Marie-Hélène Gutberlet, Sissy Helff (Hrsg.): Die Kunst der Migration
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 25.07.2011
Marie-Hélène Gutberlet, Sissy Helff (Hrsg.): Die Kunst der Migration. Aktuelle Positionen zum europäisch-afrikanischen Diskurs, Material - Gestaltung - Kritik.
transcript
(Bielefeld) 2011.
364 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1594-4.
32,80 EUR.
CH: 38,90 sFr.
Reihe: Kultur- und Medientheorie.
Wenn Menschen mobil sind, werden auch Dinge, Objekte und Ideen in Bewegung gesetzt
Die Thematik „Migration“ hat in der Forschung wie im gesellschaftlichen Diskurs einen Stellenwert, der nicht selten und in unterschiedlichem Maße von subjektiven Meinungen, Emotionen, Ideologien und Höherwertigkeitsvorstellungen denn von einer rationalen und objektiven Bewertung bestimmt ist. Integrationspolitik und Identitätsbildung klaffen oft genug auseinander im Nichtverstehen(wollen) oder (-können). Die Erwartungen und Forderungen der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft an die Menschen, die als Migrantinnen und Migranten ankommen und aufgenommen werden wollen, unterscheiden sich mehr von einander als sie sich annähern (vgl. dazu z. B.: Zafer Senocak, Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift, Hamburg 2011, in: www.socialnet.de/rezensionen/10870.php, oder Hilal Sezgin, Hrsg., Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu, Berlin 2011, in: www.socialnet.de/rezensionen/11392.php). Besonders durch die sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden globalisierten Welt werden vermeintliche Gewissheiten in Frage gestellt und anthropologische Abgrenzungen und Bewertungen vorgenommen, die den universalen Gedanken der Menschheit immer wieder in Frage stellen (siehe dazu auch: Christoph Antweiler, Mensch und Weltkultur. Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung, Bielefeld 2010, in: www.socialnet.de/rezensionen/10879.php).
Entstehungshintergrund und Herausgeberinnen
Kunst (Kultur) und Migration verdeutlicht einen Zusammenhang, der im Migrationsdiskurs nicht von vorn herein im Blick ist; vor allem dann nicht, wenn die künstlerischen Äußerungen und Arbeiten von Migrantinnen und Migranten aus den eher „kulturferneren“ Regionen stammen, wie etwa im europäisch-afrikanischen Kontext. Die „Annäherungen an zeitgenössische Künstler aus Afrika“ vollziehen sich eher zögerlich und nach wie vor eurozentristisch.
Es ist der „globale Marsch“ (Peter Opitz), der in den Zeiten der Globalisierung, der Tendenz, dass lokal und global die Reichen immer reicher und die Habenichtse immer ärmer werden und der sich rapide vollziehenden Klimaveränderungen mehr Menschen als vorher veranlasst, ihren angestammten Lebensraum zu verlassen und anderswo erträgliche Lebensbedingungen zu suchen. Die sich dabei ausprägenden Formen einer Ästhetik (Wahrnehmung) zeigen sich in vielfältigen Formen, als Flucht-, Umwelt- und Lebens-Bewältigung. Die Auseinandersetzungen über die Gründe und Gestalten der Migrationsanlässe und –vollzüge werden dabei selten von oder mit, sondern eher über die Migrantinnen und Migranten geführt, insbesondere in der deutschen Integrationsdebatte. Dass dabei Mentalitäten und Sprache als Bewertungs- und Ausdrucksformen zutage treten, ist ein Dilemma, das sich darstellt, vergleicht man die deutschen wissenschaftlichen, überwiegend disziplinär und fachorientierten Forschungsarbeiten mit denen in anderen, vor allem angelsächsischen Ländern, in denen die Inter- und Multidisziplinarität in der Migrationsforschung die Regel sind. Dies vor allem bei Forschungen, die sich mit der afrikanischen Migration befassen.
Die beiden Herausgeberinnen der Anthologie „Die Kunst der Migration“, die Kunsthistorikerin und Medien- (Film)wissenschaftlerin, Marie-Hélène Gutberlet und die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sissy Helff, beide an der Goethe-Universität Frankfurt/M. tätig, legen die Diskussionsverläufe und Ergebnisse eines fünfjährigen Forschungsprojektes vor, das sich mit „Migration & Media“ befasste. Die Texte sollen „Einblicke in transnational sowie trans- und interkulturell argumentierende Arbeitsweisen (geben), die Bezug nehmen auf aktuelle Forschungsergebnisse in Afrika- und Europawissenschaften, Ethnologie, Kulturanthropologie, Visual Culture, Kunstgeschichte, Philosophie sowie postkoloniale und transkulturelle Literatur-, Kultur- und Filmwissenschaft“.
Aufbau und Inhalt
Das Autorenteam gliedert den Sammelband in die Kapitel „Filmische Parallaxen“, „Grenzen in Visual Culture“ und „Mobile Narrative“.
Die Autorin, Filmkritikerin und an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste lehrende Annett Busch skizziert mit ihrem Beitrag „Inner Voice Over“ grenzüberschreitende Bewegungen in Bild und Ton, indem sie die Aufnahmebedingungen und Konzepte des vom senegalesischen Schriftstellers und Filmemachers Ousmane Sembene 1963 gedrehten Kurzfilms „Borom Sarret“, von „Contras’ City“, der von Djibril Diop Mambety 1968 produzierten Filmlegende über das alltägliche Leben in Dakar diskutiert und mit dem belgischen Kolonialfilm „Leopoldville“ (1946) kontrastiert. Der in Benin, Deutschland und Frankreich arbeitende Idrissou Mora-Kpai formuliert mit seinem Beitrag „Meine Filme, meine Orte“ die Gedanken eines schwarzen Filmemachers im Exil. Er plädiert dafür, dass Minderheiten in Mehrheitsgesellschaften selbst zu Wort kommen und künstlerisch tätig sein können, eine Hoffnung, die er in seiner deutschen Wahlheimat bisher nicht erfüllt sieht. Marie-Hélène Gutberlet reflektiert in ihrem Beitrag „Ortswechsel“ transsaharische und transmediterrane Reisen in zeitgenössischen Filmen, indem sie dafür plädiert, durch die Filme „Bilder zu bekommen anstatt sie erbeuten zu wollen“. Der in Berlin arbeitende Kameruner Filmwissenschaftler Julien Enoka Ayemba stellt den Film „Heremakono“ (Warten auf Glück) von Abderrahmane Sissako vor. Es geht um das Fremdsehen: „Eine Gesellschaft, die nur Bilder von anderen und nicht ihre eigenen sieht, ist verloren“. Dirk Naguschweski, der an der Freien Universität Berlin lehrt, setzt sich mit „Schmerzenswanderungen“ mit dem Roman „L’Aventure ambiguë“ von Cheikh Hamidou Kane und den Film „L’Afrance“ von Alain Gomi auseinander, indem er die postkoloniale Semantik von Differenz und Ambivalenz, von Distanz und Nähe verdeutlicht.
Das zweite Kapitel „Grenzen in Visual Culture“ (Sehkultur kommt von Seherlebnis, Yadegar Asisi) leitet Sissy Helff mit ihrem Beitrag „Digitales Schwarzsein“ ein, indem sie „Afrofuturismus, Authentizitätsdiskurs und Rassismus im Cypberspace“ an mehreren Beispielen von Blogs und den Machenschaften von Bloggern problematisiert. Soenke Zehle von der Saarland-Universität diskutiert „Spiel ohne Grenzen“, indem er sich mit „Serious Games zwischen dokumentarischer Übersetzung und Kartographien des Politischen“ auseinandersetzt. Der Filmemacher Florian Schneider von der Norweger Trondheim Academy of Fine Arts dokumentiert ein Migrations- und Fluchtereignis, das sich in „Skandal“-Bildern einer illegalen Grenzüberschreitung: „Enklaven, Ausnahmezustände und die Camps als Gegen-Labore“. Die in Berlin und Zürich lebende und arbeitende Filmemacherin und Kuratorin Brigitte Kuster nimmt das Bild des Spiegels, als „Utopie, weil es ein Ort ohne Ort ist“ und fragt nach „Camps und Heterotopien der Gegenwart“. Der in Deutschland lebende Kameruner Wirtschaftswissenschaftler Moise Merlin Marouna ist Gründer der Nichtregierungsorganisation „Africa Horizont“. Mit der Videoinstallation „Rien ne vaut que la vie, mais la vie même ne vaut rien“, den er zusammen mit Brigitte Kuster 2002/2003 erstellt hat, nimmt er Bezüge zu seinem Migrations- und Asylleben in Deutschland auf. Marie-Hélène Gutberlet sieht im oben genannten Film von Marouna und Kuster „Genesen“ zum Leben der Menschen in einem Asylbewerberheim. Die an der FU Berlin lehrende Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin Kerstin Pinther diskutiert die Spannweite „Architekturen der Migration / Migration der Architektur“. Sie zeigt die Bezüge und Einflüsse von architektonischen Gestaltungen in Dakar (Senegal), Accra, Kumasi, Cape Coast (Ghana), Cotonou (Benin) und Kairo (Ägypten) auf und sieht in der Entwicklung Formen von „visueller Ethnographie“. Der Bayreuther Kulturwissenschaftler und Kurator Ulf Vierke nimmt den in der deutschen Migrationsszene entstandenen Begriff der „Germination“ und beschreibt damit transitorische Verhältnisse der zeitgenössischen afrikanischen Kunst in Deutschland (vgl. dazu auch das Projekt der VolkswagenStiftung „Entangled. Annäherungen an zeitgenössische Künstler aus Afrika / Approaching Contemporary African Artists, Marjorie Jongbloed, Hg., Hannover 2006). Die Kunsthistorikerin Bärbel Küster stellt „visuelle Kontaktzonen in der bildenden Kunst, Europa – Afrika“ vor und vermittelt einen Überblick über die künstlerischen Aktivitäten in diesem Genre.
Im dritten Kapitel „Mobile Narrative“ zeigt der Romanist und Literaturwissenschaftler der Universität Mainz, Thorsten Schüller mit seinem Beitrag „Ausbruch aus den Kerkern der Differenz“ die Versuche der Selbstvergewisserungen und Identifikation des kongolesischen Schriftstellers Wilfried N’Sondé in seinem Roman „Le cœur des enfants léopards“ (Das Herz der Leopardenkinder, 2008) auf. Der Frankfurter Anglist und Amerikanist Jan Wilm stellt mit „Orte aus Sprache und Liebe“ Wilfried N’Sondé vor Die Mitarbeiterin von LITPROM, der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika, Petra Kassler, hat im Januar 2009 mit dem in Berlin lebenden Sondé ein Interview geführt, das eine Reihe von interessanten Hinweisen auf die „Stimme einer neuen Migrantengeneration“ verdeutlicht. Der Lyriker, Schriftsteller, Fotograf und Song-Writer Uche Nduka ist nigerianischer Herkunft und lebt und arbeitet derzeit in New York, plädiert dafür, „poetry as a mission“ zu verstehen. In seinen Gedichten, die in englischer Sprache abgedruckt sind, wird die Suche nach Identität spürbar. Die Anglistin von der Universität Freiburg, Eva Ulrike Pirker, setzt sich auseinander mit den Romanen des 1948 in Zanzibar geborenen, im englischen Brighton lebenden und an der University of Kent lehrenden Schriftstellers Abdulrazak Gurnah und arbeitet dabei postkoloniale Situationen und Erinnerungen heraus. Seine Romanfiguren, fiktiv und doch in der britischen, interkulturellen Melange äußerst real sind wie Figuren als „stranger in the middle of nowhere“. Die Anglistin Doreen Strauhs referiert über „die Macht des Ungesagten“, indem sie die Schilderungen über die Kriegssituationen in Uganda in der Erzählung „Waiting“ (2007) der Schriftstellerin Goretti Kyomuhendo analysiert. »Ich schreibe, weil ich unzufrieden bin mit der Welt, in der ich lebe. Ich möchte eine andere erschaffen«, so begründet Goretti Kyomuhendo ihre Literatur. Strauhs spricht davon, dass ihre Schreibe als „empathisches Programm“ zu verstehen sei, was sich in der Aufzeichnung über ein Gespräch mit der ugandischen Schriftstellerin verdeutlicht. Der 1935 in Pakistan geborene und in London lebende Konzeptkünstler, Maler, Schriftsteller und Kurator Rasheed Araeen schildert in seinem Text „Mediterranea“ seine Ideen von einem politischen, kulturellen und künstlerischen Mittelmeer-Raum als ein „nicht endendes Konzeptkunstprojekt“. Der aus Kamerun stammende, an der TU Berlin lehrende Politikwissenschaftler Jacob Emmanuel Mabé, Herausgeber des ersten Afrika-Lexikons in deutscher Sprache, formuliert zum Schluss des Sammelbandes mit der Frage „Wem verkauft der intellektuelle Migrant sein kulturelles Kapital?“ ein Problem, das in der Wissenschaftscommunity und in der Gesellschaft bisher viel zu wenig bedacht und beachtet wird.
Fazit
Die Einschätzung, dass ein wissenschaftliches und gesellschaftliches „Reflektieren über Migration in einem ethisch ausgerichteten politisch sozialen Diskursfeld ästhetische Implikationen wenn nicht ausgrenzt, so doch wesentlich überdeckt“, die die beiden Herausgeberinnen in der Einleitung zur Anthologie formulieren, wird in den einzelnen Beiträgen bestätigt. Der Sammelband dürfte deshalb für den Migrations- und Integrationsdiskurs in Deutschland ein besonderes Gewicht erhalten und den interkulturellen Blick dezidiert auf die deutsch- und europäisch-afrikanischen Beziehungen lenken – nicht nur, um post-kolonialen Bemühungen in der sich immer interdependenter, entgrenzender entwickelnden Einen Welt eine neue Aufmerksamkeit zu geben, sondern auch, um die Möglichkeiten ästhetischen und künstlerischen Schaffens lokal, regional und global innovativ und transkulturell zu erproben.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 25.07.2011 zu:
Marie-Hélène Gutberlet, Sissy Helff (Hrsg.): Die Kunst der Migration. Aktuelle Positionen zum europäisch-afrikanischen Diskurs, Material - Gestaltung - Kritik. transcript
(Bielefeld) 2011.
ISBN 978-3-8376-1594-4.
Reihe: Kultur- und Medientheorie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11665.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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