Franziska Vogt, Miriam Leuchter et al.: Entwicklung und Lernen junger Kinder
Rezensiert von Prof. Dr. Klaudia Winkler, 27.10.2011
Franziska Vogt, Miriam Leuchter, Annette Tettenborn, Ursula Hottinger, Marianna Jäger, Evelyne Wannack: Entwicklung und Lernen junger Kinder. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2011. 196 Seiten. ISBN 978-3-8309-2478-4. 24,90 EUR.
Thema
Der Herausgeberband enthält eine Zusammenstellung aktueller Forschungsbefunde zur Förderung der kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung von Kindern im Alter von vier bis acht Jahren.
Herausgeberinnen
Dr. Franziska Vogt, Leiterin des Instituts für Lehr- und Lernforschung am Kompetenzzentrum für Forschung, Entwicklung und Beratung der Pädagogischen Hochschule des Kantons St. Gallen; Prof. Dr. Miriam Leuchter, Seminars für Didaktik des Sachunterrichts, Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Prof. Dr. Annette Tettenborn, Leiterin des Instituts für pädagogische Professionalität und Schulkultur, Pädagogische Hochschule Zentalschweiz, Luzern; Ursula Hottinger, lic.phil, Institut Vorschulstufe und Primarstufe, Pädagogische Hochschule Bern; Dr. Marianna Jäger, Pädagogische Hochschule Zürich; Evelyne Wannack, Forschungsbeauftragte am Zentrum Forschung und Entwicklung der Pädagogischen Hochschule Bern
Entstehungshintergrund
Mit dem vorliegenden Band soll ein Beitrag zur Beschäftigung mit Kernfragen der Bildung junger Kinder geleistet werden. Aktuelle Forschungsbefunde zum Thema Lernen und Unterricht für Kinder von vier bis acht Jahren werden im Hinblick auf ihre Bedeutung für das Praxisfeld Schuleingangsphase vorgestellt und diskutiert. Bekanntermaßen sind die ersten Jahre im Bildungssystem für die weiteren Bildungsverläufe von Kindern maßgeblich. Es ist daher von besonderer Bedeutung, dass der kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung der Kinder in der Schuleingangsstufe durch eine entsprechende Gestaltung der Lernangebote Rechnung getragen wird.
Aufbau
Die Fachbeiträge werden in zwei Hauptteile untergliedert,
- Teil I Kognitive und motivationale Entwicklung und
- Teil II Spiel, sozialer Kontext und Perspektive der Kinder
Teil I: Kognitive und motivationale Entwicklung
Lernen im Vorschul- und frühen Schulalter (Marcus Hasselhorn): In diesem Übersichtsbeitrag werden die Besonderheiten des Lernens junger Kinder dargestellt und die kognitiven Prozesse beschrieben, die für das Lernen junger Kinder entscheidend sind. Besonders betont werden die in der Regel sehr günstigen motivationalen und eher ungünstigen kognitiven Voraussetzungen für die erfolgreiche Bewältigung von Lernprozessen im Alter zwischen vier und sechs Jahren. Die kognitiven Voraussetzungen für das Lernen verbessern sich im sechsten Jahr drastisch und bis zum achten Lebensjahr bleiben die allgemein günstigen motivationalen Bedingungen erhalten.
Entwicklung und Förderung früher naturwissenschaftlicher Kompetenz im Elementarbereich (Ilonca Hardy und Sebastian Kempert). Hier wird die Frage beantwortet, wie das Verstehen naturwissenschaftlicher Zusammenhänge gefördert werden kann. Der aktuelle Forschungsstand belegt, dass sowohl deduktives als auch induktives Schließen jungen Kindern möglich ist und bei entsprechender Hilfestellung auch im Kontext naturwissenschaftlicher Fragen eingesetzt werden kann. Entscheidend für den angestrebten Umstrukturierungsprozess (naives Wissen in naturwissenschaftliches Wissen umzuwandeln) sind: Feedback, wechselnde Inhalte, die geboten werden, und die Aufforderung an die Kinder, Annahmen zu begründen.
Förderung naturwissenschaftlichen Verständnisses von Kindern in der Schuleingangsstufe. Empirische Forschung zur Qualität des (naturwissenschaftlichen) Lernens und Lehrens in der Schuleingangsstufe (Miriam Leuchter, Hendrik Saalbach, und Ilonca Hardy): Die Autorinnen und der Autor berichten aus einem Forschungsprojekt, zur Umsetzung der Prinzipien des verstehensorientierten Unterrichts der Naturwissenschaften im Kindergarten. Mit Vier- bis Achtjährigen wurde ein Experiment zum Erwerb eines wissenschaftlichen Verständnisses in Bezug auf die Schwimmfähigkeit von Objekten, durchgeführt. Um erfolgreich zu sein, benötigen Kinder dazu eine Lernumgebung, die Vergleichsprozesse anregt und Gelegenheit zum Aufbau eines robusten Alltagskonzeptes gibt.
Fragen stellen hilft: Die Aktivierung von Vorwissen fördert die Nutzung kategorialer Beziehungen in Wortlernaufgaben bei Kindern im Vorschulalter (Henrik Saalbach und Lennart Schalk) Die Autoren beschäftigen sich mit der Frage, wie junge Kinder beim Wortlernen Annahmen darüber treffen, worauf sich die neuen Wörter beziehen. Kinder im Kindergartenalter neigen dazu, Kategorien auf Grundlage äußerer Ähnlichkeiten zu bilden. Im Rahmen einer experimentellen Studie wird vorgestellt, wie Fragen, die das Vorwissen aktivieren, das kategoriale Wortlernen beeinflussen. Werden Kinder zum Schlussfolgern aufgefordert, dann gelingt ihnen auch, nicht offensichtliche Gemeinsamkeiten zwischen Objekten in Betracht zu ziehen. Kinder scheinen parallele Annahmen darüber zu entwickeln, worauf sich Substantive beziehen können: taxonomische Kategorien und Formähnlichkeit.
Vernetztes Denken im Rahmen einer Bildung für Nachhaltige Entwicklung auf der Primarstufe fördern (Franziska Bertschy und Christine Künzli David). Die Fähigkeit zu vernetztem Denken gilt als wichtige Voraussetzung für die Mitwirkung an der Mitgestaltung einer Nachhaltigen Entwicklung. In einer Interventionsstudie mit sieben- bis achtjährigen Kindern konnte die Fähigkeit der Kinder, verschiedene Perspektiven gleichzeitig in den Blick zu nehmen (Perspektivenzusammenführung) gefördert werden und die Kinder konnten Interessenskonflikte verschiedener Akteure und Akteurinnen besser erkennen.
Förderung der Metakognition in der Schuleingangsstufe. Wichtigkeit aus Sicht der Lehrpersonen und Rahmenbedingungen zur Umsetzung (Kirsten Herger): Metakognitive Fähigkeiten (z.B. Planen, Überwachen, Reflektieren) sind für das Lernen bei Kindern wichtig. Sie gelten als Voraussetzung für selbständiges Lernen. Im Rahmen einer Fragebogenstudie wurden Lehrpersonen im Kindergarten und in der Primarstufe befragt, wie wichtig ihnen das Vermitteln von Lernstrategien und das Reflektieren von Lernprozessen ist. Die Befragung macht deutlich, dass anderen Themen, wie Rituale durchführen und Verhaltensregeln vermitteln, der Vorzug gegeben wird, selbst wenn Metakognitionen als wichtig eingeschätzt werden. Generell unterscheiden sich Lehrpersonen der Primarstufe und des Kindergartens.
‘Verstehen‘ ethnographisch. Eine professionstheoretische Perspektive (Melanie Kuhn): Auf Basis der Beobachtung eines Erzählkreises wird rekonstruiert, wie in der elementarpädagogischen Alltagspraxis „Verstehen“ hergestellt wird. und wie die Erziehenden einen wertschätzenden Umgang mit Beiträgen der Kinder umsetzen.
Emotionsregulation im Kindesalter und deren Bedeutung für die Entwicklung von „theory of mind“-Fähigkeiten (Katja Mackowiak und Anke Lenging): Die Autorinnen zeigen einen Zusammenhang zwischen der Fähigkeit zur Emotionsregulation und der Entwicklung einer Theorie des Denkens bei jungen Kindern auf. 178 Kinder im Alter von fünf bis neun Jahren wurden zu ihrem Erleben und Verhalten in emotional belasteten Situationen interviewt und anschließend mit verschiedenen theory of mind -Aufgaben konfrontiert. Die Ergebnisse zeigen, dass nicht die erlebte Angst sondern die bevorzugten Emotionsregulationsstrategien Leistungen vorhersagten. Problembewältigende Strategien sind erfolgreicher als problemvermeidende Strategien.
Teil II: Spiel, Sozialer Kontext und Perspektive der Kinder
Im zweiten Teil steht die Perspektive der Kinder zum Bildungsangebot im Mittelpunkt.
Entwicklung einer integrierten Pädagogik für die frühe Bildung (Elisabeth Wood): Die Autorin hinterfragt die Sinnhaftigkeit der Forderung Bildungsangebote zwischen frei gewählten und verordneten Aktivitäten auszubalancieren. Sie stellt das von ihr entwickelte integrierte pädagogische Modell des Spiels vor. Dieses geht von einem Kontinuum zwischen Aktivitäten, die vom Kind und Aktivitäten, die von Erwachsenen initiiert werden, aus.
Spielen aus der Perspektive von Erstklässlerinnen und Erstklässlern. Anmerkungen zu einzelnen Dimensionen des Spiels. (Marianna Jäger): In diesem Beitrag steht die Wahrnehmung der Kinder im Mittelpunkt. Es wird aufgezeigt, wie Kinder als Spielexperten-/innen mit den vorgegebenen Rahmenbedingungen umgehen und soziale Herausforderungen bewältigen. Beobachtungen der Kinder werden durch Befragungen der Kinder ergänzt.
Die Konstituierung von Freundschaften in der Schuleingangsstufe (Cornelia Biffi): Im Rahmen eines ethnografisch ausgerichteten Forschungsprojekts wird eine lebensweltlich, ganzheitliche Perspektive auf Kinder und ihren Schulalltag eingenommen. Mittels Interviews werden Freundschaften erkundet. Es zeigt sich: Kindergartenfreundschaften werden in der ersten Klasse weitergeführt, Freunde gehören in der Regel dem gleichen Geschlecht an. Verabredungen außerhalb der Schule finden nur bei Kindern aus privilegierten Elternhäusern statt, Kinder mit Migrationshintergrund erleben eine deutliche Trennung zwischen Schulfreundschaften und Freizeit.
Wenn Kinder voneinander lernen: Hilfestellungen auf der Basisstufe (Sabine Campana Schleusener): Kinder, die die Basisstufe – eine altersgemischte, integrative Schuleingangsstufe in der Schweiz, die Kindergarten und erste und zweite Klasse umfasst – besuchen, werden untersucht. Die Basisstufe stellt mit ihrer Heterogenität bezüglich Alter und Lernvoraussetzungen ein ideales Feld für gegenseitige Unterstützung und Hilfe beim Lernen dar.
Pädagogisches Handeln auf der Basisstufe im Zusammenhang mit benachteiligten Kindern (Christa Urech): Im Mittelpunkt steht die Beobachtung benachteiligter Kinder. Insbesondere die Frage, wie Schüler aus sozioökonomisch benachteiligten Familien und Familien mit Migrationshintergrund vom Unterricht besonders profitieren können. Benachteiligte Kinder zeigen häufig nicht aufgabenbezogenes Verhalten, bleiben bei freien Gruppenbildungen oft außen vor. Sie benötigen daher intensive Lernbegleitung durch die Lehrperson und Unterstützung in der Kooperation mit anderen Kindern.
Hochdeutsch im Kindergarten: was meinen die Schweizer Kinder dazu? (Karin Landert Born): Eine Befragung von Kindergartenkindern ergab, dass diese über die Sprachformen Standardsprache und Dialekt gut Bescheid wussten, ihnen aber der Grund warum sie die Standardsprache lernen sollten, nicht bekannt war. Die Lehrperson nimmt eine starke Vorbildrolle für die Verwendung der Standardsprache ein. Die Kinder schätzen ihre eigenen Kompetenzen vor allen in derjenigen Sprachform gut ein, die sie als Unterrichtssprache hören und selbst sprechen. Hochdeutsch als Unterrichtssprache kann die Kinder darin unterstützen basale Hochdeutschkompetenzen zu erweitern und die positive Einstellung gegenüber dieser Sprachform zu verstärken.
Fazit
Der vorliegende Band enthält 14 wissenschaftliche Beiträge (Übersichtsartikel, Berichte über empirische Studien) zum Thema Lernen bei Kindern im Alter zwischen 4 bis 8 Jahren. Die Praxisbeispiele und empirischen Studien beziehen sich auf die Schulsituation in der Deutschschweiz und bieten interessante Einblicke in eine spezielle Form von Lehr- und Lernmöglichkeiten in altersgemischten Klassen (Basisstufe). Alle Beiträge stammen von ausgewiesenen Fachwissenschaftlern/-innen. Bedauerlicherweise fehlt ein Autorenverzeichnis, aus dem die interessanten Forschungs- und Arbeitshintergründe der Autorinnen und Autoren hervorgehen.
Rezension von
Prof. Dr. Klaudia Winkler
Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg, Fakultät für Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften, Lehrgebiete Klinische Psychologie und Entwicklungspsychologie
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Es gibt 23 Rezensionen von Klaudia Winkler.
Zitiervorschlag
Klaudia Winkler. Rezension vom 27.10.2011 zu:
Franziska Vogt, Miriam Leuchter, Annette Tettenborn, Ursula Hottinger, Marianna Jäger, Evelyne Wannack: Entwicklung und Lernen junger Kinder. Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2011.
ISBN 978-3-8309-2478-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11640.php, Datum des Zugriffs 05.12.2024.
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