Malte Mienert, Heidi Vorholz: Den Alltag öffnen - Perspektiven erweitern
Rezensiert von Friederike Otto, 10.12.2012
Malte Mienert, Heidi Vorholz: Den Alltag öffnen - Perspektiven erweitern. Offene Arbeit in der Kita nach den Bildungsplänen gestalten.
SCHUBI Lernmedien
(Braunschweig) 2011.
192 Seiten.
ISBN 978-3-427-50481-8.
24,90 EUR.
Ursprünglich veröffentlicht im Bildungsverlag EINS.
Thema
Thema des Buches ist die praktische Umsetzung der offenen Bildungsarbeit in Kindertagesstätten auf Grundlage der Bildungspläne der Länder.
Mit ihrem Buch möchten die Autoren ErzieherInnen in Kindertagesstätten für die offene Arbeit motivieren und bei der Umsetzung der neuen Bildungspläne für den Elementarbereich unterstützen. Ziel ist es, den Selbstbildungsprozess der Kinder zu fördern.
Autor und Autorin
Der Erstautor, Prof. Dr. Malte Mienert, war Leiter der Abteilung Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie an der Universität Bremen. Seine Themenschwerpunkte sind die Entwicklung im Kindes- und Jugendalter sowie die Selbstreflexion und berufliche Rolle von PädagogInnen. Außerdem ist er als Referent im Bereich Erwachsenen- und Elternbildung tätig.
Die Zweitautorin Heidi Vorholz ist Erzieherin und seit mehr als 15 Jahren freiberuflich als Pädagogin und Mediatorin in der Fort- und Weiterbildung tätig. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind Fortbildungen für ErzieherInnen und LeiterInnen zu verschiedenen pädagogischen Themen wie Kommunikation und Konfliktmanagement sowie zu den neuen Bildungsplänen.
Aufbau
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Nach der Einführung (Kap. 1) werden in Kap. 2 und 3 Begriffe wie offene Arbeit, Bezugsgruppe, Funktionsräume oder Eingewöhnung geklärt.
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In Kap. 4 werden die Bildungspläne der Länder, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede erläutert.
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In den Kapiteln 5-10 wird die offene Arbeit näher beschrieben, wobei verschiedene Perspektiven beleuchtet werden, wie die organisatorischen Abläufe und die räumliche Gestaltung der Kita, die unterschiedlichen Rollen der Erzieherinnen und die Entwicklung der Kinder.
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Das 11. Kapitel ist der Zusammenarbeit im Team gewidmet.
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In Kap. 12 werden Methoden der Gesprächsführung mit Kindern beschrieben und Kap. 13 enthält einen „Fahrplan“ zur Umsetzung der offenen Arbeit in der Kita.
Das Buch endet mit einer ausführlichen Literaturliste, aber auch innerhalb des Buches gibt es Lesetipps. Definitionen, Aufgaben und Zitate sind farbig unterlegt. Stichworte in der Marginalie erleichtern das Nachlesen und Wiederfinden einzelner Themen. Farbige Fotos tragen zur ansprechenden Gestaltung des Buches bei.
Inhalt
Im Jahr 2004 wurde der Bereich der frühkindlichen Bildung von den Kultusministern der Länder erheblich aufgewertet, indem ein gemeinsamer Rahmenplan beschlossen wurde. Hintergrund waren einerseits gesellschaftliche Veränderungen (sinkende Kinderzahl, Anforderungen des Arbeitsmarktes) und andererseits neue Erkenntnisse aus Pädagogik und Neurowissenschaften (hohe Lernfähigkeit im Vorschulalter). Wegen der Bildungshoheit der Länder gestaltet sich die Umsetzung jedoch sehr unterschiedlich sowohl im Hinblick auf den Umfang der Bildungspläne (58-480 Seiten) als auch im Grad der Verbindlichkeit (Gesetz/ Vereinbarung/ Selbstverpflichtung/ Empfehlung) und die Altersspanne (3-6 Jahre vs. 0-12 Jahre). Gemeinsam ist den Bildungsplänen, dass Kinder ganzheitlich und individuell gefördert werden sollen, d.h. sozial, sprachlich, emotional, interkulturell sowie in Bezug auf Selbstbewusstsein, Kreativität und Neugier (S. 23). Gemeinsam ist den Rahmenplänen außerdem, dass sie Bildungsbereiche benennen (Mathematik, Naturwissenschaften, soziale Bildung, Musik, Körper und Gesundheit, Umgang mit Medien).
Die Umsetzung der neuen Bildungspläne, so die Autoren, ist nur durch Öffnung der Kita-Arbeit möglich. Dabei handelt es sich nicht um ein fertiges Konzept, sondern jede Einrichtung muss die eigenen Ziele immer wieder neu diskutieren und überprüfen. Grundsätzlich ist offene Arbeit aber nur mit Öffnung der Räume und Auflösung der herkömmlichen Gruppenstrukturen möglich. Die Kinder sollen die Möglichkeit haben, sich im Gebäude und auf dem Außengelände frei zu bewegen. Die räumliche Gestaltung soll den Kindern „Bildungsanlässe [geben], die an ihren Themen orientiert sind“ (S. 16). Das bedeutet, die Kinder sollen in verschiedenen Räumen unterschiedliche Spiel- und Lernmaterialien vorfinden, wobei jeder Raum im Wechsel von einer Erzieherin betreut wird. Trotz Auflösung der Gruppenstrukturen hat in der offenen Arbeit jedes Kind seine Bezugserzieherin, die es in die Kita eingewöhnt und den Kontakt zu den Eltern durch Entwicklungsgespräche pflegt. Die sichere Bindung an eine Bezugsperson wird als Voraussetzung für die offene Arbeit gesehen. Bei den unter3-Jährigen wird die Auflösung der Gruppenstruktur allerdings als schwierig angesehen, weil die Kinder noch stärker die Nähe der vertrauten Erzieherin brauchen.
Zur praktischen Umsetzung der offenen Arbeit gehört ein bestimmtes Lernverständnis, das an den „vier Pädagogen des Kindes“ (S. 32) ansetzt. Dies sind die eigene Neugierde des Kindes, das Wissen und die Weltsicht der anderen Kinder, die Erwachsenen, die dem Kind Sicherheit und Ermutigung geben, und die räumlich-sächliche Umwelt, die zum Forschen und Entdecken auffordert. Bei der Umsetzung der offenen Arbeit sollen die Kinder in alle Entscheidungsprozesse über Tagesablauf, Räume, Projekte etc. einbezogen werden. Die Kinder sollen selbst die Verantwortung für ihren Lernprozess übernehmen, die Erzieherinnen sollen sie dabei begleiten, unterstützen, beobachten und dies dokumentieren. Auch die Eltern müssen in die Umsetzung eines neuen pädagogischen Konzeptes einbezogen werden. In einem 13-Punkte-Plan wird dargestellt, wie ein Umstellungsprozess verlaufen kann (S. 41). Dazu gehören Gespräche im Team, Elternabende und zahlreiche Besprechungen mit den Kindern.
Viel Raum wird dem Thema Bindung gewidmet. Basierend auf Erkenntnissen der Bindungsforschung (leider ohne Literaturquelle) wird dem Leser deutlich gemacht, dass offene Arbeit Selbstvertrauen und Sicherheit der Kinder erfordert (S. 65). Die Voraussetzung dafür ist eine vertrauensvolle Bindung der Kinder an ihre Bezugserzieherin. Daher darf auch bei einem „unauffälligen“ Kind die Eingewöhnungsphase nicht verkürzt oder vernachlässigt werden.
Die Erzieherin ist aufgefordert, sich nicht nur als Betreuungsperson und Versorgerin der Kinder zu verstehen, sondern auch als Erwachsenenbildnerin der Eltern und als Netzwerkerin in der Zusammenarbeit mit Grundschule, Kommune, Kinderärzten und Fortbildnern. Als Beobachterin und Dokumentarin der Lernprozesse soll sie das Kind auf seinen eigenen Lernprozess aufmerksam machen und zur selbstständigen Reflexion anregen (S. 107). Die Lernprozesse der Kinder können außerdem in Portfolios (z.B. Arbeits- oder Wachstumsportfolio) festgehalten werden. Die Beobachtung der Erzieherin soll sich nicht auf das Auffinden von Defiziten richten, sondern auf die Entwicklungspotentiale des Kindes. Dennoch wird der Einsatz eines praktikablen Entwicklungsbogens („Grenzsteine der Entwicklung“, S. 105) empfohlen.
Ein Kapitel ist der Reflexion der gesellschaftlichen Erwartungen an die Kita gewidmet. Mittels verschiedener Arbeitsaufgaben wird das Kita-Team angeregt, sich mit den eigenen Erziehungszielen und darauf aufbauenden Handlungszielen zu befassen. Daraus kann eine Kita-Konzeption entstehen. Im Zentrum der Bildungspläne steht außerdem die Förderung von Schlüsselkompetenzen. Am Beispiel Sozialkompetenz wird beschrieben, wie dieses Ziel praktisch umgesetzt werden kann. Der erste Schritt besteht in der Klärung des Begriffs Sozialkompetenz im Team, im Rahmen eines Elternabends werden die Eltern in die Diskussion einbezogen, dann erfolgt die Umsetzung und ständige Reflexion im Team.
Ein wichtiges Anliegen der Autoren ist es, Erzieherinnen dazu anzuregen, bei Kindern Fähigkeiten und Entwicklungspotentiale wahrzunehmen und nicht vorrangig nach Defiziten zu suchen. Alle Beobachtungen sollen notiert und mit dem Kind besprochen werden. Auf Beobachtungsfallen (wie z.B. Übersehen-Falle, Interpretationsfalle oder Eigene-Maßstäbe-Falle) wird ausdrücklich hingewiesen. In Bildungs- und Lerngeschichten beschreiben die Erzieherinnen die Lernfortschritte eines Kindes. Sie dienen dazu, mit dem Kind seine Entwicklung zu reflektieren, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen und den Handlungskontext wahrzunehmen, in dem sich Entwicklung vollzieht.
Ausführlich beschrieben wird die „kinderzentrierte Themenarbeit“. An einem Beispiel wird in acht Schritten aufgezeigt, wie ein Thema (Motorräder kneten) von Kindern entdeckt, über längere Zeit verfolgt und dokumentiert wird. Interessant ist die Feststellung, dass in der konventionellen Kita das gebastelte Produkt im Mittelpunkt steht, in der offenen Arbeit dagegen der Entstehungsprozess. Kinder sollen ausdrücklich aufgefordert werden, ihre Planungen und Lernideen zu dokumentieren (durch zeichnen oder fotografieren) und damit Verantwortung für die eigene Entwicklung zu übernehmen (S.129).
Weitere Vorschläge der Autoren kommen sicher nicht nur in der offenen Arbeit zum Tragen, wie z.B. das Einbeziehen von erwachsenen „Experten“ von außen, etwa einer Bibliothekarin oder eines Musikers aus dem Spielmannszug. Gewohnte Rituale wie der Morgenkreis sollten hinterfragt werden: „Von der Klarheit des Ziels ist die inhaltliche Form dieses Rituals abhängig“ (S.152). So kann der Morgenkreis nur der gemeinsamen Begrüßung dienen oder einzelne Kinder berichten was sie beschäftigt oder die ganze Gruppe plant den Tagesverlauf.
In Bezug auf die Zusammenarbeit im Team wird deutlich gemacht, dass die MitarbeiterInnen ein hohes Maß an Kommunikationsfähigkeit und -bereitschaft brauchen, um im ständigen Prozess Erziehungsziele zu formulieren, das eigene Handeln zu reflektieren und sich über die Lernprozesse der Kinder auszutauschen.
Sehr aufschlussreich für alle, die mit Kindern zu tun haben, ist das vorletzte Kapitel des Buches. Es trägt den Titel „Mit Kindern ins Gespräch kommen“ und enthält einen „Ideenpool“ mit gesprächsfördernden Fragen, die „Sprache der Annahme“ und die Form des „aktiven Zuhörens“. Im Grundsatz geht es immer darum, dem Kind mit aufrichtigem Interesse zu begegnen, ein offenes Ohr für sein Anliegen zu haben, aber auch seine Grenzen zu respektieren.
Das letzte Kapitel enthält einen kurzen Fahrplan, der als Rahmen für die Umstrukturierung einer konventionellen hin zu einer offenen Kita dienen kann.
Diskussion
Das Anliegen der Autoren ist es, Kita-Erzieherinnen und Leiterinnen in leicht lesbarer Form theoretisches Hintergrundwissen und konkrete Beispiele für die Umsetzung der offenen Arbeit in der Kita zu geben. Zugleich soll den Erzieherinnen und auch den Eltern die Angst vor einer Rückkehr zur antiautoritären Erziehung genommen werden. Offene Kita-Arbeit wird nicht als festes Konzept verstanden, sondern als einrichtungs- und teamspezifischer Entwicklungsprozess. Im Grundsatz wird davon ausgegangen, dass das Kind für seinen Lernfortschritt selbst verantwortlich ist und dabei durch die Erzieherinnen mit Schaffung günstiger äußerer Bedingungen, Vertrauen, Beobachtung und Reflexion begleitet und unterstützt wird. Die Begeisterung der Autoren für das Konzept der offenen Kita ist durchweg zu spüren, sie wirkt ansteckend und ermutigend. Der kritische Leser mag sich fragen, ob der Verzicht auf eine feste Gruppe für alle Kinder förderlich ist oder jüngere bzw. zurückhaltende Kinder sich nicht doch verloren fühlen. Manche Eltern mögen sich fragen, ob die Kinder bis zur Einschulung über die Fähigkeiten verfügen, die von der Schule gefordert werden, z.B. einen Stift zu halten oder mit einer Schere zu schneiden. Manche Episoden wie z.B. die Diskussion der Kinder über die Farbe blau (S. 34) sind nicht an die offene Arbeit gebunden. Die Vorschläge zur Kommunikation mit den Kindern (S. 164ff) können in verschiedenen Settings umgesetzt werden, sind darum aber nicht weniger wertvoll.
Fazit
Insgesamt ein erfrischendes Lese- und Arbeitsbuch für engagierte ErzieherInnen, die sich auf die Öffnung der Strukturen, der Räume und Gruppen einlassen wollen und dabei nach Anleitung und Ermutigung suchen. Die Leserinnen finden Anregungen für eine möglicherweise neue Sicht auf die Kinder, für die Reflexion der eigenen Arbeit, für die Öffnung im Team und das Einbeziehen der Eltern. Darüber hinaus enthält der Band Hinweise, die auch in konventionellen Strukturen zum Überdenken der Kita-Arbeit einladen.
Rezension von
Friederike Otto
Leiterin des Forschungsverbundes Familiengesundheit.
Medizinische Hochschule Hannover, Medizinische Soziologie OE 5420
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Es gibt 13 Rezensionen von Friederike Otto.
Zitiervorschlag
Friederike Otto. Rezension vom 10.12.2012 zu:
Malte Mienert, Heidi Vorholz: Den Alltag öffnen - Perspektiven erweitern. Offene Arbeit in der Kita nach den Bildungsplänen gestalten. SCHUBI Lernmedien
(Braunschweig) 2011.
ISBN 978-3-427-50481-8.
Ursprünglich veröffentlicht im Bildungsverlag EINS.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11636.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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