Joachim Armbrust: Jugendliche begleiten
Rezensiert von Prof. Dr. em. Lutz Finkeldey, 15.11.2011

Joachim Armbrust: Jugendliche begleiten. Was Pädagogen wissen sollten. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2011. 142 Seiten. ISBN 978-3-525-70121-8. D: 12,95 EUR, A: 13,40 EUR, CH: 19,90 sFr.
Thema
Joachim Armbrust hat mit seinem Buch „Jugendliche begleiten“ insbesondere die pubertäre Phase Jugendlicher mit ihren Entwicklungsaufgaben, Herausforderungen und Brüchen in den Fokus der Aufmerksamkeit genommen. Aus der Sicht eines Diplomsozialpädagogen und heilkundlichen Psychotherapeuten nimmt er in fünf Kapiteln Fragen gelungener oder auch misslungener Identitätssuche Jugendlicher auf, indem er jugendliche Entwicklung zwischen subjektiver Sicht und objektiven Herausforderungen mit seinem Praxishintergrund verbindet und illustriert. Ein weiterer Schwerpunkt kommt den in der Unterüberschrift genannten „Pädagogen“ zu, denn ihre Praxis wird mit den alltäglichen Herausforderungen durch Pubertierende vor allem mit lebensnahen Beispielen mehr als nur beleuchtet.
Anlage
Wie der Autor selbst in seiner Vorbemerkung schreibt, geht es ihm darum, junge Menschen pädagogisch in einer optionalen Welt zu begleiten, Biographie als Ich-Aufgabe zu kreieren und in das gesellschaftliche Leben zu bringen. Das Vorgehen fußt – wie schon angerissen – ausschließlich auf beruflich reflexiver Praxis. Es liegt kein „Stück Wissenschaft“ vor, sondern Praxisreflexionen vor einem unbenannten nicht zitierten wissenschaftlichen Hintergrund. Durch sehr persönliche Einschätzungen zu seinen Betrachtungen gewinnt das Buch eine Faszination für das „Zwischen-den-Zeilen-Lesen“, um eigene Erfahrungen zu reflektieren. Im Vorwort schreibt der Jugendforscher Hurrelmann: „Durch diese Praxisnähe schafft es der Autor, in eindrücklicher Weise, die innere, für die Jugendlichen selbst oft noch unaussprechliche Erfahrungswelt ihrer bereits gelebten Beziehungs- und Lebenszusammenhänge abzubilden.“
Aufbau
Der Autor arbeitet in allen Kapiteln mit der Gegenüberstellung des jugendlichen „Ich“ zu Entwicklungsaufgaben der Gesellschaftswerdung. Die Themenbereiche sind:
- Jugendliche als Akteure ihrer Biographie;
- jugendliche Entwicklung und formalistischer Bildungsansatz;
- Autonomie versus Konsum, Freizeit;
- Jugendliche als Grenzgänger und
- methodischer Umbruch dargelegter Inhalte für (ritualisierte) Gestaltungsräume.
Die Argumentationslinien sind logisch stringent aufgebaut, der Autor arbeitet gezielt und pointiert mit Verweisen, verzichtet allerdings bis auf sehr, sehr wenige Stellen auf die wissenschaftliche Belegführung. Mit der bewusst durch das schreibende Subjekt eingebrachten Erfahrungswelt entwickelt er im abschließenden Kapitel aus seiner Sicht „offene Prozesse“, die „sanktionsarme Räume für wertbildende Kommunikation“ zwischen den Generationen, vor allem aber aus Sicht der Jugendlichen für „Zukunft und Selbstverantwortung“ ermöglichen.
Ergebnisse
Wie auch Hurrelmann sinngemäß im Vorwort schreibt, liegt ein Kompendium für Bewältigungsaufgaben von Jugendlichen vor. Es ist faszinierend mit welcher emotionalen Tiefe und gleichzeitiger Distanz Armbrust beispielsweise Rollenklarheit für Jugendliche einfordert, indem er einerseits mit jahrtausende alten Rollenbildern argumentiert, diese in ihrer nach wie vor aktuellen Wirkmächtigkeit entblättert, aber dennoch das heutig Situative in den einzunehmenden Rollen von Jugendlichen wirken und gleichzeitig Erwachsene zu pädagogischen „Komplizen“ werden lässt (s. S. 25).
Armbrust formuliert in hervorragender Weise einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel zu Patchworkidentitäten mit ungemein vielen hilfreichen Beispielen als Aufgabe für die „Ich-Findung“ Jugendlicher: Er personalisiert, nimmt sein handelndes „Ich“ als Maßstab, spürt der Frage nach Normalität in allen Lebenszusammenhängen nach, entwickelt Selbstwirkungskonzepte und gibt obendrein in sehr mitfühlender Weise Ratschläge für den Umgang mit Jugendlichen, für die Jugendlichen selbst wie auch für Pädagoginnen und Pädagogen. Wissenschaftlicher ausgedrückt: Er exemplifiziert beeindruckend den Übergang von Sozialisation zu Ich-Sozialisation, indem er seine Praxis zwar nicht zum Maßstab erhebt, doch als subtextualisierte Messlatte einschreibt. Das trägt einerseits zu sehr beeindruckenden Ergebnissen für interessierte Leserinnen und Lesern bei, die allerdings andererseits beim Lesen ihre eigene Erfahrung einflechten und damit der Gefahr unterliegen, einen eigenen Handwerkskoffer zu entwickeln.
Diskussion
Das Buch kommt in dem bisher Geschriebenen ambivalent daher: Ein hervorragender Leitfaden konkurriert mit den Vorerfahrungen und dem Vorwissen der Rezipientinnen und Rezipienten. In diesem Bereich liegt die Faszination aber auch die Gefahr dieses so wundervoll geschriebenen Buches. Wenn bei den Lesenden ein recht großes theoretisches Wissen zum Thema vorhanden ist und beispielsweise die Theorie, die mit dem Wissenschaftler Hurrelmann verbunden ist, als bekannt vorausgesetzt werden kann, ist dieses Buch ein komplettes Werk, das der Theorie „Butter bei die Fische gibt“. Ich habe selten ein wahrlich so rundes Kompendium in der Hand gehabt, das Fragestellungen, Nöte und Herausforderungen von Pädagoginnen und Pädagogen in der Praxis exzellent aufnimmt, sich in die eigene Professionsgeschichte einbinden lässt, wie dieses. Als Wissenschaftler muss ich dennoch bemängeln, dass dieses Werk zu einem Ratgeber werden kann, der das „Ich“ der Pädagogin, des Pädagogen theorielos überhöht und zu eigener pädagogischer Maßlosigkeit anregt, weil sie in ihrer Praxis die bei Armbrust ungenannte reflexive Theorieeingebundenheit nicht einsetzen – jetzt aber vielleicht ihren ureigenen Handlungs- und Methodenkoffer zusätzlich mit ein paar für sich zurechtgebogenen Gedanken Armbrusts ergänzen können. Armbrust schildert außerordentlich gut Übereinstimmung und Reibung als Herausforderung für jugendliche Ich-Werdung. Genau diese Reibung brauchen auch professionell Tätige im Praxis-Theorie-Verhältnis. Um nicht missverstanden zu werden: Eine Zitathuberei deutscher wissenschaftlicher Provenienz hätte das Buch unlesbar gemacht, genau den von mir geschätzten Inhalt zerstört. Zu jedem Kapitel Hinweise zu verwendeter oder weiterführender Literatur ließe die vom Rezensenten geäußerte diesbezügliche Kritik in der „Luft zerplatzen“.
Fazit
Der Rezensent ist vom Inhalt begeistert, doch fordert er gleichzeitig eine theoretische Einbindung der hervorragend dargelegten Praxis eines Diplomsozialpädagogen und heilkundlichen Psychotherapeuten. Wer sich in der Sozialisations- und Identitätsforschung theoretisch auskennt, bekommt ein außergewöhnliches Buch zu lesen, das Praxis reflektiert, wissenschaftlich durchaus auf der Höhe ist, doch aufgrund fehlender Theorieverweise auch ein unglücklicher Ratgeber für ich-bezügliche Leserinnen und Leser sein kann.
Rezension von
Prof. Dr. em. Lutz Finkeldey
Professor für „Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit - Jugendhilfe“, Verstehenssoziologe, Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit an der „Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst“ (HAWK) - Fachhochschule Hildesheim, Holzminden, Göttingen, Standort Hildesheim
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