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Sarah Elsuni: Geschlechtsbezogene Gewalt und Menschenrechte

Rezensiert von Dr. Axel Bernd Kunze, 18.02.2013

Cover Sarah Elsuni: Geschlechtsbezogene Gewalt und Menschenrechte ISBN 978-3-8329-3790-4

Sarah Elsuni: Geschlechtsbezogene Gewalt und Menschenrechte. Eine geschlechtertheoretische Untersuchung der Konzepte Geschlecht, Gleichheit und Diskriminierung im Menschenrechtssystem der Vereinten Nationen. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2011. 344 Seiten. ISBN 978-3-8329-3790-4. 74,00 EUR. CH: 105,00 sFr.
Reihe: Schriften zur Gleichstellung der Frau - Band 33.

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Thema

Der mediale Politrummel duldet keine Fehler, Ausrutscher werden im Internet sogleich kolportiert und vervielfältigt. So war es seinerzeit auch mit dem Versprecher Edmund Stoibers: Als Kanzlerkandidat verhaspelte er sich in einer der zahlreichen Talkshows in den Fängen geschlechtsbezogener Verfolgung. Was ein gefundenes Thema für Kabarettisten war, berührt ein ernstes Thema: Welche Rolle spielt das Geschlecht für die Auslegung der Menschenrechte? Wer kann sich darauf berufen, um seines Geschlechtes willen diskriminiert oder verfolgt zu werden? Wie diese Fragen beantwortet werden, bleibt abhängig davon, was unter Geschlecht überhaupt verstanden wird. Eine rechtswissenschaftliche Studie aus Frankfurt beschäftigt sich nun mit dem Geschlechterbegriff im Menschenrechtsregime der Vereinten Nationen.

Autorin

Die Verfasserin, Sarah Elsuni, war in Frankfurt am Main im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Graduiertenkollegs „Geschlechterverhältnisse und Öffentlichkeiten. Dimensionen von Erfahrung“ tätig. Sie ist Trägerin des Cornelia-Goethe-Preises 2008, den sie für ihre Dissertation erhalten hat.

Entstehungshintergrund

Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation, die im August 2007 am Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main eingereicht worden war. Erstgutachterin war Prof. Dr. Ute Sacksofsky, Zweitgutachter Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann. Der Druck wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützt.

Aufbau

Die sechsteilige Arbeit setzt zunächst mit einem Problemaufriss und einer Begriffsbestimmung zu geschlechtsbezogener Gewalt ein.

  1. Erläutert werden deren verschiedene Dimensionen an Beispielen häuslicher Gewalt, heteronormativer Gewalt und von Operationen intersexueller Kinder (Kap. 1).
  2. Im zweiten Kapitel wird zunächst das Menschenrechtsinstrumentarium der Vereinten Nationen vorgestellt (Kap. 2), bevor im dritten Kapitel beide Themen zusammengeführt werden.
  3. Gefragt wird, wie die Kategorie „Geschlecht“ im Rahmen der Vereinten Nationen verhandelt wird und wie in der Menschenrechtspraxis auf geschlechtsbezogene Gewalt reagiert wird (Kap. 3).
  4. Im Weiteren wird untersucht, welches Verständnis von Gleichheit und Diskriminierung in den Menschenrechtsdokumenten der Vereinten Nationen zum Tragen kommt (Kap. 4).
  5. Dieser Bestandsaufnahme stellt die Verfasserin ihr eigenes Verständnis von „Gleichheit als Recht auf Nichtdiskriminierung“ entgegen, das sie machttheoretisch begründet (Kap. 5).
  6. Anschließend werden Vorschläge für eine Weiterentwicklung der bestehenden Menschenrechtsinstrumente gemacht (Kap. 6).

Der Arbeit beigegeben sind ausführliche Literatur- und Quellenverzeichnisse.

Inhalt

„Ziel der Arbeit ist die menschenrechtliche Inklusion differenter sexueller und geschlechtlicher Identitäten und Lebensweisen, wie bspw. Präoperative, postoperative und nicht-operierte transsexuelle Menschen, intersexuelle Menschen, transgender Menschen, Cross-Dressers, aber auch Männer und Frauen, deren Erscheinung oder Charaktereigenschaften als nicht geschlechtskonform wahrgenommen werden.“ (S. 17 f.) – so umreißt die Autorin das Anliegen ihrer Studie und macht gleich zu Beginn deutlich, welch weiten Begriff von „Geschlecht“ sie verwendet. Anders als die Yogyakartaprinzipien von 2007 will die Verfasserin nicht zwischen Geschlecht, geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung unterscheiden, sondern subsumiert entsprechende Probleme gemeinsam unter die rechtliche Kategorie „Geschlecht“ bzw. „geschlechtsbezogene Gewalt“. Ein dergestalt erweitertes Verständnis von „Geschlecht“ wird auf die Auslegung der bestehenden Menschenrechtsinstrumente nicht ohne Einfluss bleiben.

Diese werden im zweiten Kapitel zunächst vorgestellt. Untersucht werden die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, der Zivil- und Sozialpakt sowie die dazugehörigen Überwachungsorgane, der Menschenrechts- und Sozialausschuss. Ausführlich diskutiert wird der frauenspezifische Menschenrechtszweig in Gestalt der Frauenrechtskonvention. Aus geschlechtertheoretischer Perspektive werden die binäre Trennung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit sowie die Individualisierungstendenz der Menschenrechte problematisiert. Wie die Verfasserin am Ende ihres Gedankengangs feststellt, habe die Umsetzung von Gendermainstreaming auf Ebene der Vereinten Nationen den geschlechtsspezifischen Menschenrechten zu größerer Beachtung verholfen.

Dennoch – so führt sie im dritten Kapitel aus – „sind Grenzen, die der Kanon der Menschenrechte einer ‚Geschlechtergerechtigkeit‘ setzt, durchaus existent.“ (S. 147) In ihrer positivierten Form gehen die Menschenrechtsverträge weiterhin vorrangig vom Faktum einer geschlechtlichen Binarität aus. Erst durch die Menschenrechtsausschüsse sei die Sicht erweitert worden und die Frage sexueller Orientierung stärker in den Blick gerückt. Eine Sichtverengung stellt die Autorin auch beim Verständnis geschlechtsbezogener Gewalt fest: Diese werde – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auf „Gewalt gegen Frauen“ begrenzt, was „zu Exklusionen vieler, differenter Gewalterfahrungen führt“ (S. 168 f.).

Ein Schlüssel zu einem erweiterten Verständnis geschlechtsbezogener Diskriminierung mag, wie zu Beginn des vierten Kapitels deutlich wird, in der Frauenrechtskonvention zu finden sein. Diese biete nicht allein ein formales Verständnis von Gleichheit und Gleichberechtigung. Vielmehr biete die Frauenrechtskonvention die Möglichkeit, Diskriminierung kontextuell und mehrdimensional zu betrachten. Auf diese Weise eröffne sich die Chance, auch andere Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen jenseits frauenbezogener Menschenrechtsverletzungen zu erfassen.

Dieses Zwischenresümee bildet den menschenrechtlichen Anschlusspunkt, von dem aus die Verfasserin ihr eigenes Verständnis von „Gleichheit als Recht auf Nichtdiskriminierung“ entwickelt: „Schutzbereich ist die Nichtdiskriminierung, also das Recht diskriminierungsfrei zu leben. Der Eingriff in das menschenrechtliche Gleichheitsrecht liegt in dem Nichtnachkommen des Staates seiner sich daraus ergebenden Verpflichtungen.“ (S. 256). Elsunis machttheoretische Konzeption ist durch zwei Anliegen motiviert: Geschlechtsbezogene Gewalt soll einerseits nicht mehr privatisiert und damit der menschenrechtlichen Betrachtung entzogen werden können sowie andererseits ausgeweitet werden auf alle Kontexte, in denen es tatsächlich um Diskriminierung gehen kann.

Abschließend konfrontiert sie das bestehende Menschenrechtsregime der Vereinten Nationen mit ihrem Gleichheitsverständnis. Dabei greift sie auf die bereits im ersten Kapitel exemplarisch untersuchten Problembereiche zurück: häusliche Gewalt, heteronormative Gewalt und Operationen intersexueller Kinder. Ihr Anliegen ist es dabei, die menschenrechtliche Kategorie Geschlecht dynamisch auszulegen und so zu einer Weiterentwicklung des Menschenrechtsschutzes beizutragen. Aus feministischer Perspektive will sie auch für Handlungen privater Akteure, die menschenrechtsrelevant sind, eine Staatenverantwortlichkeit zuschreiben. Im Falle der Frauenrechtskonvention beispielsweise habe die Einführung der Individualbeschwerde dazu beigetragen, häusliche Gewalt stärker als bisher zu ahnden. Unter heteronormativer Gewalt sind strukturelle Diskriminierungen zu verstehen, die sich aus einem binären Geschlechterbegriff staatlicher Gesetze und Maßnahmen ergeben. Hier sieht die Verfasserin die Staaten in der Pflicht „geeignete Maßnahmen zur Förderung von gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Beachtung und Akzeptanz aller Menschen zu treffen“ (S. 283). Gesetze gegen heteronormative Gewalt sollten dann unwirksam werden, wenn sie diskriminierende Auswirkungen zeitigen. Im Falle der Praxis geschlechtsanpassender Operationen will die Verfasserin die Staaten in die Pflicht nehmen, solche nur dann zuzulassen, wenn die Betroffenen selbst in der Lage sind, darüber zu entscheiden.

Diskussion

Die Studie behandelt ein wichtiges, zugleich aber auch stark emotional besetztes Thema, wie jüngst die Massendemonstrationen in Frankreich zur Öffnung der Ehe für Schwule und Lesben gezeigt haben. Zu Recht weist die Studie darauf hin, dass ein binärer Geschlechterbegriff nicht ausreicht, um Erfahrungen von Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt zu begegnen. Belegt wird dies durch die sorgfältige Analyse einer Fülle an Berichtsverfahren und Menschenrechtsbeschwerden.

Die Menschenrechte sind auch auf unterschiedliche sexuelle Orientierungen oder geschlechtliche Identitäten hin auszulegen. Wie wichtig der Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen an dieser Stelle ist, zeigen die Nachrichten immer wieder. So werden beispielsweise die gesellschaftlichen Freiräume für Schwule und Lesben in Russland in jüngster Zeit vom Staat zunehmend eingeengt. Dauert der weltweite Kampf um die Emanzipation von Homosexuellen schon länger an, ist hinsichtlich der Lebenssituation intersexueller Menschen noch viel mehr grundlegende Überzeugungsarbeit zu leisten.

Da das geschlechtliche Empfinden im weitesten Sinne zum intimen Kernbereich der Persönlichkeit gehört, sind Menschen hier in besonderer Weise verletzbar. Verletzungen der Menschenwürde sowie staatliche Übergriffe in die private Lebensführung aufgrund geschlechtsspezifischer Merkmale sind deutlich abzuwehren. Und diesbezügliche Maßnahmen zum Menschenrechtsschutz sollten auch explizit Rückhalt innerhalb des internationalen Menschenrechtsregimes haben. Dass dieses für eine entsprechende dynamische Weiterentwicklung offen ist, hat die Studie deutlich herausgearbeitet.

Allerdings darf nicht die Gefahr übersehen werden, dass die Menschenrechte als Instrument gesellschaftspolitischer Steuerung überzogen und damit letztlich ideologisiert werden. Am Ende könnte jener moralische Grundkonsens zerstört werden, auf den die Menschenrechte angewiesen sind. Daher bleibt Skepsis angebracht, wo in der Studie aus einem Recht auf Nichtdiskriminierungsfreiheit allzu weitreichende Leistungsansprüche abgeleitet werden. Positive und negative Freiheitsansprüche müssen sich gegenseitig in der Balance halten. Andernfalls könnte es passieren, dass der angestrebte Schutz vor Diskriminierung in staatliche Bevormundung umschlägt. Die Studie belastet die Menschenrechte mit hohen gesellschaftsreformerischen Erwartungen und reiht sich damit ein in den gegenwärtig vorherrschenden linksliberalen Mainstream der Menschenrechtsinterpretation. Soll dem ernsten Anliegen, Menschen vor geschlechtsbezogener Gewalt und geschlechtsbezogener Diskriminierung zu schützen, nicht ein Bärendienst erwiesen werden, müssen die Menschenrechte für unterschiedliche partikulare Vorstellungen des guten Lebens offen bleiben und dürfen nicht einseitig auf eine bestimmte feministische, machttheoretische Form der Gesellschaftskritik enggeführt werden.

Anders als Deutschland gibt es bereits Länder, in denen die Binarität der Geschlechter im amtlichen Verkehr aufgehoben ist. Die Zeitschrift „Forschung und Lehre“ des Deutschen Hochschulverbandes hat erst jüngst in ihrer Februarausgabe 2013 davon berichtet, dass an amerikanischen Universitäten auf Formularen drei Möglichkeiten zur Auswahl stehen: male, female und x. Dies entspricht dem Empfinden nicht weniger Menschen, die unter der bisherigen Praxis leiden. Die Verfasserin greift dies auf, indem sie durchgängig inklusive Formulierungen mit Unterstrich verwendet. Linguistisch sind Zweifel an einem solchen Vorgehen angebracht. Wichtiger als Sprachkorrekturen, ist eine veränderte Rechtspraxis. Diese muss allerdings sorgfältig durchdacht eingeführt werden, wenn Fehlsteuerungseffekte und rechtssystematische Folgeprobleme verhindert werden sollen. Wenn die vorliegende Studie – trotz der angesprochenen Kritik an ihr – dazu beiträgt, eine solche Debatte in der Rechtswissenschaft anzustoßen und zu befördern, ist dies zu begrüßen.

Fazit

Die Studie ist ein wichtiger und lesenswerter Impuls, über das Geschlechterverständnis des Menschenrechtssystems und etwaige Weiterentwicklungen nachzudenken. Doch sollten die Einseitigkeiten der Studie im vertretenen Menschenrechtsverständnis und in der feministischen Herangehensweise nicht übersehen werden. Es bleibt daher zu hoffen, dass Folgestudien flankierend hinzutreten. Nicht zuletzt wäre für solche Folgeprojekte zu wünschen, dass nicht allein der Zusammenhang zwischen Gleichheit und Geschlecht, sondern auch zwischen Freiheit und Geschlecht ausgelotet wird.

Rezension von
Dr. Axel Bernd Kunze
Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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Es gibt 72 Rezensionen von Axel Bernd Kunze.

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ISSN 2190-9245