Michael Schmöller: Vier Systemmodelle für das deutsche Gesundheitswesen
Rezensiert von PD Dr. phil. Dipl.-Psych. Thomas von Lengerke, 15.07.2011

Michael Schmöller: Vier Systemmodelle für das deutsche Gesundheitswesen. Eine Typologisierung von Patienten, Ärzten und Krankenversicherungen. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2011. 427 Seiten. ISBN 978-3-8329-6130-5. 79,00 EUR.
Autor
Dr. Michael Schmöller hat im Juli 2010 an der Universität Passau im Fach Politikwissenschaft promoviert. Die vorliegende Arbeit entspricht im Wesentlichen seiner Dissertation.
Entstehungshintergrund und Thema
Ein meines Erachtens sehr begrüßenswerter Trend in den Gesundheitswissenschaften ist es, das Verhalten von Akteuren mit unterschiedlichen Rollen und auf unterschiedlichen Ebenen unter Rückgriff auf ein- und dasselbe Modell zu analysieren. So beschreibt der Medizinsoziologe und Versorgungsforscher Ronald M. Andersen in seinem Verhaltensmodell der Inanspruchnahme gesundheitsbezogener Versorgung das Verhalten professioneller Systemakteure und Bevölkerungsverhalten in strukturparalleler Weise (zuletzt in Med Care 2008;46/7:647-53). Und das aus der Klinischen und Gesundheitspsychologie stammende Transtheoretische Modell der Verhaltensänderung wird nicht nur auf individuelles Gesundheitsverhalten, sondern auch beispielsweise ärztliches Beratungsverhalten angewendet (z. B. Elyse R. Park et al. in Ann Behav Med 2003;25(2):120-6). Dementsprechend hat mich das vorliegende Buch von Michael Schmöller vor allem durch seinen Untertitel („Eine Typologisierung von Patienten, Ärzten und Krankenversicherungen“ - meine Hervorhebung), interessiert. Schmöller greift darin auf die Cultural Theory nach Aaron B. Wildavsky zurück, dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler, der über 30 Jahre an der University of California at Berkeley lehrte und dort u. a. Gründungsdekan der Graduate School of Public Policy war (heutige Goldman School of Public Policy). Derjenige Kern dieser Theorie, auf den Schmöller vor allem seine Analysen basiert, sind die kulturenübergreifenden Verhaltensmuster bzw. Lebensstile, die sich durch hohe vs. niedrige Ausprägung der Dimensionen „grid“ (≈ soziale Regulation) und „group“ (≈ soziale Integration) definieren: Individualismus (low group, low grid), Fatalismus (low group, high grid), Egalitarismus (high group, low grid), Hierarchie (high group, high grid) sowie Autonomie, wobei sich letzterer Lebensstil durch Selbstgenügsamkeit und sozialen Rückzug auszeichnet. Zentrales Ziel von Schmöller ist es nun, diese Regulations-Integrations-Typologie sowohl auf Gesundheitssysteme zu übertragen als auch für Patienten, Ärzte und Krankenversicherung (als zentrale Versorgungsakteure) “... theoriegeleitete Typen mittel- und langfristig stabiler Denkmuster und Wertvorstellungen herauszuarbeiten“ (S. 29).
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist zwischen Einleitung und Schlussbetrachtung in acht Teile gegliedert:
- Im ersten Teil stellt der Autor die Politische Kultur-Forschung, die Abgrenzung zum Rational Choice-Ansatz und die kulturanthropologischen Arbeiten von Durkheim und Douglas als die drei Pfeiler von Wildavskys Cultural Theory vor. Dabei hinterfragt er diesen Ansatz durchaus kritisch, vertritt jedoch die Position, dass er im Grundsatz eine „solide Basis“ (S. 108) zur Analyse des deutschen Gesundheitswesens und seiner Akteure bietet.
- Im zweiten Teil modifiziert Schmöller die Cultural Theory für die Analyse von Gesundheitssystemen (unter Berücksichtigung der im vorangegangenen Kapitel diskutierten kritischen Aspekte) und definiert in Anlehnung an das Group-Grid-Schema vier Systemidealtypen: das Marktmodell (niedrige Gruppenintegration und niedrige staatliche Regulation, z. B. in den USA), das Staatsmodell (niedrige Gruppenintegration und hohe staatliche Regulation, z. B. in Großbritannien und Skandinavien), das gesetzlich-korporatistische System (hohe Gruppenintegration und niedrige staatliche Regulation, z. B. in Deutschland) und das Genossenschafts- bzw. Zünftesystem (hohe Gruppenintegration und hohe staatliche Regulation). Zu letzterem nennt Schmöller kein Beispiel, weswegen meinerseits etwa auf genossenschaftliche Krankenversicherungen in den Niederlanden, der Schweiz und Japan hingewiesen sei (vgl. Bungenstock & Podtschaske in PerspektivePraxis.de 2009;(1):6-7).
- Der dritte (und kürzeste) Teil der Arbeit enthält die Darstellung der Methodik der empirischen Studie, auf deren Grundlage die Patienten-, Arzt- und Krankenversicherungstypen identifiziert werden sollen. Nach einigen grundsätzlichen Ausführungen zur wissenschaftstheoretischen Verortung und Messbarkeit von politischer Kultur skizziert Schmöller die empirische Datenbasis (drei Befragungen zwischen 2004 und 2006) und (nach wiederum eher allgemeinen Anmerkungen zur Übertragung von Erkenntnissen der Mikro- auf die Makroebene) die Typologiebildung als zentralen methodischen Zugang.
- Im vierten Teil liefert der Autor einen historischen Überblick des deutschen Gesundheitswesens vom Mittelalter bis zum GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007. Während es (das deutsche Gesundheitswesen) bis 1996 laut Schmöller relativ eindeutig dem Korporatismus zuzuordnen war, wurden die entsprechenden Strukturen seitdem durch die Gesetzgebung eher geschwächt, und sollen die Akteure immer stärker individuelle Leistungen anbieten und nachfragen (können).
- Die folgenden drei Teile stellen - jeweils nach einem Überblick über relevante Modelle und Trends - die eigenen empirischen Ergebnisse bezüglich der Patienten/Bürger (fünfter Teil), Ärzte (sechster Teil) und Krankenversicherungen (siebter Teil) dar. Im Ergebnis identifiziert Schmöller hypothesengemäß bei den Patienten den wettbewerbsorientierten Kunden/Privatversicherten (Pendant bei den Systemidealtypen: Marktmodell), apathischen Nutzer (Staatsmodell), konservativ-traditionellen Nutzer (korporatistisches System) und wettbewerbsorientierten Traditionalisten (Genossenschaftsmodell), bei den Ärzten kundenorientierte Dienstleister, patientenorientierte Partner, wertkonservative Paternalisten und liberale Autokraten, und bei den Krankenversicherungen wettbewerbsorientierte gesetzliche und private Krankenversicherungen (2006 sämtlich Nettozahler im Risikostrukturausgleich), Einheitskassen, Versorgerkassen (z. B. AOK) und geschlossene Betriebskrankenkassen. Alle Typen werden dabei quantitativ (Verteilungen) und qualitativ (Merkmale) beschrieben.
- Im achten Teil vergleicht der Autor die empirisch ermittelten Typologien aus den drei vorangegangen Teilen (Patienten, Ärzte und Krankenversicherungen) und verdichtet diese unter Berücksichtigung der im zweiten Teil theoretisch hergeleiteten Systemtypen zu vier Idealtypen des deutschen Gesundheitswesens: Marktmodell, Staatsmodell, korporatistisches System und mikrosolidarisches Gesundheitssystem. Auf Basis deren quantitativer und qualitativer Beschreibung resümiert er, dass zwar das korporatistische System “... auch in absehbarer Zeit weiterbestehen und sich nur schrittweise verändern“ (S. 388) wird, sich die Akteurskollektive allerdings zunehmend - und zwar vor allem einerseits zugunsten des Markts, andererseits des Staatsmodells - aufspalten werden.
Diskussion
Das Buch zeichnet sich durch einen hohen theoretischen Anspruch aus, dem der Autor wie ich finde qua politikwissenschaftlicher und kulturanthropologischer Expertise auch gerecht wird. Flüchtigkeitsfehler - etwa auf S. 89, wo es in der ersten Zeile meines Erachtens „hohen Ausprägung“ (nicht „niedrigen“), und auf S. 389, wo es in der vorletzten Zeile wohl „immer weiter nach links“ (nicht „rechts“) heißen muss - sind erfreulich selten. Weniger überzeugt haben mich die empirischen Anteile der Arbeit. Zum Einen ist der dritte Teil - „Methodik“ - doch deutlich zu kurz und zu lückenhaft geraten (wenig bis keine Informationen zu Befragungsmodi, Teilnahmeraten u. Ä.). Zum Anderen bleibt eine Typenbildung auf der Basis von Befragungsdaten ohne Rückgriff z.B. auf clusteranalytische Verfahren aus meiner Sicht hinter den statistisch-methodischen Möglichkeiten auch der empirischen Politikwissenschaft zurück - oder ich habe den hier gewählten Ansatz der „additiven Faktorenbildung“ nicht (hinreichend gut) verstanden (wobei ich mir auch hier eine transparentere Darstellung der Vorgehensweise gewünscht hätte).
Für Gesundheitswissenschaftler außerhalb der Politikwissenschaft mögen einige formale Aspekte des Buches etwas gewöhnungsbedürftig sein, so die Einordnung des Überblicks über die Entstehungsgeschichte des deutschen Gesundheitswesens (vierter Teil) in den empirischen Bereich der Arbeit, die Einteilung des Literaturverzeichnisses in „Monografien und Sammelbände“, „Aufsätze in Zeitschriften und Sammelbänden“ und „Zeitungsbeiträge und Internetquellen“ sowie nicht zuletzt 1009(!) Fußnoten auf 379 Seiten (die sich z. B. mir als gelerntem Psychologen doch etwas sperrig dargestellt haben).
Die Antwort auf die Frage, inwieweit die von Schmöller identifizierten Typologien tatsächlich Erkenntnisfortschritte liefern, möchte ich eigentlich dem Leser im Hinblick auf sein jeweiliges Arbeitsgebiet überlassen. Sicher: Die verschiedenen, real existierenden Gesundheitssysteme in den USA, Großbritannien und Deutschland, die Schmöller als die naheliegendsten Beispiele für drei „seiner“ Systemidealtypen (Marktmodell, Staatsmodell, gesetzlich-korporatistisches System) nennt, sind nicht neu, und möglicherweise ist das Genossenschaftsmodell noch vergleichsweise am innovativsten. Diese Kategorien jedoch für Patienten/Bürger, Ärzte und Krankenversicherungen systematisch durchzudeklinieren und damit für gesundheitspolitische Planungsprozesse und Gestaltungsmöglichkeiten höchst relevante Denkmuster und Wertvorstellungen von drei zentralen Akteursgruppen des deutschen Gesundheitswesens abzubilden und vergleichbar zu machen, hat dieses Buch für mich - neben der fundierten Einführung in die Wildavsky'sche Cultural Theory - in der Tat lesenswert gemacht.
Fazit
Ein für Fachleute, die an theoretisch anspruchsvollen Analysen des Gesundheitswesens mit Anspruch auf empirische Basierung interessiert sind, wie ich finde empfehlenswertes Buch!
Rezension von
PD Dr. phil. Dipl.-Psych. Thomas von Lengerke
Stv. Leiter der Forschungs- und Lehreinheit Medizinische Psychologie der Medizinischen Hochschule Hannover
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