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Markus Schächter (Hrsg.): Ich kann. Ich darf. Ich will

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 22.02.2012

Cover Markus Schächter (Hrsg.): Ich kann. Ich darf. Ich will ISBN 978-3-8329-5861-9

Markus Schächter (Hrsg.): Ich kann. Ich darf. Ich will. Chancen und Grenzen sinnvoller Kinderbeteiligung. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2011. 160 Seiten. ISBN 978-3-8329-5861-9. 29,00 EUR. CH: 41,90 sFr.
Schriftenreihe "Jugendmedienschutz und Medienbildung" - Band 3.

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Thema

Seit den 1980er Jahren sind in Deutschland zahlreiche Modelle und Projekte entworfen und Initiativen gestartet worden, um Kindern mehr Partizipationsmöglichkeiten zu verschaffen und ihre Mitwirkung in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu steigern. Kaum eine Organisation oder Einrichtung, die mit Kindern zu tun hat oder für Kinderrechte eintritt, versäumt heute, deren Wichtigkeit zu betonen. Im Nationalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005 – 2010“ (NAP) war betont worden, die Bundesregierung wolle sich besonders dafür einsetzen, „die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an allen sie betreffenden Entscheidungen in Bund, Ländern und Gemeinden verbindlich zu regeln“. Auch im Koalitionsvertrag der gegenwärtig amtierenden Bundesregierung findet sich ein deutliches Bekenntnis zur Beteiligung von Kindern: „Wir werden die Partizipation von Kindern und Jugendlichen von Anbeginn fördern und uns dafür einsetzen, dass Kinder und Jugendliche ihre Lebenswelten und die Gesellschaft ihrem Alter gemäß mitgestalten können“.

Partizipation kann nicht nur viele Formen annehmen, sondern auch viele Bedeutungen haben, sowohl für den Einzelnen als auch für seine Mitmenschen oder die Gesellschaft insgesamt.Wenn von Kinderpartizipation die Rede ist, wird durchweg an Projekte oder Modelle gedacht, die für oder mit Kindern eingerichtet werden. Dabei geht leicht unter, dass Partizipation auch eine Frage des täglichen Lebens jenseits aller pädagogischen oder rechtlichen Erwägungen ist. Viele Projekte mögen gut gemeint und von besten Absichten getragen sein, aber sie sind meist weit davon entfernt, Kindern tatsächlich Einfluss auf ihre Lebensumwelt zu geben. Oft dienen sie sogar dazu, Kinder für Vorhaben einzuspannen, die von Erwachsenen vorgegeben sind, und kommen vor allem der Imagepflege von Politikern und Verbandsfunktionären zugute. Was Not tut, ist eine kritische Bestandsaufnahme, inwieweit Partizipationsprojekte tatsächlich dazu beigetragen haben und beitragen können, die Position von Kindern in der Gesellschaft zu stärken und die weitverbreitete Rede der Bürgerschaft von Kindern mit Leben zu füllen.

Entstehungshintergrund

Der vorliegende, vom früheren Intendanten des ZDF, Markus Schächter, herausgegebene Band versammelt die Beiträge, die auf einer Fachtagung aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums der ZDF-Kindernachrichtensendung logo! im November 2009 gehalten wurden. Einige der auf der Tagung diskutierten Fragen waren:

  • Wie können und wollen Kinder heute mitreden?
  • Was verstehen Expertinnen und Experten unter „sinnvoller Kinderbeteiligung“?
  • Was bedeutet frühe Teilhabe für die individuelle Lern- und Persönlichkeitsbiografie von Kindern?
  • Und vor allem: Warum geben Erwachsene so ungern Macht ab, um Partizipation von Kindern zu ermöglichen?

Aufbau und Inhalt

Der erste Teil, der aus verschiedenen Blickwinkeln mit dem Thema vertraut machen soll, umfasst vier Beiträge. Eva Radlicki, Leiterin der Redaktion Information der ZDF-Hauptredaktion Kinder und Jugend, erläutert, wie ernst es ihrer Redaktion mit dem Anspruch „Kinder ernst nehmen“ ist. Roland Roth, Politikwissenschaftler an der Hochschule Magdeburg-Stendal, zieht eine kurze Bilanz über den Stand der Forschung zur Kinderbeteiligung in Deutschland. Lothar Krappmann, bis zum vergangenen Jahr Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes, erklärt, warum die Beteiligung von Kindern ein wichtiger Bestandteil der Kinder- und Menschenrechte ist und wie sie aus der Sicht des Ausschusses verstanden wird. Matthias Jerusalem, Erziehungswissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität, erläutert, in welcher Weise die Partizipation von Kindern als „wirksam“ erlebt werden kann und warum dies für ihre Bereitschaft und Kompetenz zu demokratischem Handeln wichtig ist.

Im zweiten Teil („Kinderpartizipation – der verschränkte Blick“) werden sechs verschiedene Projekte vorgestellt und durch Fachleute aus ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Perspektive kommentiert. In den einzelnen Darstellungen und Diskussionsbeiträgen geht es um folgende Handlungsfelder: „Interkulturelle Sportangebote und Medienkompetenz“, „Kommunale Stadtplanung und Empowerment“, „Umweltbildung und Öffentlicher Raum“, „Schule und Soziale Systeme“, „Internetplattform und Positive Peer Culture“ sowie um „Sportverein und Soziale Nahräume“. Am Ende jeder Darstellung werden „Schlüsselfaktoren für gelungene Partizipation“ formuliert.

Im dritten Teil („Schlaglichter“) nehmen Fachleute und eine Politikerin mit Blick auf ihre Erfahrungen zu speziellen Fragen Stellung. Bernhard Bueb, ehemaliger Leiter des Elite-Internats Schloss Salem, plädiert dafür, dass Beteiligung nur Sinn mache, wenn die Kinder Orientierung durch Erwachsene finden. Thomas Krüger, Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung, warnt davor, Kinder in Beteiligungsprojekten zu bevormunden und erläutert, inwiefern politische Bildung im Interesse der Kinder liege. Ekin Deligöz, MdB von Bündnis 90/Die Grünen und Mitglied der Kinderkommission des Deutschen Bundestages, kritisiert, dass junge Menschen im politischen Geschehen unterrepräsentiert sind, und fordert, die rechtlichen und materiellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Kinder tatsächlich auf dieses Geschehen Einfluss nehmen können. Claudia Zinser und Max Roehrich, die erste seinerzeit als Erziehungswissenschaftlerin, der zweite als Jugendlicher innerhalb der Strukturen des regierungsoffiziellen Nationalen Aktionsplans für ein kindergerechtes Deutschland aktiv, erläutern die im Rahmen des Aktionsplans entwickelten „Qualitätsstandards“ für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Jana Frädrich, seit 1997 Kinderbeauftragte der Stadt München, fordert auf der Grundlage ihrer Erfahrungen, die Partizipation von Kindern mehr „vom Ende her“ zu reflektieren und auf ihre tatsächliche Wirksamkeit zu achten. Martina Eisendle, Leiterin eines Beratungsservice für Kinder- und Jugendbeteiligung im österreichischen Bundesland Vorarlberg, zeigt, wie Qualität im Prozess der Beteiligung entstehen kann, wobei sie vor allem ein Beteiligungsmilieu für wichtig hält, das Mitbestimmungsbarrieren abbaut und den Kindern und Jugendlichen ermöglicht, sich direkt an für sie relevanten Entscheidungen zu beteiligen.

Im vierten Teil („Kinder ohne Einfluss?“) werden die Ergebnisse einer Studie der ZDF-Medienforschung zur Beteiligung von Kindern in Familie, Schule und Wohnort von den beteiligten Forschern Helmut Schneider, Waldemar Stange und Roland Roth vorgestellt. Aus dieser bisher einzigen für Deutschland repräsentativen Untersuchung über die Stand der Kinderpartizipation, die auf Befragungen von Kindern im Alter von 8 bis 12 Jahren basiert, geht hervor, dass es nachwievor „in allen Lebensbereichen offensichtlich mehr oder weniger große Kernbestände [gibt], die der Mitwirkung von Kindern entzogen werden“ (S. 117). Unter Einbeziehung anderer Studien wird konstatiert, es werde insgesamt „eine enorme Kluft zwischen dem Bekenntnis zu der Begeisterung für Beteiligung einerseits und den realisierten partizipativen Prozessen andererseits deutlich“ (S. 118). Die Mitbestimmung von Kindern fällt in den Lebensbereichen Familie, Schule und Wohnort sehr unterschiedlich aus. Während die meisten Kinder ein positives Bild ihrer Mitwirkungsmöglichkeiten in der eigenen Familie zeichnen, ist es in der Schule umgekehrt. Jedes vierte Kind gibt an, in der Schule „überhaupt nicht“ mitbestimmen zu können. Besonders gering sind die Möglichkeiten in den Bereichen, die unmittelbar die Lehrerautorität berühren, vor allem bei der Notengebung, den Haus- und Klassenarbeiten sowie den Unterrichts- und Pausenregeln. Obwohl viele Kinder Interesse zeigen, auch an ihrem Wohnort mitreden zu können, sind hier die entsprechenden Möglichkeiten besonders begrenzt. Mehr als die Hälfte der Kinder bekundet, in Fragen der kommunalen Lebensgestaltung weder gefragt zu werden noch mitwirken zu können. Bei den Kindern dominiert das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden.

Diskussion

Der Band kann für sich beanspruchen, zumindest in Ausschnitten eine kritische Bestandsaufnahme bisheriger Kinderpartizipation in Deutschland zu sein, und vermittelt auch einen interessanten Einblick in die in Österreich geführte Diskussion. Die vorgestellten Projekte umfassen ein weites Spektrum und erstrecken sich auch auf Bereiche, die bislang wenig beachtet und mit dem Thema Kinderpartizipation in Verbindung gebracht werden. Ein Vorzug der Projektdarstellung ist zudem, dass die Projekte systematisch unter vergleichbaren Gesichtspunkten erörtert und kritisch reflektiert werden. Die am Ende vorgestellte Studie vermittelt ein differenziertes und in mancherlei Hinsicht desillusionierendes Bild über das in Deutschland bislang Erreichte.

Die im ersten und dritten Teil versammelten Beiträge betrachten die Frage der Kinderpartizipation aus unterschiedlichen Perspektiven und auf der Grundlage unterschiedlicher Erfahrungen, und es bleibt dem Leser und der Leserin überlassen, mit Blick auf die dargestellten Projekte und die Studie seine/ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Die Studie legt jedenfalls nahe, eine Darstellung, die sich auf speziell für Kinder entwickelte Projekte beschränkt, zu hinterfragen. Wünschenswert wären weitere Studien, die nicht nur Kinder befragen und einen quantitativ aufbereiteten Überblick vermitteln (so aufschlussreich dieser ist), sondern auch den Alltag von Kindern begleitend beobachten und gemeinsam mit Kindern daraufhin analysieren, für welche Art von Partizipation sie sich interessieren und welche Möglichkeiten sie sehen, ihre Lebensumstände durch eigenes Handeln zu beeinflussen. Den Kindern sollte dann auch überlassen bleiben, welche Art von Beteiligung sie für „sinnvoll“ halten.

Da es sich bei dem Band um die Publikation eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders handelt, wäre zu erwarten gewesen, dass der Bedeutung der Medien und Kommunikationstechnologien für die Partizipation von Kindern stärkere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Der Beitrag über die ZDF-Kindernachrichtensendung logo! ist zwar recht informativ und glaubwürdig, aber er kann eine kritische Auseinandersetzung mit der bisher keineswegs rühmlichen Rolle der Medien im Hinblick auf eine aktive Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen ersetzen. Dem ZDF sei eine weitere Tagung ans Herz gelegt, die sich ausdrücklich mit den Medien, den Erwartungen von Kindern und Jugendlichen und ihrer tatsächlichen Repräsentation in den Medien befasst.

Fazit

Ein informativer und zum Nachdenken anregender Band über verschiedene Bereiche und Formen von Kinderpartizipation, der auch die bisherigen Hindernisse und Grenzen einer ernstzunehmenden Partizipationspraxis nicht verschweigt, aber der Rolle der Medien stärkere Aufmerksamkeit hätte widmen sollen.

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Es gibt 104 Rezensionen von Manfred Liebel.

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Zitiervorschlag
Manfred Liebel. Rezension vom 22.02.2012 zu: Markus Schächter (Hrsg.): Ich kann. Ich darf. Ich will. Chancen und Grenzen sinnvoller Kinderbeteiligung. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2011. ISBN 978-3-8329-5861-9. Schriftenreihe "Jugendmedienschutz und Medienbildung" - Band 3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11597.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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