Jürg Aeppli, Luciano Gasser et al.: Empirisches wissenschaftliches Arbeiten
Rezensiert von Prof. Dr. Anna Maria Riedi, 23.09.2011
Jürg Aeppli, Luciano Gasser, Eveline Gutzwiller, Annette Tettenborn: Empirisches wissenschaftliches Arbeiten. Ein Studienbuch für die Bildungswissenschaften. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2011. 2., durchges. Auflage. 389 Seiten. ISBN 978-3-7815-1812-4. 19,90 EUR.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-8252-4695-2 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Das Studienbuch zeigt auf, wie empirische Fragestellungen aus dem Berufsfeld von Bildungsfachpersonen oder aus den Bildungswissenschaften heraus entwickelt und bearbeitet werden. Dazu werden zunächst die Funktion wissenschaftlichen Wissens als auch deren Ansprüche diskutiert. Der Forschungsprozess wird anhand verschiedener Beispiele handlungsorientiert und schrittweise erläutert. Neben Fragen der Forschungsplanung und -durchführung werden insbesondere auch Auswertungsvarianten aufgezeigt. Die Kommunikation der Ergebnisse in schriftlicher und mündlicher Form wird entlang formaler, sprachlicher und technischer Aspekte erläutert. Schwerpunkt in diesem Studienbuch bilden quantitativorientierte Verfahren der sozialwissenschaftlichen Forschung.
Autorinnen und Autoren
Alle Autorinnen und Autoren arbeiten an der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz (PHZ Luzern). Prof. Dr. Jürg Aeppli ist Leiter des Studienbereichs Alltag und Wissenschaft, Dr. Luciano Gasser ist Dozent im Bereich Forschung und Entwicklung, Prof. Dr. Eveline Gutzwiller ist ebenso Dozentin im Bereich Forschung und Entwicklung, Prof. Dr. Annette Tettenborn ist Leiterin des Instituts für pädagogische Professionalität und Schulkultur.
Entstehungshintergrund
Die Autorinnen und Autoren lehren an der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz (PHZ Luzern). Sie unterrichten in einer zweisemestrigen Lehrveranstaltung Studierende resp. angehende Lehrpersonen aus dem Bereich Kindergarten, Primar- und Sekundarschule, die das empirische wissenschaftliche Arbeiten erlernen und in diesem Prozess Anleitung benötigen. Zu diesem Zweck ist das Studienbuch denn auch entstanden.
Aufbau
Das Studienbuch enthält acht Kapitel und einen ausführlichen Anhang.
- Das erste Kapitel widmet sich der Frage, wie man zu Wissen kommt. Alltagswissen und Wissenschaftliches Wissen, die Funktion des wissenschaftlichen Wissens als auch deren Ansprüche sind Thema des Kapitels.
- Anschliessend folgt ein Kapitel mit einer Einführung zu empirischer Forschung. Grundbegriffe und idealtypische Abläufe des Forschungsprozesses werden aufgezeigt.
- Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit Fragen der Forschungskompetenzen von Lehrpersonen sowie mit den Ansprüchen des forschenden Lernens im schulischen Kontext.
- Die nachfolgenden vier Kapitel gehen nun entlang dem Forschungsprozess und behandeln Fragen der Planung, der Vorbereitung und der Durchführung der Datenerhebung sowie der Datenauswertung.
- Das abschliessende Kapitel behandelt Fragen der schriftlichen und mündlichen Kommunikation der Forschungsergebnisse.
Im Anhang sind Richtlinien für die Gestaltung von Literaturhinweisen, Zitaten und Literaturverzeichnisse zu finden.
Wissenschaftliches Wissen
Das Studienbuch weist in seinem Eingangskapitel darauf hin, dass ‚Wissen‘ zu verstehen ist als eine Tiras von Zusichern, Fürwahrhalten und der Möglichkeit des Beweises. Wissenschaftliches Wissen ist darüber hinaus dem Kriterium der Wahrheit verpflichtet, d.h. es muss „einer prinzipiell von jedermann möglichen, systematischen Nachprüfbarkeit genügen“ (S. 16). Wissenschaftlich gesichertes Wissen entsteht in vielfältigen Praxen der Erkenntnisgewinnung, wobei für die Autorinnen und Autoren seit der Neuzeit die Forschung und damit die empirische Forschung zunehmend die bedeutendste Form der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung bildet. Ziel dieser Erkenntnisgewinnung ist Theoriebildung. Das Studienbuch benennt verschiedene Kennzeichen von Theorien: Widerspruchsfreiheit, Generalisierbarkeit, Sparsamkeit, Brauchbarkeit, Überprüfbarkeit sowie Neugierfunktion (vgl. S.19). An anderem Ort wird auf Hoyningen-Huene (2009) verwiesen, welcher zwischen Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen ‚nur‘ einen graduellen Unterschied sieht, der sich auf den Grad der Systematisierung bezieht (vgl. S. 29-30). Die Wirkmächtigkeit wissenschaftlicher Theorien und Begrifflichkeiten im Alltag zeigen die Autorinnen und Autoren am Beispiel der Schule auf, wo physikalische Begrifflichkeiten auf Prozesse des Lehr-Lern-Prozesse übertragen werden: Trägheit der SchülerInnen, Reibereien kosten Energie, Lehrpersonen geben einen Impuls/Anstoss etc. (vgl. S. 21).
Empirische Forschung
Das Studienbuch führt in die
Grundsätze der empirischen Forschung ein. Dieser Forschungszugang
wird hier beschrieben als ein Erkenntnisprozess, der auf der
systematischen und methodisch kontrollierten Erhebung und Auswertung
von Erfahrungen basiert. Empirische Forschung erlaubt – benötigt
aber auch – den Aufbau von disziplinspezifischen Fachsprachen
hinsichtlich ihrer Gegenstände.
Als gemeinsame Grundbegriffe
empirischer Forschung in den verschiedenen Disziplinen werden
zunächst Erfahrung, Beobachtung und Tatsachen als Ausgangspunkte der
Erkenntnisgewinnung eingeführt und danach induktives und deduktives
Vorgehen, Falsifikation, Beschreibung sowie Erklärungen erster und
zweiter Ordnung, Prognosen, Hypothese, Kausalität und Korrelation
erläutert.
Das Studienbuch macht die Unterscheidung von einem
eher nomothetischen Wissenschaftsverständnis und dessen Orientierung
an quantitativen Forschungsansätzen sowie einem ideographischen
Wissenschaftsverständnis und dessen Orientierung an qualitativen
Forschungsansätzen. Naturwissenschaften und Teile der
Sozialwissenschaften werden dabei dem nomothetischen Verständnis
zugeordnet, Geisteswissenschaften und Teile der Sozialwissenschaften
dem ideographischen Verständnis.
Der idealtypische Ablauf
empirischer Forschung wird entlang der fünf Phasen (I)
Themensuche/Fragestellung, (II) Untersuchungsplan, (III)
Durchführung/Datenerhebung, (IV) Datenauswertung sowie (V)
Interpretation/Berichterstattung mit konkreten Beispielen kurz
erläutert. Dabei wird auch auf ethische Richtlinien hinsichtlich des
Umgangs mit Quellen, mit Personen, mit Daten und mit den gewonnenen
Ergebnissen und Erkenntnissen ausführlich hingewiesen.
Forschungskompetenzen von Lehrpersonen
Die AutorInnen sehen Forschung als ein
unverzichtbares Element akademischer Disziplinen, deren Studiengänge
und somit auch der Lehrerbildung. Darüber hinaus erleichtern
Forschungskompetenzen – gemäss Einschätzung der AutorInnen –
sowohl den Erwerb von Schlüsselkompetenzen, beispielsweise in den
Bereichen Innovation, Evaluation, Lernprozessdiagnostik etc., wie
auch die im Bildungsalltag oft geforderte „experimentelle Haltung
von Lehrpersonen“ (S. 66) und die professionelle Reflexion während
und nach einer Handlung. In der Aus- und Weiterbildung von
Lehrpersonen sollten daher Handlungsforschung, Praxisforschung (in
der Publikation ausführlich vorgestellt) und Evaluationsforschung im
Vordergrund stehen. Diese Forschungen dienen dazu, objektiv Neues
erkennen zu können.
Dem gegenüber steht das forschende Lernen,
welches gemäss den AutorInnen (in Anlehnung an Dewey) je
nach Auslegung des Begriffes sowohl den objektiven Erkenntnisgewinn
(das effektiv Neue erkennen) als auch den subjektiven
Erkenntnisgewinn (selbständig Neues erkennen, selbst wenn es der
übrigen Welt bereits restlos bekannt ist) favorisieren kann. Steht
der subjektive Erkenntnisgewinn beim forschenden Lernen im
Vordergrund sprechen die AutorInnen eher von einem didaktischen
Prinzip. Beide Auslegungsarten des forschenden Lernens beinhalten
jedoch die Chance, Fertigkeiten zu schulen, um mit Unsicherheiten und
Mehrdeutigkeiten souveräner umgehen zu können. Forschendes Lernen
wird so zu einer Grundhaltung im Unterricht.
Planung, Vorbereitung und Durchführung der Datenerhebung sowie der Datenauswertung
In vier Kapiteln werden nun Planung,
Vorbereitung und Durchführung der Datenerhebung als auch der
Datenauswertung dargelegt. Dabei lehnen sich die AutorInnen an die
von Bortz & Döring 2003 sowie von Diekmann 2007 beschriebenen
Phasen einer empirischen Untersuchung: (I)
Themensuche/Fragestellung, (II) Untersuchungsplan, (III)
Durchführung/Datenerhebung, (IV) Datenauswertung sowie (V)
Interpretation/Berichterstattung. Es werden für jede Phase
prototypische Verläufe eines Forschungsprozesses dargestellt und
wiederum mit Fallbeispielen illustriert und erläutert.
Obwohl
sich diese vier Kapitel in ihrer Stossrichtung inhaltlich wenig
unterscheiden von all den vielen anderen Lehrbüchern zu empirischer
Sozialforschung, wird dennoch deutlich, dass der Titel dieser
Publikation nicht nur ein Lehrbuch zu empirischem Arbeiten ankündet,
sondern auch zu wissenschaftlichem Arbeiten. Daher lassen sich hier
unter anderem auch sehr ausführliche Hinweise und Illustrationen zu
geeigneter Literatursuche sowie Beschaffung von Literatur finden
(Kapitel 4.2).
Kommunikation der Forschungsergebnisse
In diesem Kapitel stehen die
schriftliche und mündliche Kommunikation von wissenschaftlichen
Inhalten, namentlich von Untersuchungsergebnissen im Zentrum:
Untersuchungsberichte, mündliche Präsentationen,
Posterpräsentationen.
Für das Erstellen eines empirischen
Untersuchungsberichts werden Tipps und Hinweise geboten. Insbesondere
werden Struktur und Aufbau eines Berichtes hinsichtlich formaler wie
inhaltlicher Aspekte dargelegt. Es wird aufgelistet und erläutert,
was in eine Einleitung, in einen Theorieteil etc. zu stehen kommt.
Ebenso wird aufgezeigt, wodurch sich spezifisch wissenschaftliches
Schreiben und Argumentieren im Gegensatz zu journalistischem,
literarischem, familiärem etc. auszeichnet.
Für die mündliche
Kommunikation wird erläutert, wie man Präsentationen planen und
gliedern kann, wie Präsentationsunterlagen zu erstellen und
einzusetzen sind und wie man nachfolgende Diskussionen vorbereitet.
Abschliessend werden Hinweise für die Erstellung von
Posterpräsentationen geboten. Die Hinweise bieten Unterstützung,
einen Poster informativ, gut strukturiert und visuell ansprechend zu
gestalten.
Anhang
Im Anhang lassen sich Richtlinien für die Gestaltung von Literaturhinweisen, Zitaten und Literaturverzeichnisse finden. Diese orientieren sich an den Vorgaben der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (1987) und der American Psychological Association 1994/2005 (APA Publication Manual). Hinsichtlich Gestaltung und Aufbau bezieht sich das Studienbuch auf die Richtlinien des Psychologischen Instituts der Universität Zürich aus dem Jahre 1997.
Diskussion
Wie der Titel ankündet, ist die Publikation klar als Studienbuch zu verstehen. Ein Lehr- und Nachschlagwerk für Personen, die sich in Ausbildung resp. im Studium befinden. So sind denn auch die vielen Illustrationen und erläuternden Beispiele als didaktische Zugabe zu verstehen, die man in einer methodologischen Fachpublikation allenfalls eher als störend empfinden mag.
Ist die Funktion der Publikation akzeptiert, so gefällt der Aufbau und die inhaltliche Hinführung zu wissenschaftlichem, empirischem Arbeiten ausserordentlich. Sorgfältig werden theoretische resp. methodologische Grundbegriffe, Ansätze und Vorgehensweisen eingeführt und reichhaltig an exemplarischen Fallbeispielen aus dem konkreten wissenschaftlichen Arbeiten, resp. Forschen illustriert.
Die Publikation konzentriert sich auf die Erläuterung empirischer Forschungsverfahren und Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens. Der damit einhergehende Verzicht auf eine ausführliche Einführung in wissenschafts- und erkenntnistheoretische Problemstellungen sowie deren Diskurse mag eventuell enttäuschen, lässt sich aber mindern mit der Vermutung, dass sich dieses Lehrbuch klar an Bachelorstudierende richtet und somit im Masterstudium für vertiefte, weitergehende Studien immer noch Platz ist. Allerdings fällt auf, dass die AutorInnen dessen ungeachtet bereits für dieses Publikum grossen Wert darauf legen, immer wieder Hinweise auf ethische Kriterien des wissenschaftlichen Arbeitens, des forschenden Handelns und der Verwertung von Ergebnissen zu geben (z.B. S. 55 oder 81). Die Orientierung an ethischen Kriterien und deren Bedeutsamkeit scheint dem ganzen AutorInnenkollektiv ein grosses Anliegen zu sein, das sie auch verständlich umzusetzen wissen.
Ein allgemeines Problem, das die aktuelle Sozialforschung durchzieht, zeigt sich in der Frage, was denn der theoretische, empirische oder praktische Referenzrahmen für die Beurteilung und Interpretation von Ergebnissen ist? Dass Ergebnisse „einzuordnen, zu bewerten und zu reflektieren“ (z.B. S. 84) sind, ist auch in dieser Publikation unbestritten. Aber wie kommt man zu diesem Referenzrahmen, woher nimmt man ihn und welcher Stellenwert kommt ihm zu? Wie sind Beurteilungen und Interpretationen auf der Grundlage des Referenzrahmens zu werten und zu würdigen?
Ebenso sind Verfahren und Möglichkeiten der webbasierten, elektronischen oder computergestützten Datenerhebungs-, aufbereitungs- und auswertungsverfahren in der vorliegenden Publikation nur marginal diskutiert. Entsprechende Hinweise auf die einschlägige Literatur wären hier eine einfache Möglichkeit, das Thema als eine Problematik wissenschaftlichen und empirischen Arbeitens populärer zu machen.
Ebenso wäre denkbar, dass das Studienbuch künftig mehr Raum auch den Diskussionen, Methoden und Verfahren rund um mixed methods Ansätze geben könnte. In einem Nebensatz wird zwar darauf hingewiesen: „Daher findet zunehmend eine Integration beider Forschungsansätze statt.“ (S.50). Welche konkreten Möglichkeiten und Grenzen dieser Integration aber im methodologischen Diskurs bereits breit diskutiert werden, bleibt offen.
Fazit
Die Publikation wird ihrem Anspruch ‚empirisches wissenschaftliches Arbeiten‘ zu vermitteln gerecht. Der Schwerpunkt liegt dabei allerdings auf Verfahren der quantitativen Forschungszugänge.
Die im Titel ebenso angekündete Konzentration auf Bildungswissenschaft wird eng auf den schulischen Bildungsbereich ausgelegt. Insofern ist die Publikation in erster Linie ein sehr elaboriertes Skript – oder wie es die Autorinnen und Autoren nennen ‚Studienbuch‘ – für die Ausbildung von Lehrpersonen.
Die vermutete Orientierung entlang einem vorgegebenen Curriculum hilft auf der einen Seite, das breite Thema empirischen, wissenschaftlichen Arbeitens in einem angemessenen Umfang darstellen zu können. Auf der anderen Seite sind damit natürlich auch die Grenzen der thematischen Zugänge sowie Auslassungen und Verkürzungen vorgegeben.
Das ausführliche Inhalts- wie auch das Stichwortverzeichnis erlauben es jedoch Studierenden, Dozierenden wie auch ForschungspraktikerInnen, sich rasch zu orientieren, ob dieses Studienbuch für die eigenen Belange von Bedeutung sein kann oder ob eher auf andere, einschlägigere Literatur zurückzugreifen ist.
Rezension von
Prof. Dr. Anna Maria Riedi
Sozialwissenschafterin, BFH Berner Fachhochschule, Departement Soziale Arbeit
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Es gibt 10 Rezensionen von Anna Maria Riedi.
Zitiervorschlag
Anna Maria Riedi. Rezension vom 23.09.2011 zu:
Jürg Aeppli, Luciano Gasser, Eveline Gutzwiller, Annette Tettenborn: Empirisches wissenschaftliches Arbeiten. Ein Studienbuch für die Bildungswissenschaften. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2011. 2., durchges. Auflage.
ISBN 978-3-7815-1812-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11677.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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