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Inge Brachet: Zum Sinn des Junkie-Seins

Rezensiert von Dipl. Soz.-Arb. Monica Wunsch, 11.11.2003

Inge Brachet: Zum Sinn des Junkie-Seins. Eine qualitative Studie aus existentialistischer Perspektive. Verlag Wissenschaft und Bildung VWB (Berlin) 2003. 293 Seiten. ISBN 978-3-86135-248-8. 22,00 EUR.
Studien zur qualitativen Drogenforschung und akzeptierenden Drogenarbeit ; Bd. 38.

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Die Autorin

Dr. Inge Brachet ist Diplom Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a.M. Sie ist mehrere Jahre in einer Jugend- und Drogenberatungsstelle in Frankfurt tätig gewesen.

Einführung in das Thema

Wer ist ein Junkie, warum wird ein Mensch zum Drogen- bzw. Heroinkonsumenten, welche Ziele verfolgt er/sie, und worin besteht der Sinn ein Junkie zu werden oder zu sein?

Wissenschaftliche Betrachtungen und Studien beschäftigen sich nur selten mit den Wertvorstellungen von HeroinkonsumentInnen, im Zusammenhang mit Selbstwertgefühl und Drogen- bzw. Heroinkonsum. Die individuellen, die gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, die zur Entstehung von kompulsivem Drogenkonsum maßgeblich sind, das Selbstwertgefühl von HeroinkonsumentInnen in Relevanz zu ihren individuellen Entwicklungs- und Entscheidungsprozessen werden in der Vielzahl themenbezogener wissenschaftlicher Theorien und Studien sämtlicher Fachbereiche außer Acht gelassen.

Inge Brachet füllt mit ihrer qualitativen Studie aus existentialistischer Sicht einen Teil dieser Lücke, erweitert und verändert die vorherrschenden sozialpsychologischen Erklärungsansätze zur Entstehung von Sucht und ihren oftmals defizitorientierten Blickwinkel, um das Konstrukt und die Relevanz des Selbstwerts. Dies impliziert von der deskriptiven Ebene Abstand zu nehmen, die gesellschaftlichen und existentiellen Aspekte miteinzubeziehen, die sozialen und kompensatorischen Faktoren besonders zu berücksichtigen und die Wertvorstellungen von HeroinkonsumentInnen zu hinterfragen und systematisch zu analysieren.

Inge Brachet bezieht sich in ihrer vorliegenden Untersuchung auf die "Theorie der Motivation menschlichen Handelns und Sozialverhaltens" (Becker, 1987) und die "Terror Management Theorie" (Greenberg, Pyszczynski, & Salomon, 1986) sowie auf die Annahmen von Yalom (1989), Begründer der "Existentiellen Psychotherapie".

Die Entwicklung und Aufrechterhaltung eines stabilen Selbstwertgefühls unter Berücksichtigung der Übernahmemöglichkeiten des konsensuellen Wertesystems, auch im Hinblick auf individuelle Veränderungsprozesse des Selbstkonzeptes durch eine fortwährende Weiterentwicklung, erfordern im Hinblick auf die Entstehung und Beendigung des kompulsiven Drogengebrauchs, eine differenzierte Analyse der individuellen Entwicklungen des Selbstwerts im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter.

"Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit besteht darin, zu prüfen, inwieweit die von den Vertretern der Terror Management Theorie und die von YALOM beschriebenen Mechanismen zur Aufklärung der wiederholt beschriebenen Steigerung eines vorher niedrigen Selbstwertgefühls zu Beginn der Suchtkarriere zu einem erneuten Absinken während des Rauschmittelkonsums und zur Stabilisierung bei Überwindung der Drogenbindung beitragen können und wie stabil sich diese Veränderung gestaltet." (S. 51)

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist klar und übersichtlich gegliedert, beginnend mit: "Theoretische und empirische Hinweise zur Fragestellung". In diesem einführenden Kapitel werden sozialpsychologische Theorien und Untersuchungen zur Relevanz des Selbstwertgefühls vorgestellt und kritisch reflektiert, "Überlegungen zum Selbstwertgefühl aus anthropologisch-existentialistischer Perspektive" fundiert dargestellt, die Entwicklung des Selbstwertgefühls skizziert und mit der Entwicklung von Drogenabhängigkeit in Beziehung gesetzt, mögliche störende Einflüsse werden analysiert und insbesondere die "Bedeutung des Selbstwertgefühls vor dem Hintergrund fehlender Orientierung an konsensuellen Normen und Werten sowie deren Bedeutung für den Beginn und die Beendigung einer "Suchtkarriere" anhand vorangegangener Untersuchungen und Befunde beschrieben.

Im Folgenden werden die "Fragestellung und Forschungshypothesen" vorgestellt, die Methode der standardisierten und strukturierten Interviews benannt und die Auswahl der fünf befragten Gruppen: Ex-UserInnen mit Aufgaben im professionellen Drogenhilfesystem, Angehörige der Selbsthilfe von Synanon, TeilnehmerInnen am Methadonprogramm, InterviewpartnerInnen im Maßregelvollzug und TeilnehmerInnen am Heroinvergabeprogramm anhand eines kausalen Ausgangsmodells erklärt.

Daran anschließend wird das "Methodische Vorgehen" vorgestellt, die Erarbeitung und Durchführung der Interviews beschrieben und die Integration und das Zusammenwirken der "Qualitativen Inhaltsanalyse" von Mayring (1995) und der Entwicklung "Kausaler Modelle" nach Miles & Hubermann (1984/1994) bei der Auswertung der Interviews veranschaulicht. Zentraler Aspekt der Ergebnisdarstellung ist die Entwicklung des Selbstwertgefühls Heroinabhängiger im Zusammenhang "mit der Übernahme oder Ablehnung des konsensuellen kulturellen Weltbildes"(S.77).

Die Ergebnisse der Interviews werden unter Zuordnung zu den Forschungshypothesen beschrieben, die Häufigkeit der Nennungen zu den einzelnen Bedingungen tabellarisch dargestellt, und die Ergebnisse werden anhand exemplarischer Interviewzitate vorgestellt.

Mit Hilfe von fünf graphischen Darstellungen: "Kausale Modelle der interviewten Gruppen", werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Ergebnisse verdeutlicht und daran anschließend in der "Diskussion", "nach den einzelnen Gruppen differenziert und unter Berücksichtigung ihrer Relevanz für das Selbstwertgefühl und den Einsatz der Abwehrstrategien" (S. 134) besprochen.

Abschließend stellt Inge Brachet aufgrund der Ergebnisse fest, dass die "Sucht- und Drogenforschung stärker prozessorientiert und weniger als Ex- oder Post- Untersuchungen anzulegen" sind und sich "die Bedeutung der Abwehrstrategien der Besonderheit und des letzten Retters auch im Hinblick auf die Hinwendung zu anderen Subkulturen" (S. 178) zu überprüfen lohnt.

In der "Schlussbemerkung - Konsequenzen aus den Ergebnissen für die Prävention" zeigt Inge Brachet Möglichkeiten der primären, sekundären und tertiären Prävention auf, geht auf die Effektivität von differenzierter Prävention in der Schule ein und weist im Bereich der tertiären Prävention insbesondere auf die Notwendigkeit der Akzeptanz der o.g. Abwehrstrategien hin, und dies für alle Teilbereiche des Drogenhilfesystems. Des Weiteren regt sie dazu an "grundsätzlich über den Sinn von Methadonprogrammen nachzudenken" (S.182), da die meisten TeilnehmerInnen am Methadonprogramm einen hohen Beikonsum aufweisen. Inge Brachet befürwortet aus sozial-politischen als auch aus volkswirtschaftlichen Aspekten die Vergabe von Heroin anstelle von Methadon.

Im Anschluss findet sich ein umfassender Anhang mit den teilweise differierenden Leitfäden der Interviews, eine Zuordnung der Interviewfragen und Matrizen zur Interviewauswertung. Daran schließt sich ein detailliertes Tabellen- und Abbildungsverzeichnis an.

Diskussion

Die Erweiterung der vorherrschenden Drogendiskurse um Aspekte aus existentialistischer Perspektive halte ich für durchaus sinnvoll, der hohen intellektuellen Anforderung dieser Publikation sind viele Interessierte jedoch nicht gewachsen. Das Buch ist insbesondere in den einführenden, theorieorientierten Kapiteln nur schwer verständlich und lesbar.

Inhaltlich sei angemerkt, dass ich die Notwendigkeit und durch die Ergebnisse bestätigte Sinnhaftigkeit der Heroinvergabe sehr begrüße, das Negieren der Methadonvergabe aber als kontraproduktiv ansehe. Insbesondere die gesundheitliche und psycho-soziale Stabilisierung von Methadonsubstituierten, die Möglichkeit, sich körperlich vom intravenösen Drogengebrauch zu erholen, sich im Rahmen der herrschenden Gesetze nicht weiter strafbar zu machen oder der Beschaffungsprostitution nachgehen zu müssen, und die Möglichkeit und Zeit, sich eigenen Interessen zu widmen, sind wesentliche Erfolge der Methadonsubstitution. Dazu kommt, dass der erwähnte hohe Beikonsum auch bei einer Heroinvergabe nicht ausgeschlossen ist. Sinnvoll und notwendig sind, wie auch durch die hier vorliegenden Studie bestätigt, Unterstützung der sozialen Kontakte außerhalb der Drogenszene sowie Beschäftigungsprogramme und Aus- /Weiterbildungsmöglichkeiten.

Zielgruppe und Fazit

Das Buch erscheint mir für alle geeignet, die sich mit sozialpsychologischen Ansätzen und Theorien auseinandersetzen und sich insbesondere für die Möglichkeiten der Anwendung der "Theorie der Motivation menschlichen Handelns und Sozialverhaltens" und der "Terror Management Theorie" interessieren. Studierende, die den Umgang mit wissenschaftlichen Theorien und Methoden qualitativer Auswertungsverfahren erlernen, und Praktiker, die nach Erklärungsmodellen, Interventions- und Präventionsmöglichkeiten, die den kompulsiven Drogenkonsum betreffen, forschen, kann diese Studie eine gute Möglichkeit der Auseinandersetzung bieten.

Rezension von
Dipl. Soz.-Arb. Monica Wunsch
Mercedes Monica Wunsch Dipl.-Soz.Arb. (FH) Geschäftsführender Vorstand Zug um Zug e.V. und Tochtergesellschaften (Köln)
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Es gibt 11 Rezensionen von Monica Wunsch.

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ISSN 2190-9245