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Caritas in NRW (Hrsg.): Brauchen wir Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern?

Rezensiert von Dipl. Politologe Christian Schröder, 27.06.2011

Cover  Caritas in NRW (Hrsg.): Brauchen wir Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern? ISBN 978-3-7841-2029-4

Caritas in NRW (Hrsg.): Brauchen wir Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern? Hilfen zwischen Sozialstaat und Barmherzigkeit. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2011. 128 Seiten. ISBN 978-3-7841-2029-4. 15,80 EUR. CH: 24,50 sFr.

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Herausgeberinnen, Autorinnen und Autoren

Die Caritasverbände der Diözesen in Nordrhein-Westfalen (NRW) sind Träger von rund 540 „existenzunterstützenden Angeboten“ wie Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern, Möbellagern und ähnlichen Einrichtungen. Die Caritas in NRW hat den Tafelkritiker und Soziologieprofessor Stefan Selke (Hochschule Furtwangen) sowie Katja Maar (Professorin an der Hochschule Esslingen) beauftragt, eine empirische Studie zu diesen Angeboten in gemeindlicher und verbandlicher Trägerschaft in den Diözesen Aachen, Essen, Köln, Münster und Paderborn zu erstellen. Als Forschungsgruppe „Tafel-Monitor“ untersuchten sie die Wirkungen, Einstellungen von haupt- und ehrenamtlichen MitarbeiterInnen sowie Erfahrungen der NutzerInnen der „existenzunterstützenden Angebote“. Der von der Caritas in NRW herausgegebene Band beinhaltet die Studie sowie Beiträge zur Diskussion und Positionierung der Caritas in NRW.

Thematischer Hintergrund

Lebensmittelausgaben, Suppenküchen, Kleiderkammern, Möbellager und ähnliche Einrichtungen gehören zum Teil schon immer zum festen Angebot von Kirchengemeinden, caritativen Initiativen und Einrichtungen der Wohlfahrtspflege. Doch erst seit Einführung des Hartz-IV-Gesetzes 2005 erleben diese in Deutschland einen wahren Boom, der zu einer Professionalisierung und Transformation dieser Angebote geführt hat. Vor allem die Tafeln haben sich als Marke mit einem eigenen Bundesverband profiliert und stehen medial im Fokus. Seit ein paar Jahren geraten sie zusehends in die Kritik. Ihnen wird vorgeworfen, in der politisch gewollten Verarmung breiter Bevölkerungskreise eine Lückenbüßerfunktion einzunehmen und Menschen nicht zur Selbsthilfe zu befähigen, sondern zu entmutigen und entmündigen. Viele sozialpolitisch Engagierte klagen seit Jahren über die „Vertafelung der Gesellschaft“. Doch erst Stefan Selke ist es 2008 mit seiner ethnografischen Studie „Fast ganz unten“ über das Innenleben der Tafeln gelungen, eine breite gesellschaftliche Debatte anzustoßen.

Die Caritas in NRW war der erste Wohlfahrtsverband bundesweit, der die Kritik reflektierend aufgenommen und einen internen Selbstverständigungsprozess angestoßen hatte. Mit ihrer Stellungnahme „Zwischen Sozialstaat und Barmherzigkeit“ zu seinen „existenzunterstützenden Angeboten“ hatte sie sich frühzeitig positioniert. Andere Wohlfahrtsverbände folgten erst später. Die Auftragsstudie der Forschungsgruppe „Tafel-Monitor“ ist ein Teil dieses Prozesses, dessen Ziel es ist, „Positionen und Perspektiven zu entwickeln, die im Sinne der Katholischen Soziallehre Ausdruck einer Gerechtigkeit schaffenden Sozialpolitik sind“ (10).

Aufbau und Inhalt

Zu Beginn stellt Michaela Hofmann, Sozialreferentin beim Caritasverband im Erzbistum Köln, „Die Studie – Anlass, Ziele, Umsetzung, weiteres Vorgehen“ (11-14) vor. Anlass war für die Caritas in NRW, dass in Tafeln beruflich oder ehrenamtlich Engagierte verstärkt Zweifel äußerten, „sie sich die Frage nach dem Sinn der Ausgabe von Lebensmitteln, Kleidung oder Haushaltsgegenständen stellen und ihre eigene Arbeit oft nicht unkritisch sehen“ (11). Innerverbandlich häuften sich „kritische Fragen zu existenzunterstützenden Angeboten, nach der Einhaltung von sozialethischen Dimensionen wie Menschenwürde, Nachhaltigkeit, Freiheit u.a.“ (12). Daher befassten sich die Caritasverbände ab 2008 intensiv mit dem Thema und stießen innerverbandlich eine Debatte an. Ziel der Studie war es, die wirtschafts- und sozialpolitische Wirkung der „existenzunterstützenden Angebote“ zu erfassen, Angebotsspektrum, Nutzen und Kooperationen nachzuvollziehen sowie Ideen, Vorschläge und Konzepte für eine Weiterentwicklung aufzuzeigen. Ein ExpertInnenworkshop diente der Studie als Grundlage für eine quantitative schriftliche Befragung von über 2.600 MitarbeiterInnen und 41 qualitative Interviews mit NutzerInnen von Tafeln.

Im Hauptteil stellen Stefan Selke und Katja Maar die „Ergebnisse der Studie ‚Evaluation existenzunterstützender Angebote in Trägerschaft von katholischen und caritativen Anbietern in Nordrhein-Westfalen“ (15-91) vor. Die HelferInnenbefragung zeigte auf, dass über Dreiviertel der Engagierten Frauen sind. Das Durchschnittsalter der Hauptamtlichen liegt bei 47 Jahren, bei den Ehrenamtlichen sogar bei 62 Jahren. Zugleich identifizieren die AutorInnen zwei unterschiedliche HelferInnenkulturen. Zwar erkennen die befragten MitarbeiterInnen eindeutig im Sozialstaat den hauptsächlich Verantwortlichen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz. Doch über die Frage, was dies letztlich für die eigene Hilfepraxis bedeutet, bestehe zwischen den einzelnen HelferInnengruppen keine Einigkeit. Während aus Sicht der Hauptamtlichen der Beitrag der „existenzunterstützenden Angeboten“ eher darin läge, Perspektiven aufzuzeigen, sähen die Ehrenamtlichen in ihrer Tätigkeit einen Beitrag zur Armutslinderung. Die Motivationen der beiden HelferInnengruppen bewege sich zwischen anwaltschaftlichen Motiven, konzeptioneller Hilfe und sozialpolitischen Interventionen auf Seiten der Professionellen sowie selbstdienlichen Motiven, Sofort-Hilfe und Ad-hocismus auf Seite der Ehrenamtlichen. Stefan Selke und Katja Maar erkennen darin die „Grenzen der guten Tat“ (83).

Die qualitative NutzerInnenbefragung zeigte, dass die TafelnutzerInnen vor allem die existenzsichernde Perspektive und materielle Aspekte hervorheben. Wichtig seien ihnen Erreichbarkeit und Auswahl der Angebote. Die Verteilung der Lebensmittel und das öffentliche Anstehen hingegen würden von ihnen eher als belastend empfunden. Kritisch sehen die TafelnutzerInnen auch Formen der Benachteiligung sowie Vorauswahl und Selbstmitnahme von Lebensmitteln durch die MitarbeiterInnen. Forderungen nach Partizipation und Transparenz würden deutlich geäußert. Der soziale Nutzen spiele weniger eine Rolle. Tafeln seien keine Orte, an denen neue Räume der Vergemeinschaftung und Solidarisierungen entstünden. NutzerInnen fühlten sich eher als KonkurrentInnen. Die Organisation der Lebensmittelausgaben ließe, so die AutorInnen, „Stressräume und Stresszeiten für die NutzerInnen entstehen“ (79). Viele NutzerInnen äußerten „Gefühle der Stigmatisierung, ausgelöst durch das öffentliche Anstehen an Lebensmittelausgabenstelle, sowie Benachteiligungsgefühle beispielsweise bezogen auf die Verteilungsmodi der Lebensmittel“ (79). Sie empfehlen daher, die als belastend empfundene Lebensmittelausgabe „selbstkritisch und konstruktiv“ zu überprüfen, da „das nochmalige Erleben von Ungleichbehandlung am Ort der Hilfe [ein] Skandal“ sei. Ziel müsse es sein, „keine weiteren parallelweltlichen Abgrenzungen zuzulassen und auch den damit verbundenen antidemokratischen Impulsen keinen weiteren Vorschub zu leisten“. Denn aus einen strukturellen Armutsproblem können „bei fortschreitender Parallelgesellschaftsbildung, ein Demokratieproblem werden.“ (alle drei Zitate: 88)

Im Anschluss bewertet Ulrich Thien, Referatsleiter Soziale Arbeit beim Caritasverband Münster, in seinem Beitrag „Existenzunterstützende Angebote – Begründungen und Perspektiven der christliche Soziallehre“ (93-104) die existenzunterstützenden Angebot unter christlichen und sozialpastoralen Kriterien. In sieben Punkten verortet er sie im Armutsverständnis der katholischen Kirche und plädiert für soziale Gerechtigkeit sowie Parteilichkeit auf Seiten der Armen und Ausgegrenzten.

Abschließend ziehen die fünf Caritasverbände Aachen, Essen, Köln, Münster und Paderborn Schlussfolgerungen aus der Studie und formulieren sechs „Positionen und Perspektiven der Caritas in NRW zu existenzunterstützenden Angeboten“ (105-122). Darin legen sie Hintergründe und Zusammenhänge dar, ziehen Schlüsse aus den Befragungen von MitarbeiterInnen und NutzerInnen und entwerfen Perspektiven für verbandliche und gemeindliche Träger und Mitarbeitende. Zusammengefasst bewerten sie die zunehmende Armutsentwicklung und gesellschaftliche Spaltung als strukturelle Probleme, welche nicht hinnehmbar, sondern (sozial)staatlich zu überwinden seien. Existenzunterstützende Angebote seien nicht auf Dauer angelegte konkrete Hilfeangebote, die im Sinne der christlichen Soziallehre die Selbsthilfe von Armutsbetroffenen stärken und eine solidarische Gesellschaft aufbauen und weiterentwickeln sollen

Diskussion und Fazit

Erhellend sind vor allem die Ergebnisse von Stefan Selke und Katja Maar zu den Selbstbildern von Professionellen und Ehrenamtlichen sowie zu den Perspektiven der NutzerInnen, wozu bisher kaum etwas bekannt war. Die praktische Empfehlung der Forschungsgruppe Tafelmonitor an die Träger, ihre Ausgabe- und Verteilungsmodi kritisch zu prüfen, die NutzerInnen-Perspektive ernster zu nehmen und sie zu beteiligen, geht in die richtige Richtung. Welchen politischen Beitrag einzelne Kirchengemeinden, caritative Initiativen und Einrichtungen sowie die Caritas zu einer Perspektive zur Überwindung von Armut vor Ort leisten können, müssen diese selbst klären.

Interessant wäre gewesen, das Bedürfnis des anwaltschaftlichen Engagements auf Seiten der Hauptamtlichen in Bezug zu den tatsächlichen sozialpolitischen Aktivitäten vor Ort zu setzen. Sind gemeindliche und verbandliche Träger bereit, Politik und Sozialverwaltung zu kritisieren – oder scheuen sie es, Konflikte einzugehen? Der Analysefokus läge dann allerdings weniger auf dem Binnenleben und stärker auf der gesellschaftspolitischen Einbindung dieser Einrichtungen vor Ort. Dies wäre vielleicht eine interessante Forschungsfrage für die nächste Studie.

Die Caritas hat im Frühjahr 2011 eine Kurzfassung der Studie erstellt, die kostenlos im Internet abrufbar ist: http://www.caritas-nrw.de/downloads/positionen_stellungnahmen/%0AZwischen_Sozialstaat_und_Barmherzigkeit_2011_final.pdf">www.caritas-nrw.de/downloads

Rezension von
Dipl. Politologe Christian Schröder
Evangelische Sozialberatung Bottrop (ESB)
Website

Es gibt 17 Rezensionen von Christian Schröder.

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Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 27.06.2011 zu: Caritas in NRW (Hrsg.): Brauchen wir Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern? Hilfen zwischen Sozialstaat und Barmherzigkeit. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2011. ISBN 978-3-7841-2029-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11522.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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