Daniel N. Stern: Ausdrucksformen der Vitalität
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 21.07.2011

Daniel N. Stern: Ausdrucksformen der Vitalität. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2011. ISBN 978-3-86099-692-8.
„Vitalität ist ein Ganzes“: Lebenskraft
Vital sein bedeutet im Umgangssprachlichen lebendig und aktiv sein, und zwar zuvorderst im körperlichen Sinn. Erst mit dem zweiten Schritt wird dabei die geistige Vitalität als ein Merkmal der psychischen Verfasstheit des Menschen gewissermaßen als intellektuelle Wachheit aufgefasst. In der Einschätzung der Menschen zueinander und im Umgang miteinander, real und als ferne, fiktionale und virtuelle Wahrnehmung, manifestiert sich Vitalität als Augenschein und (Vor-)Urteil. Aus den Heilslehren des 18. und 19. Jahrhunderts kennen wir den Begriff der vis vitalis, der „Lebenskraft“, die sich als eine erhaltende, immer wieder neu bildende Kraft entwickelt ( vgl. dazu: wikipedia.org/wiki/Lebenskraft) und bis heute, etwa in der Homöopathie, verwendet wird. „Lebenskraft“ als philosophische und existentielle Verortung, kennen auch andere Kulturen, etwa die afrikanischen mit „muntu“ und „Sages“, wie auch asiatische und lateinamerikanische. So ist es erstaunlich, dass die Wissenschaften, die sich vorwiegend mit den geistigen und seelischen Verfasstheiten der Menschen und ihren vitalen Lebensäußerungen befassen, die Entwicklungspsychologie, Psychotherapie und die Künste, den dynamischen Formen der Vitalität im menschlichen Leben bisher wenig Beachtung gewidmet haben; vielleicht, weil sie allzu selbstverständlich und sich als scheinbar gradlinig darstellen? Aber: „Formen von Vitalität sind … reich an Implikationen“.
Autor
Der US-amerikanische Entwicklungspsychologe und Psychoanalytiker Daniel N. Stern (geb. 1934) ist Honorarprofessor an der Universität in Genf, Lehrender an der Cornell University Medical School und Lektor an der Columbia University. Seine ins Deutsche übersetzten Bücher sind in deutschen Fachkreisen bekannt und anerkannt. Mit dem Buch „Ausdrucksformen der Vitalität“ greift er den Aspekt psychischer menschlicher Entwicklung auf, der sich als Kraft oder Stärke im humanen Dasein manifestiert. Er betrachtet dabei die miteinander zusammenhängenden dynamischen Vorgänge: Bewegung, Zeit, Kraft, Raum, Intention/Gerichtetheit, identifiziert sie als „Vitalität“ und fragt, warum es wichtig ist, die verschiedenen, dynamischen Vitalitätsformen gründlich(er) zu erforschen; und zwar mit dem Blick auf neuere neurowissenschaftliche Fragestellungen.
Aufbau und Inhalt
Der Autor gliedert das Buch in drei Teile, die er wiederum in mehrere Kapitel unterteilt.
Im ersten Teil stellt er, gewissermaßen als Bestandsaufnahme, die bisherigen Forschungsansätze, Konzeptions- und Theoriebildungen in der Psychologie und Verhaltensforschung vor, untersucht die verschiedenen Vitalitätsformen und ordnet sie in einen konzeptionellen Rahmen ein.
Im zweiten Teil befasst sich Stern mit den neurowissenschaftlichen Grundlagen der Vitalitätsformen und diskutiert, wie die Künste (Musik, Tanz, Theater und Film) die verschiedenen Formen der Vitalität für ihre Aussagen nutzen.
Im dritten Teil geht es um die Implikationen, die in der Entwicklungspsychologie und der klinischen Arbeit bedeutsam sind, erklärt werden können und in der psychotherapeutischen Behandlung wirksam werden können.
Weil Vitalitätsformen immer Inhalte transportieren, etwa Emotionen, Gedankengänge, körperliche und mentale Bewegungen - und damit eine Dynamik in Gang setzen – ist es wichtig danach zu fragen, wie die neuronale Infrastruktur beschaffen ist, die das Erleben von Vitalitätsformen ermöglicht. Daniel Stern bringt dazu in den (bisher spärlichen) Wissenschafts- und Forschungsdiskurs die Annahme ein, dass die Arousalsysteme des Gehirns bei der Bildung unreflektierten dynamischen Erlebens eine wichtige Rolle spielen. Er erläutert die anatomischen und funktionellen Eigenschaften der Arousalsysteme und ihre Bedeutung für das Erleben von dynamischen Vitalitätsformen, indem er an ausgewählten Beispielen aus den Künsten (Musik, Tanz, Theater und Film) die Ausdrucksweisen und –kommunikationen darstellt, „auf das Ineinanderfließen von Geste und Körperhaltung, auf die Korrespondenz von Energie und Form“ verweist, die im übrigen als dynamische Dimensionen des Erlebens nicht nur auf den künstlerischen Gebieten zum Ausdruck kommen. Sowohl in der klinischen Säuglings- und Kleinkindbehandlung, als auch bei den übrigen therapeutischen Beziehungen sind mentale Modelle und neuronale Netzwerke wirksam, die mit Bewegungs-, Körper- und Gesprächstherapien sichtbar und erlebbar gemacht werden können ( vgl. dazu auch: Christopher Bollas, Die unendliche Frage. Zur Bedeutung des freien Assoziierens, Frankfurt/M., 2011, in: www.socialnet.de/rezensionen/11514.php). Wichtig ist dabei die Erfahrung, dass „Vitalitätsformen ( ) auf einer ´lokalen Ebene’ realisiert (werden)“. Und es sind die „Beziehungserfahrungen“, die vitale Therapien wirksam machen.
Fazit
Daniel N. Stern diskutiert in seinem Buch „Ausdrucksformen der Vitalität“ dynamisches Erleben in Psychotherapie, Entwicklungspsychologie und den Künsten. Dabei verweist er auf die Existenz und Eigenständigkeit von dynamischen Vitalitätsformen. Im Zeitalter des kulturellen „prinzipiellen Polyglottismus“ (Juri Lotman) ist es angezeigt, auch diejenigen psychischen, vitalen Ausdrucksformen näher zu betrachten, die sich umgangssprachlich, scheinbar spontan und ungerichtet aufdrängen, etwa, wenn ein Gedanke auf einen „hereinbricht“ oder „aufscheint“, „sich nach und nach entwickelt“ oder „blitzartig überfällt“. Der Autor beschreibt die Bedeutung und den Stellenwert von vitalen Erlebnisformen für die Psychologie, den Künsten, der Psychotherapie, der Kinderentwicklung und den Neurowissenschaften, zeigt neue Zusammenhänge und Forschungsansätze, wie auch weiteren Forschungsbedarf auf – und zwar nicht nur für klinisches und pädagogisches Fachpersonal, sondern für den Menschen als künstlerisches, vitales Lebewesen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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