilfe gibt es zwei Möglichkeiten: zum einen kann man beginnen, die subjektiven und institutionellen Gerechtigkeitsvoraussetzungen der eigenen Arbeit zu reflektieren; zum anderen wäre zu versuchen, die Prinzipien der Gerechtigkeitsphilosophie möglichst konkret zu fassen. Beide Wege sollten beschritten werden, aber für beide (insbesondere für den zweiten) wäre das Bewusstsein hilfreich, dass es zwischen Theorie und Praxis eine unaufhebbare Distanz gibt, die keineswegs nur zu beklagen, sondern vielmehr der Abgrund ist, in dem eine kritische Einstellung gedeihen kann.

Rezension von
Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller
Vormals Professor für Sozialphilosophie und -ethik
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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Es gibt 32 Rezensionen von Hans-Ernst Schiller.

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Zitiervorschlag
Hans-Ernst Schiller. Rezension vom 16.12.2003 zu: Wilfried Hosemann, Brigitte Trippmacher (Hrsg.): Soziale Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Schneider Verlag Hohengehren (Baltmannsweiler) 2003. ISBN 978-3-89676-684-7. Grundlagen der Sozialen Arbeit Band 8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/1150.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.


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