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Wolf Rainer Wendt: Sozialwirtschaft - eine Systematik

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Klug, 09.12.2003

Cover Wolf Rainer Wendt: Sozialwirtschaft - eine Systematik ISBN 978-3-8329-0349-7

Wolf Rainer Wendt: Sozialwirtschaft - eine Systematik. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2003. 120 Seiten. ISBN 978-3-8329-0349-7. 19,80 EUR.

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Entstehungshintergrund und Zielsetzung

Das Buch will systematisch (nicht additiv) Zusammenhänge, Bezüge und Strukturen darstellen, in denen die Sozialwirtschaft ihre Zwecke erfüllt. Dabei werden eher die volkswirtschaftlichen Aspekte beleuchtet, während Managementmethoden im engeren Sinne nur am Rande thematisiert werden.

Aufbau und Inhalte

Wendt geht von folgender Definition von "Sozialwirtschaft" aus: "Gegenstand der Sozialwirtschaft ist die gemeinschaftliche und personenbezogene soziale Versorgung (social provisioning) als lebensdienlicher Unterhalt. Dazu gehört die Bearbeitung und Erfüllung sozialer Anliegen (social concerns), insbesondere die Absicherung gegen Risiken des Lebens, die Bewältigung und Lösung sozial definierter Probleme von einzelnen Menschen und von Gruppen im Gemeinwesen." (S. 13)

Basierend auf dieser Grundlage entfaltet Wendt seine Systematik in neun Schritten:

1) Ein erster Überblick

2) Vier Blickwinkel, unter denen die Sozialwirtschaft betrachtet werden kann

3) Gemeinschaftliches Auskommen

4) Ebenen der Sozialwirtschaft

5) Zwischen öffentlichem und privatem Haushalten

6) Politik sozialen Wirtschaftens

7) Unternehmerische Organisationen der Sozialwirtschaft

8) Wohlergehen und Wohlfahrtsorganisationen

9) Performance in der Sozialwirtschaft

In Schritt 1 ("Ein erster Überblick") beschreibt der Autor Geschichte, Aufgaben und Bezugsrahmen (Markt, zentrale Charakteristika von Organisationen im Dritten Sektor) insbesondere unter der Hinsicht der Besonderheiten des sozialwirtschaftlichen Sektors. Hier entfaltet Wendt systematisch eine "Sozialwirtschaftslehre", die sich deutlich von einer zu simplen Verbindung der Betriebswirtschafslehre mit der Sozialen Arbeit zum "Sozialmanagement" abheben soll (S. 16).

Schritt 2 ("Vier Blickwinkel, unter denen die Sozialwirtschaft betrachtet werden kann") beschreibt unter vier Aspekten Charakteristika der Sozialwirtschaft: ("Sozialbetrieb", "professionellen Handeln", "sozialpolitische Auftrag", Leitprinzipien).

Schritt 3 ist überschrieben mit "Gemeinschaftliches Auskommen" und reflektiert das Thema "Versorgung" unter zwei Gesichtspunkten: "Gemeinschaftliche Selbstversorgung" und "Versorgung im marktwirtschaftlichen Kontext". Ersteres ist das natürliche Bestreben von Menschen zur Selbstversorgung, das von der Gemeinschaft übernommen wird, wenn der Einzelne nicht mehr dazu in der Lage ist. Letzteres meint den Tausch von Gütern auf Vertragsbasis.

Der sich anschließende Teil des Werkes ist Schritt 4 ("Ebenen der Sozialwirtschaft"), der sich mit drei "Ökonomien" befasst: Der Makroökonomie (formelle Daseinsvorsorge, soziale Wohlfahrt), der intermediären Sozialwirtschaft (Wohlfahrtsorganisationen, Wohlfahrtspflege) und der privaten Mikroökonomik (private Versorgung und familiäre Bedarfsdeckung). Diese drei Ökonomien sind den drei ökosozialen Ebenen, der Makro-, der Meso- und der Mikroebene zuzuordnen. Zu letzterer zählt Wendt auch die Selbsthilfegruppen.

Schritt 5 befasst sich mit dem Bereich "Zwischen öffentlichem und privatem Haushalten". Wendt entwickelt hier ausführlich den für ihn zentralen Begriff "Haushalten". Aus seiner Sicht lässt sich mit dieser Kategorie Steuerung von Prozessen in all den genannten ökosozialen Ebenen beschreiben. Er führt aus: "Haushalten gleich wirtschaften - das müssen Einpersonen- und Mehrpersonenhaushalte in der Willensbildung und Entscheidung über knappe Ressourcen und über Chancen, die wahrgenommen werden sollen. Im Gegensatz zu Unternehmen verfolgt die Selbstorganisation persönlichen und familiären Wirtschaftens nicht äußere Zwecke und kann dafür auch nicht beansprucht werden. Private Haushalte sind Betriebe der Eigenbedarfsdeckung, während Unternehmen als Betriebe der Fremdbedarfsdeckung bezeichnet werden können." (S. 59) In diesem Zusammenhang reflektiert Wendt die "direkte Bewirtschaftung sozialer Aufgaben mit dem öffentlichen Haushalt" (S. 61) und "intermediäres Haushalten" durch Wohlfahrtsorganisationen sowie deren Beziehung zueinander (z.B. Stichworte: Objektförderung oder Subjektförderung, Sozialplanung oder Entwicklung der sozialen Infrastruktur, Standard- und Effektivitätsanspruch).

Der "Politik sozialen Wirtschaftens" gilt Schritt 6. Hier stehen die Grundlagen des öffentlichen sozialen Systems zur Debatte. Wendt geht es darum, die wichtigsten Typen wohlfahrtsstaatlicher Steuerung zu unterscheiden: den liberalen Wohlfahrtsstaat, den konservativen Wohlfahrtsstaat und das sozialdemokratische Wohlfahrtsregime. Hinter jeder dieser Konzeptionen stehen bestimmte Wertvorstellungen. Ein wichtiges Unterscheidungskriterium ist der "erreichte Grad der Dekommodifizierung", also der Grad der Sicherung des Lebensunterhaltes unabhängig vom Verkauf der Ware Arbeitskraft (S. 73). Weiterhin werden aktuelle Veränderungen sozialstaatlicher Leitbilder ("aktivierender Staat") und Überlegungen zum in der europäischen Debatte wichtigen Konzept der "öffentlichen Daseinsvorsorge" Rechnung getragen (S. 77). Auch hier fügt Wendt wieder die individuelle Ebene ein, in der der einzelne Mensch "genötigt [ist, sein] tägliches Leben zu bewirtschaften." (S. 79). Schließlich werden europäische Konstrukte der Dienstleistungsproduktion und insbesondere die deutschen Wohlfahrtsverbände thematisiert.

Mit dem Kapitel über "Unternehmerische Organisation der Sozialwirtschaft" (Schritt 7) werden verschiedene Organisationsformen angesprochen. Solche organisierten Formen sind: Bürgerschaftliches Engagement, Ehrenamtliche und Freiwillige, Selbsthilfegruppen, Sozialgenossenschaften und informelle Netzwerke. Auch hier wird der Blick über die Grenzen, in diesem Fall das Genossenschaftsmodell in Italien, gewagt. Es schließt sich ein Kapitel über Trägerstrukturen in Deutschland und Italien an. Nach dem freigemeinnützigen Beispiel handelt Wendt gewerbliche Träger ab und streift dabei das Thema "Privatisierung". Auch hier werden als neue Anforderungen an die Dienste in einem "Sozialraum" Themen wie Sozialplanung, Sozialraum-Budget, Verbundsysteme u.a. formuliert.

Im Schritt 8 steht das Thema "Wohlergehen und Wohlfahrtsproduktion" im Mittelpunkt des Interesses. Ausgehend von "capabilities approach" entwickelt Wendt den Kerngedanken sozialwirtschaftlicher Unternehmen: "Soziale Dienste und Einrichtungen ermöglichen Menschen, ihre Befähigung zu entwickeln und auszuüben." (S. 106) Damit wird Soziale Arbeit in der Weiterführung "häuslichen Sorgens" als "Sorgearbeit" in der Verschränkung zwischen Dienstleistungen und primärer Versorgungsgemeinschaft konstituiert (S. 107). Wendt entwickelt an dieser Stelle einen dreifachen Begriff von "Wohlfahrt": als gesamtwirtschaftliches Ziel, als Aufgabenstellung von Sozialunternehmen und im persönlichen Ergehen von Menschen. Schließlich wird generell die "Produktion von Wohlfahrt" erläutert. Sie findet auf drei Ebenen statt: einzelwirtschaftlich als Leistung der Individuen und Familien, sozialwirtschaftlich in Form von Koproduktionen und volkswirtschaftlich als Allokationsergebnis der Produktion von Unternehmen und Haushalten (S. 113).

Mit Schritt 9 (Performance in der Sozialwirtschaft) schließt das Buch ab. Das zentrale Anliegen hier ist die Rechenschaftslegung, was den Nachweis der Qualität, Relevanz und Reliabilität enthält (S. 122).

Diskussion

Das Anliegen Wendt's, eine eigene Systematik der Sozialwirtschaft vorzulegen, hat mehrere Konsequenzen: Zum einen muss er, will er seinem Anliegen treu bleiben, nicht nur eine ins Soziale gewendete Betriebswirtschaft entwickeln, sondern muss mit einem originären Ansatz aufwarten. Zum anderen gibt es keine klassische Wissenschaft, deren Systematik herangezogen werden könnte. Weder Sozialarbeitswissenschaft (das frühere Feld des Autors) noch Ökonomie (die eigentliche Heimatwissenschaft des Themas) noch Politikwissenschaft (die immer wieder hinzugezogen wird) sind als eigentliche "Leitwissenschaften" der Systematik zu erkennen. Vielmehr entwickelt der Autor seine eigene Agenda, die zwar ohne Leitwissenschaft, nicht aber ohne Leitmotiv auskommt. Dieses Leitmotiv und damit die eigentliche zentrale Bezugsgröße ist für Wendt das "Haushalten". Ob "Soziales Haushalten im staatlich organisierten Gemeinwesen" oder "persönliches Zurechtkommen/Haushalten der Bürger" (S. 36): Immer wieder wird von diesem Thema aus die jeweilige Facette der Sozialwirtschaft erschlossen. Insofern ist es Wendt in der Tat gelungen, sich von keiner der klassischen Wissenschaften und ihren jeweiligen Systematiken vereinnahmen zu lassen, sondern einen ersten Baustein einer eigenen Systematik zu legen.

Allerdings: Wer eine neue Systematik vorlegt, betritt Neuland. Dies bringt es mit sich, dass manche Aspekte nicht im "mainstream" des Sozialmanagements liegen. So ist die häufige Einbeziehung von Einzelnen und Familien als "gewichtigste Wohlfahrtsinstitution" (S. 56) sicherlich nicht bestreitbar, allerdings stellt sich die Frage, inwieweit das vom Autor an anderer Stelle deutlich vom Bereich der Sozialwirtschaft abgegrenzte "Einzelwirtschaften" (vgl. S. 113) sich nahtlos in eine Systematik der Sozialwirtschaft fügt. Dies funktioniert nur, wenn man einen sehr breiten Begriff von Sozialwirtschaft zugrunde legt, wie etwa diesen: "Sozialwirtschaft ist haushaltendes Wirtschaften" (S. 58). Die spannende Frage wird sein, wie ein solcher Begriff anschlussfähig im wissenschaftlichen Diskurs wird.

Während also der Bereich des Einzelwirtschaftens vergleichsweise breiten Raum einnimmt, scheint mir die besondere Steuerungsproblematik von Wohlfahrtsverbänden nur schemenhaft erschlossen. Das für Wohlfahrtsverbände zentrale Thema der "Wertorientierung" wird unter dem Aspekt der Option "zwischen Markt und Mildtätigkeit" zwar angesprochen, ist aber wohl nur von den sich verändernden makroökonomischen Ausgangsvoraussetzungen und dem hybriden Charakter ihrer Organisationen her zu begreifen. Es ist zu vermuten, dass das Vorhaben des Autors, eine Systematik der Sozialwirtschaft auf knapp 120 Seiten zu entwickeln, notwendigerweise eine sehr knappe Darstellung mit sich bringt.

Fazit

Das Buch ist als Überblickswerk für die Diskussion um die Sozialwirtschaft hervorragend geeignet. Insbesondere diejenigen, die sich um eine wissenschaftliche Diskussion über eine interdisziplinäre Sozialwirtschaftskonzeption bemühen, werden an diesem Werk nicht vorbeikommen. Der wissenschaftliche Apparat ist vielfältig und ein Beleg für die umfassende Kenntnis von Wendt, der zu den bedeutendsten Autoren im Bereich der Sozialen Arbeit in Deutschland zählt.

Besonders erwähnenswert erscheint mir, dass Wendt europäische Bezüge kenntnisreich und mit vielen Details einarbeitet. Die zahlreich zitierten europäischen Modelle machen einen besonderen Schatz des Buches aus, weil sie erahnen lassen, wie sehr wir es nötig haben werden, über den deutschen Tellerrand hinaus zu schauen und uns von erfolgreichen Konzepten anderer Länder inspirieren zu lassen.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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Es gibt 56 Rezensionen von Wolfgang Klug.

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Zitiervorschlag
Wolfgang Klug. Rezension vom 09.12.2003 zu: Wolf Rainer Wendt: Sozialwirtschaft - eine Systematik. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2003. ISBN 978-3-8329-0349-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/1158.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.


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