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Elke Hannack, Bernhard Jirku et al. (Hrsg.): Erwerbslose in Aktion

Rezensiert von Dipl. Politologe Christian Schröder, 20.06.2011

Cover Elke Hannack, Bernhard Jirku et al. (Hrsg.): Erwerbslose in Aktion ISBN 978-3-89965-276-5

Elke Hannack, Bernhard Jirku, Holger Henze (Hrsg.): Erwerbslose in Aktion. Aktionsformen ; Rahmenbedingungen ; kulturelle Vielfalt in Geschichte und Gegenwart. VSA-Verlag (Hamburg) 2009. 301 Seiten. ISBN 978-3-89965-276-5. 12,00 EUR.

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Thema

1982/1983 entwickelten sich erste Ansätze gewerkschaftlicher Arbeitslosenarbeit anlässlich der Massenentlassungen in der Werft- und Stahlindustrie. 1986 wurde die Koordinierungsstelle für gewerkschaftliche Arbeitslosengruppen (KOS) gegründet, die 2006 ihr 20-jähriges Bestehen feierte. Im Nachklang zu diesem Jubiläum haben von Erwerbslosigkeit Betroffene und mit ihr beruflich wie ehrenamtlich in der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di Befasste diesen Sammelband herausgegeben. Er enthält historisch-deskriptive Beiträge, Essays, Interviews sowie Dokumenten der Zeitgeschichte und zahlreichen Fotos.

Herausgeberin und Herausgeber

Elke Hannack ist Mitglied des ver.di-Bundesvorstands; Bernhard Jirku ist beim ver.di-Bundesvorstand für die Erwerbslosenarbeit zuständig; Holger Menze war bis Juni 2007 Gewerkschaftssekretär bei ver.di und ist Leiter der ver.di-Bildungsstätte Lage-Hörst.

Aufbau und Inhalt

Einleitend betont Bernhard Jirku die gemeinsamen Interessen von Gewerkschaften und Erwerbslosen: Sie würden heute zusammen gegen Niedriglöhne und prekäre Beschäftigung kämpfen, sich für Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung von Arbeit aussprechen, sich für eine bessere soziale Sicherung der Erwerbslosen einsetzen und für eine gerechtere Verteilung von Reichtum eintreten. Aus der anfänglich „schwierigen Beziehung“ zwischen Gewerkschaften und Erwerbslosen sei nach 30 Jahren Massenarbeitslosigkeit „eine gemeinsame Politik zur Existenzsicherung durch Lohnarbeit und soziale Ersatzleistungen zur Lebens- und Überlebensfrage geworden“ (9).

Die Gewerkschaften in Deutschland haben erst relativ spät, zunächst nur äußerst widerwillig und nur als Reflex auf den Druck von der Basis und die Entwicklung kirchlicher oder unabhängiger Arbeitslosenprojekte eine eigenständige Erwerbslosenarbeit betrieben. Die „Geschichtsschreibung“ gewerkschaftlicher Erwerbslosenarbeit beginnt daher oftmals erst Anfang/Mitte der 1980er Jahre. Die Gewerkschaftsjournalistin Susanne Stracke-Neumann begibt sich in ihrem Beitrag jedoch auf einen Streifzug durch die Geschichte der Erwerbslosen(organisierung) vom Beginn der Industrialisierung bis hin zur aktuellen Wirtschaftskrise. Sie will den gemeinsamen Kampf für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen von (gewerkschaftlich) organisiertem Arbeitslosen und ArbeiterInnen aufzeigen: seien es die ersten gewerkschaftlichen Arbeitslosenhilfekassen im Kaiserreich, die Erwerbslosenorganisierung oder der genossenschaftliche Wohnungsbau der Gewerkschaften mit seinen Hilfsformen für Gewerkschaftsmitglieder in Phasen der Erwerbslosigkeit in der Weimarer Republik.

Der langjährige Gewerkschaftssekretär und Leiter der ver.di-Bildungsstätte Lage-Hörst Holger Menze reflektiert die Gründungsgeschichte der KOS, die zu einer Zeit entstand, als die Arbeitslosigkeit erstmals die Zwei-Millionen-Marke überstieg und sich überall im Land Arbeitsloseninitiativen gründeten. Erwerbslose hatten damals innerhalb der Gewerkschaften keine garantierten Mitwirkungsmöglichkeiten, die reguläre Mitgliedschaft von Erwerbslosen war noch „ungeklärt“. Die Forderungen nach Beteiligung und Finanzierung der gewerkschaftlichen Arbeitslosenarbeit sorgten damals „für Zündstoff und überwiegend ablehnende Reaktionen im DGB“ (69). Nach über 20 Jahren innergewerkschaftlichem Kampf um die Berücksichtigung von Erwerbsloseninteressen „in Satzungen, Richtlinien, Organisationsstruktur, Ressourcenverteilung“ (73) seien viele Forderungen mittlerweile erfüllt. Die Massenarbeitslosigkeit habe die DGB-Gewerkschaften unter Handlungsdruck gesetzt, denn mittlerweile sind schätzungsweise zehn Prozent der Mitglieder erwerbslos. Damit seien sie „wahrscheinlich weltweit die größte Arbeitslosenorganisation, sie haben es nur noch nicht verinnerlicht“ (73), resümiert der Autor.

Die drei folgenden Beiträge stellen Dokumente der Zeitgeschichte dar: Die Reden von Gewerkschaftern dokumentieren betriebliche Kämpfe gegen Arbeitsplatzverluste in den 1980er Jahren in der Stahlindustrie im Ruhrgebiet (Otto König, Peter Maurer) und Schiffsbauindustrie in Bremen und Hamburg (Hans Ziegenfuß, Holger Mahler).

Susanne Stracke-Neumann geht in einem weiteren Artikel auf die Politgruppe „die Überflüssigen“ ein, die mit provokativen Spaßaktionen und zivilem Ungehorsam 2004/2005 gegen die Hartz-Gesetze und die Verarmung breiter Bevölkerungskreise protestiert hatten. Durch die Selbstzuschreibung als „Überflüssige“ sei es gelungen, extreme soziale Ungleichheit öffentlich zu thematisieren. Diese Aktionen seien bundesweit von gewerkschaftlichen Arbeitslosengruppen wie der „Gewerkschaftlichen Arbeitslosenhilfe in Darmstadt“ (GALIDA), nachgeahmt worden und von zahlreichen Medien aufgegriffen worden.

Gundula Lasch berichtet aus Leipziger Perspektive von den Montagsdemonstrationen der Anti-Hartz-Bewegung. Zwar haben die Proteste Hartz IV nicht verhindern können, aber aus der Bewegung sei ein „dichtes, gut funktionierendes Netzwerk“ entstanden, das bis heute existiere und gemeinsame Aktionen organisiere. Die hohe Klageflut gegen Hartz-IV-Bescheide vor den Sozialgerichten sei ein Erfolg des Netzwerks, welches die Arbeitslosen über ihre Rechte aufkläre und darin bestärke, sich gegen Behördenwillkür zu wehren.

Eine erstaunliche Dynamik und zum Teil beachtliche Erfolge können in den letzten Jahren Sozialticketinitiativen aufweisen. Um das Thema „Recht auf Mobilität“ sind breite gesellschaftliche Bündnisse möglich, da es soziale und ökologische Anknüpfungspunkte bietet. Die Journalistin Helma Nehrlich berichtet von den Erfolgen des Brandenburger Bündnisses aus Erwerbsloseninitiativen, Gewerkschaften, Linkspartei sowie Umwelt- und Sozialverbänden. Dieses hat seit 2006 für die Einführung eines landesweiten Sozialtickets gekämpft und 2008 vor dem Hintergrund des Kommunalwahlkampfes der SPD/CDU-Regierung eine solche Regelung abgerungen, wenn auch zu schlechteren Konditionen als gefordert.

Der langjährige KOS-Leiter Uwe Kantelhard wirft in seinem Beitrag einen „Blick über die Grenzen“ auf die „Arbeitslosenbewegung in den USA, England, Italien und Frankreich“. Zwar würde Armen und Arbeitslosen im Allgemeinen nur eine geringe Konflikt- und Organisationsfähigkeit zugeschrieben, aber sie könnten unter bestimmten politischen Rahmenbedingungen sehr erfolgreich sein. Jedoch sei die Quellenlage zu den Protesten der Armen und Arbeitslosen spärlich. „Es scheint, dass die von der Gesellschaft Ausgeschlossenen auch von der Wissenschaft ausgegrenzt werden“ (161). Das Protestpotenzial Arbeitsloser erweise sich als schwer berechenbar. Darum werde es immer wieder über- oder unterschätzt. Meist erreichten nur spektakuläre Widerstandsformen das Licht der Öffentlichkeit; der organisierte Arbeitslosenprotest werde kaum wahrgenommen.

Den Abschluss bilden Tipps und Informationen über die rechtliche Lage bei der Durchführung von Versammlungen und Aktionen (Sonja Austermühle) und Öffentlichkeitsarbeit für Erwerbslosengruppen (Erich Guttenberger) sowie nützliche Links und Adressen für aktive Erwerbslose.

Diskussion und Fazit

Der Sammelband gibt erstmals einen umfassenden Überblick über aktive Erwerbslose in den Gewerkschaften und ihre Aktionen in der Öffentlichkeit. Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass die Gewerkschaften „der natürliche und stärkste Verbündete der Erwerbslosen“ (226) seien. Das Buch rückt daher nicht die oftmals beklagte „schwierige Beziehung“ zwischen Gewerkschaften und (aktiven) Erwerbslosen in den Vordergrund, sondern die Gemeinsamkeiten von Erwerbstätigen und Erwerbslosen im Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Prekarisierung und für „gute“ Arbeit und Existenzsicherung. Warum die Beziehung zwischen Gewerkschaften und Erwerbslosen(bewegung) insgesamt nicht konfliktfrei war und ist, wird allerdings kaum reflektiert. Zugleich sind die einzelnen Beiträge auf die gewerkschaftliche Arbeitslosenarbeit fixiert, die allerdings „nur“ rund die Hälfte aller Erwerbslosengruppen in Deutschland ausmacht. Die selbstorganisierte, kirchliche und parteiorientierte Erwerbslosenarbeit wird weitgehend ausgeblendet; Konflikte um unterschiedliche Positionen und Forderungen zwischen gewerkschaftlich und nicht-gewerkschaftlich organisierten Erwerbslosen ausgeklammert. Proteste und Aktionsformen wie die Kampagnen „Agenturschluss“, „gegen Zwangsräumungen“ und die „Zahltage“ fehlen daher völlig.

Verwunderlich ist, dass beim Blick über die Grenze auch die lokalpolitischen Kämpfen in den Anti-Workfare-Kampagnen in den USA und Großbritannien in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre fehlen, obwohl zumindest in den USA die Gewerkschaften oftmals eine zentrale Rolle gespielt haben.

Trotz dieser Lücken ist dieser Sammelband eine wichtige Handreichung, die aktiven Erwerbslosen und sozialpolitisch Bewegten den Rücken stärkt.

Rezension von
Dipl. Politologe Christian Schröder
Evangelische Sozialberatung Bottrop (ESB)
Website

Es gibt 17 Rezensionen von Christian Schröder.

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Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 20.06.2011 zu: Elke Hannack, Bernhard Jirku, Holger Henze (Hrsg.): Erwerbslose in Aktion. Aktionsformen ; Rahmenbedingungen ; kulturelle Vielfalt in Geschichte und Gegenwart. VSA-Verlag (Hamburg) 2009. ISBN 978-3-89965-276-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11704.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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