Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Horst Siebert: Lernen und Bildung Erwachsener

Rezensiert von Mag.(FH) DSA MSc Doris Lang-Lepschy, 01.11.2011

Cover Horst Siebert: Lernen und Bildung Erwachsener ISBN 978-3-7639-4848-2

Horst Siebert: Lernen und Bildung Erwachsener. W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KG (Bielefeld) 2011. 200 Seiten. ISBN 978-3-7639-4848-2. 19,90 EUR.
Reihe: Erwachsenenbildung und lebensbegleitendes Lernen - 17.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-7639-5713-2 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Autor

Prof. Dr. Horst Siebert hatte seit 1970 eine Professur für Erwachsenenbildung an der Leibnitz- Universität Hannover, seit 2008 ist er emeritiert. 1969 habilitierte er als erster Wissenschaftler in Deutschland zum Thema Erwachsenenbildung an der Ruhr- Universität Bochum. 1991 bis 1996 war er Dekan und Prodekan am Fachbereich Erziehungswissenschaften in Hannover. Zahlreiche Gastprofessuren an unterschiedlichen Universitäten ergänzen sein Profil.

Thema und Entstehungsgrund

Siebert greift in diesem Werk auf 45 Jahre „berufliche Erinnerung“ (S. 7) zurück und schöpft somit aus dem Vollen. Er bezeichnet das Buch als „Versuch einer Bilanzierung„- in einem Arbeitsgebiet dass ihn nach wie vor nicht loslässt und ihm, beim Lesen deutlich erkennbar, nach wie vor Freude bereitet. Er „vernetzt Theorie, Empirie und Praxis“ (S. 10), immer unter der Prämisse der Wechselwirkung im „Austausch von Wissenschaftswissen und Erfahrungswissen„(S.10). Durch sein Wirken und nun auch durch dieses Buch schafft Siebert einen Beitrag zur Profilierung der Wissenschaftsdisziplin Erwachsenenbildung.

Aufbau

Das Buch umfasst fünf Kapitel.

Kapitel 1 Lernforschung im Überblick

Zu Beginn des Kapitels stellt Siebert die Frage Erwachsenenbildung: Wer ist erwachsen?. Unterschiedliche Zugänge werden diskutiert: Vom kalendarischen Alter über Lebensphasen bis zur Definition des UNESCO-Institut for lifelong learning mit Ausflügen in die Literatur (Martin Walser), in „erwachsenes Verhalten“ (S.12) bis hin zur geschichtlichen Entwicklung als Ablöse des Begriffs „Volksbildung“. Weitere Beispiele folgen und zeigen die Fülle der möglichen Antworten.

Die Anfänge der empirischen Lernforschung, der Lernfähigkeit im Alter, folgen. Bereits 1924 untersuchte Edward Thorndike die Lernleistung Erwachsener. Cyril Houle führte 1961 die Lerntypen „goal oriented learners“, „activity- oriented learners“ und „for his own sake“ Lernende ein ( S. 17). Ein Exkurs in die DDR kombiniert Erwachsenenbildung mit ideologischer Schulung. Habitual- und Aktualmotivation nach Hans Löwe sind ebenso Thema wie Richard Olechowski mit „Aktivitätshypertropie“ (S. 18).

Lernen als Sozialisationsprozess wird von den Amerikanern Orville Brim und Stanton Wheeler in „Socialization after Childhood erstmals mit Erwachsenen betrachtet. Hartmut Griese “verknüpft den soziologischen Begriff Erwachsenensozialisation mit dem pädagogicschen Konzept des „lebenslangen Lernens„“ (S. 20). Knud Illbers wird mit seinen vier typischen Phasen der Lernbiografie zitiert. Jack Mezirow führt den Begriff „Transformationstheorie“ ein. Gabi Reinmann-Rothmeier und Heinz Mandl beschäftigen sich mit Instruktionslernen und Konstruktionslernen sowie einer gemäßigt konstruktivistischen Lerntheorie. Milieufoschung am Beispiel der Typologien des SINUS-Instituts werden umfassend diskutiert.

Lifelong learning und self-directed learning sind Begriffe mit Wurzeln in den USA und Kanada. Allen Tough gilt als Verfechter des selbstgesteuerten Lernens und der Ermöglichungsdidaktik. Robbin Kidd und Roger Boshier finden ebenso Erwähnung. David Merrill wird mit „fünf Phasen für Instruktionskonzepte“ zitiert. Jessica Blings unterscheidet vier Lernmethoden und legt Erfahrungswissen, Problemlösung, Strategien und praktische Geschicklichkeit las wichtigste Lernergebnisse fest. Formales und informell erworbenes Wissen ergänzt sich wechselseitig. Robyn M. Gillies beschreibt Pervasive Learning, „allgegenwärtiges Lernen“ (S. 29) mit den neuen Medien. Christiane Schiersmann beschreibt „Profile lebenslangen Lernens“ (S. 30). Auch „bürgerschaftliches Engagement“ (S. 31) als Lernerfahrung wird besprochen.

Die Drop-out- Forschung wird mit Vertretern wie Rainer Brödel, Ekkehard Nuissl, Horst Siebert und Herbert Gerl intensiv besprochen. Im abschießenden Resümee zieht Siebert Bilanz und bricht eine Lanze für die Wichtigkeit von „unterschiedlichen Brillen“ (S. 34) und Methodenmix in der Forschung. Schlussendlich beschreibt er Trends und Akzentverschiebungen in der Erwachsenenbildung in den letzten 50 Jahren.

Kapitel 2 Biografisches Lernen

Siebert beginnt mit Qualifikation-Kompetenz- Bildung. Er beschreibt diese drei Begrifflichkeiten und geht auch auf ihre Entstehungsphase ein. Curriculumsentwicklung, Schlüsselqualifikationen, Qualifizierungsoffensive, Kompetenzen und internationale Großprojekte wie die PISA-Studie für Erwachsene der OECD werden besprochen. Wertorientierung, Bildungspolitik, Halbbildung und die Methodik folgen.

Lernen als Konstruktion von Wirklichkeit basierend auf dem systemisch- konstruktivistische Pradigma mit Bezügen zu Paul Watzlawick, Humberto Maturana, Francisco Varela, Ernst von Glasersfeld und vielen andren Wissenschaftlern bestimmen diesen Teil des Buches. Biologie, Gehirnforschung, Kognitionswissenschaft, Emotionsforschung, Psychologie, Kybernetik, Kommunikationstheorie, Systemtheorie, Sozialpsychologie, Chaostheorie, Postmoderne, Philosophie in Bezug auf das Lernen Erwachsener werden besprochen. Die „Grundprinzipien der Didaktik“ (S. 59) nach Wolfgang Sander finden Platz.

Das lernende Gehirn wird durch Erkenntnisse aus der Gehirnforschung erklärt. Margret Arnold wird mit „zwölf neurodidaktischen Lehr- und Lernzielen“ zitiert (S. 65). Christine Zeuner und Peter Faulstich enden mit begründeter Kritik.

Vernetztes Lernen- Lernen in Netzwerken beschreibt den Zugang der Neurowissenschaften von „neuronaler Vernetzung“ (S.72) zu „vernetztem Lernen“ (S.71).

Weiters wird die Wichtigkeit von Biografischer Didaktik als Identitäts- und Identifikationsangebote in der Erwachsenenbildung betont.

Kapitel 3 Lehr- Lernsituationen

Im Feld des Lehrens und Lernens beschäftigt sich Siebert mit dem behavioristischen und dem systemisch-konstruktivistischen Modell der Kommunikation. Susanne Kraft teilt den Begriff Lehre in der Erwachsenenbildung in Teilaufgaben, „politpädagogische Lehrstile“ (S.86) und „Logiken“ (S.87) folgen. Als „Lehrprofile“ (S.87) werden Wissensvermittlung, Training, Gruppenmoderation und Lernhilfe beschrieben. Drei Leitstudien werden benannt. Stichworte wie „teilnehmerorientiertes Lehrverhalten“ (S.89) und „Biografisierung der Kursleitertätigkeit“ (S.91) charakterisieren die weiteren Inhalte und betonen unterschiedliche Sichtweisen. Eine kurze Zusammenfassung bildet den Abschluss.

Gruppendynamik in Seminaren zeigt unterschiedliche Definitionen von Gruppen auf, beschreibt typische Rollenmuster und verknüpft die jeweiligen Erkenntnisse mit Beispielen und Methoden aus der Praxis.

Den Teil Lernbarrieren, Lernwiderstände, Lernstörungen prägen Begriffe wie „Weiterbildungsdistanz“ (S. 105), „Sinnlosigkeitssyndrom (S. 105) und „Lernzwänge“ (S. 107). Daniela Holzer bringt die systemkritische Sicht ein, weitere Studienbeschreibungen folgen. Mit Tipps für Bildungsanbieter sowie mit einem genauen Blick auf das mit besonders wenigem Interesse kämpfende Feld der politischen Bildung vervollständigt Siebert dieses Thema.

Systemisches Coaching ist der nächste Spezialbereich in diesem Buch, wobei insbesondere das „systemisch- konstruktivistische Coaching“ beschrieben wird (S. 117). Kritik wird nicht ausgespart („Ratschlagtabu“, S. 120). Mentoring wird als weiteres Beratungsmodell genau beschrieben, ebenso Mediation und Lerncoaching.

Lernen in Milieus beschreibt lebenslanges Lernen als „multidisziplinäres Konzept“ (S. 125) und zeigt demzufolge Erkenntnisse aus Kognitions- und Emotionspsychologie, Erziehungs- und Bildungswissenschaften, Gehirnforschung, Ökonomie und Soziologie sowie aus normativen ethischen Postulaten und gesellschaftlichen Leitideen. Milieuforschung und Milieutypologie werden anhand mehrerer Studien dargestellt, auch Integrationsbarrieren werden aufgezeigt.

Kapitel 4 Bildung in der Gesellschaft der Postmoderne

Weiterbildung in der Zeit der Postmoderne beschreibt die Entwicklung der Weiterbildung Erwachsener. Neue Medien, internationale Dimensionen, Migrationsbewegungen, der Arbeitsmarkt, das Welt – und Menschenbild sind nur einige Beispiele, die hier mit Erwachsenenbildung verknüpft werden. Auch der Einfluss der Wirtschaft insbesondere bei betrieblicher Weiterbildung wird betont. Siebert beschäftigt sich auch mit geschlechtsspezifischen Unterschieden und Veränderungen im Lernverhalten.

Bildung für nachhaltige Entwicklung, seit der Weltkonferenz zum Schutz der Umwelt in Rio de Janeiro 1992 gefordert, wird durch folgende Schlüsselbegriffe besprochen: Globalisierung, Vernetzung, Risiko, Gerechtigkeit, Frieden, Bewusstsein und Gestaltungskompetenz. Auch die Auswirkungen auf die Politik und soziale Bewegungen werden aufgezeigt. Die empirische Erforschung des Umweltbewusstseins mit den unterschiedlichen „Stilen“ kognitiv, emotional, ästhetisch und aktivistisch (S. 150 f.) beendet diesen Fokus.

Anthropologische Perspektiven der Nachhaltigkeit zeigen die Forschungen von Alfred K. Treml, Günther Anders, Hans Jonas, Erich Fromm, Ulrich Horstmann, Gerhard Roth, Bruno Martin. Apokalypsetheorien und hoffnungsfrohe pädagogische Blicke in die Zukunft wechseln sich ab und enden mit einem kurzen Appell des Autors.

Die Wirksamkeit der Erwachsenenbildung zeigt empirisch spärlich vorhandene Belege auf. Statistiken und Evaluationsergebnisse werden dargestellt, die teilweise ernüchternden Ergebnisse breit diskutiert. Auch die neue Medien kommen nicht zu kurz. Die soziale Funktion und der kulturelle Aspekt von Weiterbildungsmaßnahmen werden auch durch praktische Beispiele hervorgehoben.

Kapitel 5 Theorien der Erwachsenenbildung

In Theorie und Praxis definiert Siebert die Begriffe, deren Ursprung und ihr Verhältnis zueinander. Weiters zeigt er die Besonderheiten und die Geschichte der Erwachsenenbildung auf.

Die Anfänge der Theoriediskussion sind bei der institutionalisierten Erwachsenenbildung um 1800 datiert. Theorien von Johann Wolfgang von Goethe, Immanuel Kant, Wilhelm von Humboldt, Nikolai Frederic Grundtvig, Wilhelm Liebknecht, Theodor Adorno, Oskar Negt, Dirk Axmacher, Erdmann Harke, Hans Löwe, Christine Zeuner und Wilhelm Flitner werden aufgezeigt. Besonders hebt Siebert Theoriedebatten in der Weimarer Volksbildung hervor.

Vergesellschaftung der Erwachsenenbildung und Versozialwissenschaftlichung der Theoriebildung begann mit der Professionalisierung Mitte der 1960er Jahre in Deutschland. Der Deutsche Bildungsrat verabschiedete einen „Strukturplan“ (S.175), es folgt 1970 der erste Lehrstuhl für Erwachsenenbildung. 1980 führt Ansgar Meymann den Begriff der „Versozialwissenschaftlichung“ ein (S. 175). Siebert klassifiziert 1970 theoriebasierende Konzeptionsvarianten (personalistische, marktorientierte, reformerische, politökonomische, neomarxistische). Bernd Dewe u.a. unterscheidet 1980 system- und verhaltenstheoretische sowie kultur- und sozialisationstheoretische Ansätze (S.178). Besonderen Fokus legt Siebert auf die „Entgrenzung des Pädagogischen„( S.178) und eine „Kritische Diskursanalyse“ (S.181).

Die Frage Theorie des lebenslangen Lernens? Bildet den nächsten Schwerpunkt im Buch. Siebert analysiert die Diskussion mit einer Gliederung in international, institutionell, organisational, pädagogisch. Wissenssoziologisch, anthropologisch, psychologisch und bildungstheoretisch.

Als Megatrends in Wirtschaft und Weiterbildung identifiziert Siebert Feminisierung, Alterung, Gesundheit und Migration. In diesem letzten Teil des Buches plädiert er mit Bezug auf Praxisbeispiele für eine „reflexive Erwachsenenbildung“ (S. 189) und ethische Verantwortung. Lebenslanges Lernen ist die pädagogische Konsequenz aus dem permanenten Wandel.

Fazit

Horst Siebert beeindruckt durch sein immenses Wissen und läuft dabei Gefahr, die Leserschaft zu überfordern. Das Betonen der Wichtigkeit vom Zusammenspielen unterschiedlicher Sichtweisen und Theorien in der Erwachsenenbildung bildet den roten Faden im Buch und ist schlüssig erklärt. Das Springen zwischen unterschiedlichsten Theorien, die teilweise nur kurz angerissen werden (können) erfordert allerdings breites Basiswissen. Gleichzeitig ist es ein Vergnügen wie Siebert unterschiedliche Sichtweisen verknüpft und auch gleich den historischen Bezugsrahmen sowie Praxisbeispiele liefert.

Abgeschlossen sind die einzelnen Kapitel schlüssig, die Reihung wirkt allerdings etwas beliebig.

Das Buch eignet sich sowohl für das Studium als auch als umfangreiche theoretische Ergänzung für PraktikerInnen.

Horst Siebert gelingt es auch nach 45 Jahren „beruflicher Erinnerung“ (S.7.) für das Thema Erwachsenenbildung zu begeistern und hat mit „Lernen und Bildung Erwachsener“ eine beeindruckende Bilanzierung seiner Forschungstätigkeit geschaffen.

Rezension von
Mag.(FH) DSA MSc Doris Lang-Lepschy

Es gibt 11 Rezensionen von Doris Lang-Lepschy.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Doris Lang-Lepschy. Rezension vom 01.11.2011 zu: Horst Siebert: Lernen und Bildung Erwachsener. W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KG (Bielefeld) 2011. ISBN 978-3-7639-4848-2. Reihe: Erwachsenenbildung und lebensbegleitendes Lernen - 17. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11678.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht