Utta Isop, Viktorija Ratkovič: Differenzen leben
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 27.06.2011
Utta Isop, Viktorija Ratkovič: Differenzen leben. Kulturwissenschaftliche und geschlechterkritische Perspektiven auf Inklusion und Exklusion.
transcript
(Bielefeld) 2011.
264 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1528-9.
28,80 EUR.
Reihe: Kultur & Konflikt - Band 3.
Differenzen im Dialog
Menschen sind differente Lebewesen; das ist eine redundante Aussage, die sich erst in der Bedeutungsdifferenzierung erschließt. Der Rückgriff auf die Bedeutung der Differenz lässt sich, human, in zwei Postulaten verankern: Die eine entnehmen wir der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 in Artikel 1 proklamierten Feststellung: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“. Die andere wurde von der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 mit der Forderung versehen, im lokalen und globalen Zusammenleben der Menschen „eine positive Einstellung zu anderen Menschen und zu ihren unterschiedlichen Lebensweisen, ihrer kreativen Vielfalt“ zu entwickeln. Das bedeutet, dass die Forderung nach Gleichheit und Gerechtigkeit in der Welt die Anerkennung der Unterschiedlichkeit der Menschen beinhaltet; freilich im Sinne einer globalen Ethik, die Höherwertigkeitsvorstellungen wie Unterdrückungen und Ungerechtigkeiten ausschließt.
Entstehungshintergrund und Herausgeberinnen
Das interdisziplinäre Netzwerk an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, in dem sich vorwiegend junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen gefunden haben, um interdisziplinär über Fragen der lokalen und globalen gesellschaftlichen Orientierungen nachzudenken und zu forschen, legt soeben den dritten Band in der im transcript Verlag aufgelegten Reihe „Kultur & Konflikt“ vor. Während im ersten Band 2009 „Spielregeln der Gewalt“ thematisiert und im zweiten kulturelle Konflikte bearbeitet wurden (vgl. dazu: Wilhelm Berger / Brigitte Hipfl / Kirstin Mertlitsch / Viktoria Ratkovic, Hrsg., Kulturelle Dimensionen von Konflikten, 2010, in; www.socialnet.de/rezensionen/10333.php), geht es im dritten, soeben vorgelegtem Band um kulturwissenschaftliche und geschlechterkritische Perspektiven auf Inklusion und Exklusion: „Differenzen leben“. Es sind die beim 7. Treffen des Netzwerkes, das von der Fakultät für Kulturwissenschaften, der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung, dem Institut für Philosophie, dem Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaften, dem Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik und dem Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien der Klagenfurter Universität getragen wird, vom 16. bis 18. Juli 2009 diskutierten und formulierten Fragestellungen zu „Inklusion – Exklusion. Demokratie, Minderheiten und Geschlecht“, die in dem Tagungsband dokumentiert werden.
Den Herausgeberinnen, der politischen Philosophin und Geschlechterforscherin Utta Isop und der Kommunikationswissenschaftlerin Viktoria Ratković geht es in dem Sammelband vor allem darum, „einige Verbindungen zwischen kulturwissenschaftlichen Analysen und herrschaftskritischen Themen und Theorien herzustellen“. Die Schwerpunktsetzungen der überwiegend zu Wort kommenden Nachwuchswissenschaftler/innen liegt dabei auf der Vermittlung von Theorie und Praxis und – was für den freiheitlich nationalen und (europäisch) internationalen Diskurs von besonderem Interesse sein dürfte – an den Feld- und Erfahrungsberichten aus sozialen Bewegungen im südlichen Teil Österreichs (Kärnten), mit Hinweisen auf eine „beispielhafte rechte Radikalisierung der Mitte und der Regierungsparteien und die Formen des Widerstands von unten in einem Land im Zentrum Europas“.
Aufbau und Inhalt
Der Band wird in fünf Kapitel gegliedert.
Während in der Einleitung von den Herausgeberinnen das „Spiel der Differenzen“ reflektiert wird, steht im zweiten Kapitel die Frage nach „Differenzen integrieren?“ im Vordergrund. Im dritten Teil werden „globale und ökonomische Ausschlüsse“ thematisiert, im vierten wird dazu aufgefordert „Perspektiven um(zu)drehen“, und im fünften Kapitel geht es darum, „Wege different (zu) denken“. Jedes Kapitel wird von den Herausgeberinnen mit einem einleitenden Teil eingeführt und dem Zusammenhang zugeordnet. Das ist insbesondere für „suchende“ Leserinnen und Leser ein hilfreiches Unter-die-Arme-greifen.
Integration, als Programmatik oder Un-Wort, das ist das Thema des zweiten Kapitels. Die Spannweite zwischen Assimilation ( vgl. dazu auch: Jutta Aumüller, Assimilation. Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept, 2009, in: www.socialnet.de/rezensionen/8169.php) bis zur Anerkennung der Verschiedenheit der Menschen in ihren persönlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Lebensbezügen wird von der Lehrbeauftragten Birge Krondorfer mit ihrem Beitrag „Ambivalenzen der Integration von MigrantInnen. Notizen zum Verhältnis von Inklusion und Exklusion“, der Politikwissenschaftlerin Christine M. Klapter mit ihrer Frage nach „Straight Inclusion. What else?“, in der sie sich mit der Problematik eines inklusionslogischen Citizenship-Verständnisses im LGBTQ-Kontext (Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Queer/Questioning) auseinandersetzt, mit Bettina Grubers Feststellung „Migration und Integration. Kommunen und Regionen im Zugzwang“.
Im dritten Kapitel „Globale und ökonomische Ausschlüsse“ werden wirtschaftswissenschaftliche und subjekttheoretische Argumente herangezogen, die Herrschaft stabilisieren und Wissenskulturen prägen.
Die Ökonomin Karin Schönpflug trägt mit „Feministisch/e Komplex/e?“ Gedanken zur ökonomischen Exklusion vor. Die Berliner Historikerin und Autorin Friederike Habermann spricht in ihrem Beitrag „Von der Natürlichkeit des Bösen“ über das Skandalon des Hungers in der Welt angesichts des (unwirksamen / unzureichenden?) Konzeptes von „Global Governance“. Die Medienwissenschaftlerin Barbara Eder diskutiert Ausdrucksformen von Exklusionsmomenten in Comic-Visualisierungen des Alltagslebens eines Jugendlichen Sans-Papiers. Sie plädiert für ein Recht auf soziale Inklusion. Der Leiter des österreichischen ehrenamtlichen Integrations- und Informationsprojektes „TschetschenInnen – Menschen wie wir“, Siegfried Stupnig berichtet über die Situation der TschetschenInnen in Österreich. Er prangert die „staatlich verordnete Mitleidlosigkeit“ der Asylpolitik an und stellt fest, dass TschetschenInnen EuropäerInnen wie wir sind.
Mit dem vierten Kapitel werden Fragestellungen thematisiert, in denen Alternativen zu den bestehenden gesellschaftlichen und politischen Bedingungen vorgestellt und diskutiert werden. Viktoria Ratković verdeutlicht in ihrem Beitrag „Von Wissensobjekten zu Wissenssubjekten – MigrantInnen als MedienproduzentInnen“, dass MigrantInnen in den öffentlichen und Forschungsszenarien häufig in negativen Zusammenhängen vorkommen und MigrantInnen selbst vielfach nur in „ethnischen Nischen“ eigene Erzeugnisse produzieren können. Der kroatische politische Aktivist Maté Cosić und der wissenschaftliche Mitarbeiter des Zentrums für Frauen- und Geschlechterstudien der Universität Klagenfurt, Hannes Dollinger, reflektieren Bürgerrechtsfragen im Zusammenhang mit der „Homo-Ehe“ und stellen Alternativen zur Diskussion, die sich von den Ansätzen der existierenden LGBT-Bewegung unterscheiden. Antonio (Jay) Pastrana, Jr. engagiert sich in der US-amerikanischen Colour-Bewegung zu „Privileging Oppression. Contradictions in Intersectional Politics. Dabei arbeitet er in seiner politischen, in englischer Sprache verfassten Studie, die Ressourcen und Kreativitäten heraus, die das gleichzeitige Existieren von verschiedenen Existenzen und gesellschaftlichen Zugehörigkeiten möglich machen. Der Migrations- und Integrationsforscher Paul Scheibelhofer fragt, ob Multikulturalismus schlecht für Frauen und gut für Männer sei, indem er „Konstruktionen ’fremder Männlichkeit’ in liberalen und postkolonialen feministischen Multikulturalismusdebatten“ aufspießt. Um patriarchale, neoliberale und dominante Machtverhältnisse zu überwinden, bedarf es eines Bedeutungswechsels, bei dem die transnationalen Bedürfnisse der MigrantInnen stärker als bisher berücksichtigt werden.
Im fünften Kapitel werden die alternativen Wege weiter gedacht, die die Verbindungen von struktureller und persönlicher Herrschaft in Migrations- und Integrationsprozessen verdeutlichen und verändern können. Uta Isop zeigt an verschiedenen Beispielen die Zusammenhänge zwischen Inklusion und Exklusion auf, indem sie mit dem „Enough is enoph“ und „Ya Basta“ rigoros und gezielt auf verschiedene Perspektiven im gesellschaftlichen, feministischen und geschlechterspezifischen Nachdenken verweist. Stephanie Grohmann, die erstaunlicherweise im Autorinnen- und Autorenverzeichnis nicht auftaucht, informiert über ein Untersuchungs- und Forschungsprojekt, das mit einer Gruppe Frauen aus der HausbesetzerInnenszene im englischen Bristol durchgeführt wurde. Damit verweist sie auf Aspekte und Ansätze von „anachafeministischer Forschung“ und verdeutlicht die Möglichkeiten“, „das Monopol des akademischen Systems im Hinblick auf Wissensproduktion zu hinterfragen und ’Forschung von unten’ als legitime, emanzipatorische Wissensform zu fördern“. Den Schlussbeitrag des Tagungsbandes liefert das Gründungs- und Vorstandsmitglied des Kärtner Vereins VOBIS (Verein für offene Begegnung und Integration durch Sprache), Denise Branz. Obwohl der Verein 2010 mit dem Kärtner Menschenrechtspreis ausgezeichnet wurde, gibt es seitens der Kärtner Landesregierung immer wieder Widerstände, Verdächtigungen und Unterstellungen, die die Arbeit der ehrenamtlichen Mitglieder schier unmöglich machen.
Fazit
Differenzen an sich bedingen nicht schon soziale oder gesellschaftliche Probleme; vielmehr sind es die individuell und gesellschaftlich gemachten Unterschiede, die Differenzen zum Problem werden lassen. Differenzen denken und leben, ausprobieren, auf direkten Wegen und auf Umwegen erreichen, erhoffen und über Stichpunkte erzwingen, das sind Vorsätze, die zu Hauptsätzen werden müssen. Weil Herrschaft von Menschen über Menschen nicht konstitutiv und selbstverständlich ist und sein darf, sondern unterschiedlich ge-macht wird. Eine genaue „Analyse der Unterschiede verschiedener Herrschaftsstrukturen in ihren jeweiligen historisch sich wandelnden Erscheinungen“ ist erforderlich, um Differenz nicht von vornherein als negatives Moment zu betrachten, sondern zu erkennen, dass „eine große Fülle an Differenzen nicht zu sozialen und gesellschaftlichen Konflikten führt, sondern wie selbstverständlich im Zusammenleben integriert und gelebt wird“. Die vielfältigen Zugänge zum Differenzdiskurs, die von den Autorinnen und Autoren der Klagenfurter Initiative thematisiert werden, knüpfen Verbindungen zwischen kulturwissenschaftlichen Analysen und herrschaftskritischen Themen und öffnen so die Tür einen spaltbreit weiter, emanzipatorisches und basisdemokratisches Denken und Handeln bei Migrations- und Integrationsprozessen zu denken und zu leben und geschlechtsspezifische Perspektiven auf Inklusion und Exklusion aufzuzeigen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 27.06.2011 zu:
Utta Isop, Viktorija Ratkovič: Differenzen leben. Kulturwissenschaftliche und geschlechterkritische Perspektiven auf Inklusion und Exklusion. transcript
(Bielefeld) 2011.
ISBN 978-3-8376-1528-9.
Reihe: Kultur & Konflikt - Band 3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11666.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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