Marlise Santiago: Schluss mit Secondhand-Sex
Rezensiert von Dipl.-Biologin Wiebke Hendeß, 17.10.2011

Marlise Santiago: Schluss mit Secondhand-Sex. Innenerleben statt Aussenerleben - Sexualität, die das ganze Leben berührt. Books on Demand GmbH (Norderstedt) 2009. 244 Seiten. ISBN 978-3-8334-7116-2. 17,50 EUR. CH: 32,00 sFr.
Thema
„Richtige“, erfüllte Sexualität und Partnerschaft sind in vielen Medien und Publikationen häufige Themen. Dieses wird daraus genährt, dass viele Menschen diesbezüglich immer noch auf der Suche nach Beratung und Informationen sind, weil sie ihre eigenen Bedürfnisse nicht oder nicht genügend ausleben oder überhaupt erleben können. Marlise Santiago schildert in ihrem Buch auf eine erfrischende und weise Art einen anderen Zugang zu diesen Themen, als es die LeserInnen vielleicht sonst gewohnt sind.
Autorin
Marlise Santiago arbeitet in eigener Praxis als Sexualberaterin, Körpersexualtherapeutin und Berührerin mit Frauen, Männern und Paaren. Neben zahlreichen Weiterbildungen in Körperarbeit, Persönlichkeitsbildung, Psychologie und Kommunikation hat sie u. a. Ausbildungen zur Sexualpädagogin, in der tantrischen Arbeit und zur Berührerin. Mit „Schluss mit Secondhand-Sex“ hat sie ihr erstes Buch herausgegeben.
Entstehungshintergrund
Die Idee zu dem Buch, dass kein Ratgeber im klassischen Sinne sein soll, „sondern eine Einladung, sich mit dem Thema Sexualität mit dem Herzen, mit sehenden Augen und mit Ihrem Körperempfinden anzunähern“, ist in der praktischen Arbeit von Marlise Santiago entstanden. So fließen viele ihrer Erfahrungswerte aus der Arbeit als Berührerin bzw. als Körpersexualtherapeutin sowie eigene Erfahrungen und Erkenntnisse mit ein.
Aufbau und Inhalt
Vorwort. „Secondhand-Sexualität“
– Santiago bezeichnet damit die „Sexualität aus zweiter
oder dritter Hand“ in dem Sinne, dass die meisten Menschen schon
von klein auf hören und sehen, was „Sex ist und wie Sex machen
geht“. In diesem Buch wird beschrieben, was Sexualität auch noch
sein könnte – „etwas ganzheitlich Nährendes und Berührendes“.
Dazu werden viele Fragen zur persönlichen Sexualität aufgeworfen.
Die Autorin beschränkt sich dabei ganz bewusst auf die
Beziehungsebene, lässt die Hormone weg und sieht eher das Herz als
die treibende Kraft.
Sie wirft die Frage auf, ob wir heute
wirklich eine befreite Sexualität haben, weil bei vielen ihrer
Klienten die Frage im Vordergrund steht, ob die eigene Vorstellung
von Sexualität normal ist. Santiago begrüßt, dass es heute
generell möglich ist über Sexualität zu reden. Die zahlreichen
Experimente im Buch sollen dabei helfen, gleichsam in einem eigenen
„Forschungsprojekt Sexualität“ voranzukommen und bis ins hohe
Alter dazu zu lernen.
Das Buch ist übersichtlich in sechs
Kapitel aufgeteilt. Es umfasst 244 Seiten, wobei die ersten vier
Kapitel jeweils um die 30 Seiten umfassen. Nach dem nur halb so
langen 5. Kapitel folgt das letzte Kapitel mit mehr als 70 Seiten.
Die Autorin schließt mit einem kurzen Ausblick, den üblichen
Quellenangaben, einigen weiterführenden Links und schlussendlich dem
Hinweis auf eine interaktive Homepage zu diesem Buch.
Kapitel 1: Was ist Sexualität. In diesem Kapitel wird erklärt, was für die Autorin Sexualität und die Sexualkraft ist. Sie favorisiert dabei das Kreismodell von Paul Sporkens mit der Unterteilung in drei Kreise: Innerer (Kommunikation/Alltag), Mittlerer (Herz/Zärtlichkeit) und Äußerer (genitale Sexualität). Im Weiteren erläutert sie, warum es wichtig ist, die eigene Sexualität zu entwickeln und Revue passieren zu lassen, anstatt sich an den allgemeinen Vorgaben zu orientieren. Es wird das Maß der Lust untersucht und das „bewegungslose Ineinanderverweilen“ erklärt sowie angeregt. Ebenso ermuntert die Autorin im Folgenden zur Berührung ohne sexuelle Absicht und zum bewussten Erleben des Momentes. Schließlich hinterfragt sie kritisch das Für und Wider von Phantasien und Bildern, die man sich während der sexuellen Aktivität vorstellt. Zu allen fünf Hauptaspekten dieses Kapitels schlägt die Autorin Experimente zum praktischen Erproben und Veranschaulichen vor.
Kapitel 2: Selbstliebe. Die Autorin regt zur Selbstliebe an und zeigt auch hier die Erfahrungsmöglichkeiten von Berührung ohne sexuelle Absicht auf. Ihr Experiment dazu nennt sie „Feste feiern, wie sie fallen – Feier mit sich selber“. Sie zeigt Widerstände im Zusammenhang mit der Selbstliebe auf und ermutigt zu neuen absichtslosen Erfahrungen. Im Folgenden erläutert sie die geschichtliche Entwicklung der Selbstbefriedigung und die Bedeutung für die Single- bzw. Paarsexualität. Mit dem Thema Orgasmus beschäftigt sie sich intensiver und ergänzt die bekannten Theorien von Masters und Johnson mit dem „Gipfel- und Talorgasmus“ beschrieben von Osho. Darüber hinaus wendet sie auch hier das o. g. Kreismodell an, erläutert andere Formen des Orgasmus und wendet sich gegen jede Art von „Orgasmus-Stress“. Dem weiblichen Freudenfluss widmet sie ein Unterkapital, verbunden mit der sog. G-Zone. Wie bei der Berührung ohne sexuelle Absicht regt sie die Leserinnen zu einem Experiment an. Dieses Kapitel endet mit Betrachtungen zum trockenen Samenerguss.
Kapitel 3: Mann. Santiago beantwortet für sich die Frage, „wann ein Mann ein Mann ist“, auch ohne eine stundenlange Erektion zu haben und ordnet dem Penis in der seelisch-gefühlsmäßigen Ebene eine eigene „Weisheit“ zu. Weiter behandelt sie die Frage nach der „richtigen“ Größe des Penis und widmet sich dem für Männer oft so bestimmenden Thema der Erektion. Als Experiment dazu regt sie ein „Zwiegespräch mit dem Penis“ an. Der vorzeitige Samenerguss verunsichert viele Männer. Die Autorin gibt Anregungen und Lösungsansätze. Des Weiteren setzt sie sich mit der Gefahr der Traumatisierung durch pornographische Darstellungen auseinander und untersucht, warum es nach wie vor schwierig für Männer sein kann, einfach liebevoll und zärtlich zu sein.
Kapitel 4: Frau. Analog zum Männlichkeitsbegriff behandelt sie in diesem Kapitel, was eigentlich eine „ganze Frau“ sein muss bzw. kann und die Leser begeben sich auf eine Reise zur „Ganz-Frau“. Es folgt eine Auseinandersetzung mit der weiblichen Schönheit mit einer Übungsanleitung zu einem liebevollen Blick in den Spiegel. Santiago beschreibt, inwieweit Berührungen schön machen können. Sie ermutigt die weibliche Leserin in Kontakt zu ihrer „Yoni“ (Begriff aus dem Sanskrit für die Gesamtheit der weiblichen Genitalien) zu kommen. Mit praktischen Anleitungen soll für die Leserin die eigene „genitale Schönheit“ sichtbar werden. Wie es zu einer Empfindungslosigkeit in der Vagina kommen kann oder gar zu Schmerzen beim Geschlechtsverkehr und welche Hilfen es hier geben kann, sind in den weiteren Unterkaptiteln zu lesen.
Kapitel 5: Unterwegs zum Mann. Santiago bedauert, dass viele Frauen in sexueller Hinsicht Männer verurteilen und abwerten. Kritisch hält sie sich selbst und anderen Frauen den Spiegel vor. Sie fordert die Frauen auf, auf die Männer zuzugehen, sie anzunehmen und zu empfangen. Zentral ist ihre These, dass die Frau im genitalen Bereich die Aufnehmende und im Herzensbereich die Gebende sein sollte. In einer Kurzgeschichte schildert sie es in Form einer „Reise zum Mann“.
Kapitel 6: Paar. In einer weiteren Kurzgeschichte wird ein Weg beschrieben, wie sich Mann und Frau achtsam, mit viel Zeit und gleichzeitig sehr sinnlich kennen und lieben lernen können. Die Autorin gibt folgend Anregungen für ein aktives Gestalten der Beziehung zum/r Partner/in und behandelt das Thema Eifersucht. Auch weitere Emotionen und Gefühle in Partnerschaften sowie ein mögliches Umgehen damit werden durch eine Kurzgeschichte beleuchtet und illustriert. Zentral ist für Santiago das „sehen und gesehen werden“. Damit verbunden ist für sie das ausführliche und ehrliche Reden unerlässlich. Das Zwiegespräch stellt sie als eine Möglichkeit vor. Besonders bei den sexuellen Bedürfnissen empfiehlt Santiago darüber zu reden, anstatt das Gegenüber raten zu lassen. Die Veränderung der Lust in langjährigen Beziehungen ist ein weiteres Thema, gefolgt von der Veränderung der Sexualität nach einer Geburt. Das Experiment „Dein Wunsch sei mir Befehl – Wünschen und Dienen“ kann Paaren dabei helfen, neue Dinge in ihrer Sexualität zu entdecken und auszuprobieren. Die Autorin beschreibt, wodurch sich Paare auseinander leben und wie sie sich wieder näher kommen können. Es folgen weitere praktische Anleitungen zu sinnlichen Paar- sowie Genitalmassagen, jeweils ohne sexuelle Absicht. Anschließend beschäftigt sich die Autorin mit der (vermeintlich) fehlenden Lust beim Sex und regt hier an, eine „weiche Penetration“ auszuprobieren. Wie schon beim Kapitel Mann geht Santiago auf die „Weisheit der Genitalien“ ein. Wenn es eine Schieflage in der genitalen Sexualität gibt in dem Sinne, dass der Mann „zu kurz“ kommt, wird abschließend ein weiteres Experiment angeregt.
Diskussion
Während mir einige Aspekte und Themen aus anderen Werken bereits bekannt waren und hier lediglich aus einer anderen Sicht beschrieben wurden, hat mir dieses Buch zahlreiche für mich neue Anregungen gegeben. So finde ich die Methode des absichtslosen Berührens sehr praxisrelevant und auch beim weiblichen Orgasmus und der G-Zone hat Santiago mein vorhandenes Wissen erweitert.
Ihre ausführliche Auseinandersetzung mit dem Kreismodell von Paul Sporkens hat mir dessen Nutzen für meine Arbeit eröffnet. Die Abwendung vom Fokus auf die genitale Sexualität kommt sehr den Möglichkeiten und Grenzen der Sexualität von Menschen mit körperlichen und/oder kognitiven Einschränkungen sowie von älteren Menschen entgegen.
Mutig und nachdenkenswert finde ich ihre These, dass die Frau im genitalen Bereich die Aufnehmende und im Herzensbereich die Gebende sein sollte. Nachvollziehbar fand ich auch ihren Wunsch an die Frauen, den Mann mit seinen sexuellen Bedürfnissen und besonders seinen Penis mehr zu achten. Wichtig ist ihre Klarstellung, dass Frauen und Männer nicht die gleichen Bedürfnisse in ihrer Sexualität haben müssen. Ebenso unterstützenswert finde ich auch, dass Santiago wie auch einige andere Autoren, die Lanze für die Selbstliebe als eine wichtige und gleichwertige Form der Sexualität bricht. Auch, dass ich in meiner sexuellen Entwicklung bin ins hohe Alter lernfähig bin und vieles selbst in der Hand habe, ist eine gute Botschaft an die Leserschaft.
Die/der Leser/in sollte jedoch keine Berührungsängste mit eher spirituellen Sichtweisen haben. So fließen Sichtweisen von Osho sowie viele Übungen und Aspekte aus dem Tantra ein.
Zu kritisch sieht Santiago meiner Meinung nach die Bedeutung von Phantasien, „reiner Geilheit“ sowie die sexuelle Spielart des SM und unterschätzt dabei die Wichtigkeit dieser Erfahrungen für die eigene sexuelle Biographie. Vorausgesetzt natürlich, dass alles freiwillig sowie im gegenseitigen Einvernehmen erfolgt und dass es nicht z. B. traumatische Erlebnisse überspielen soll.
Etwas zu weitgehend sehe ich teilweise ihre Forderung bzw. Wunsch an die Frauen auf den Mann zuzugehen. Auch wenn sie dabei Hemmnisse wie Gewalterfahrungen bedenkt, ist mir ihre Behandlung dieses Themas doch als zu positiv und zu wenig problembewusst im Gedächtnis geblieben. Auch wenn ich mir selbst sehr wünsche, dass sich die beiden Geschlechter mehr aufeinander zu bewegen.
Ihre Methodik der Experimente finde ich
eher ungewöhnlich und teilweise zu zeitaufwendig. Wird sie der/die
Leserin wirklich ausprobieren? Anderseits wird so direkt die Praxis
angeregt. Überhaupt fußt das Buch für mich als
Naturwissenschaftlerin teilweise eher auf persönlichen praktischen
Erfahrungen als dass es wissenschaftliche Belege bringt. Das macht
das Buch für mich und meine Arbeit jedoch nicht weniger wertvoll und
es ist gleichzeitig sehr gut und kurzweilig lesbar, auch ohne
besonderes Vorwissen haben zu müssen. Es macht sogar Spaß dieses
Buch zu lesen und ich konnte auch mehrmals befreit lachen.
Marlise
Santiago hat mir durch ihre persönliche, ehrliche und
empathische Art ermöglicht, mich gut auf ihre Themen einzulassen,
mich selber zu betrachten und einzuordnen. So können auch die
eigenen Gefühle und Grenzen gut sichtbar gemacht werden.
Fazit
Santiago ist dieses Erstlingswerk sehr gut gelungen und es unterscheidet sich tatsächlich von einem Ratgeber im klassischen Sinne. Übersichtlich und gleichzeitig umfangreich führt sie den Leser angefangen von der Sexualität allgemein über die Selbstliebe, die männliche und die weibliche Sexualität hin zur Paarsexualität. Für meine Arbeit als Sexualberaterin und für mich selbst als sexuell und partnerschaftlich aktive Frau ist dieses Buch wertvoll und hilfreich. Es hat mir auf eine informative und gleichzeitig unkonventionell-empathische Art viele neue Aspekte und Anregungen vermittelt. So stellt es eine gute Ergänzung der vorhandenen Literatur zu diesem Themenkreis dar. Auch anderen Männern und Frauen kann ich dieses Buch für die professionelle Arbeit und für die private Weiterentwicklung der eigenen Sexualität empfehlen.
Rezension von
Dipl.-Biologin Wiebke Hendeß
Sexualberaterin ISBB (Institut zur Selbstbestimmung Behinderter), Peer Counselorin und selbst körperbehindert durch eine fortschreitende Muskelerkrankung. Seit vielen Jahren haupt- und nebenberuflich tätig in der Beratung behinderter und chronisch kranker Menschen. Leiterin zahlreicher Fortbildungen und Workshops, vornehmlich in dem Themenfeld Sexualität und Partnerschaft von Menschen mit Behinderungen.
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